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soziologie.ch soz:mag#9 kultur der selbständigkeit

kultur der selbständigkeit

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Beruflich selbständige Secondas als Unternehmerinnen ihrer selbst

Im Frühjahr 2005 hat das Bundesamt für Statistik eine Studie zur sozialen Stellung von Angehörigen der zweiten Ausländergeneration herausgegeben. Unter gleichen Ausgangsbedingungen, so heisst es darin, sind Immigrantenkinder schulisch und beruflich im Schnitt erfolgreicher als Schweizer Kinder. „Secondos sind aufstiegsbewusster als Schweizer“, titelte prompt die Basler Zeitung vom 27. April 2005. Verblüffung allenthalben. Bloss bei den betroffenen Secondas und Secondos nicht. Für sie war schon immer klar: Sie haben den für den sozialen Aufstieg notwendigen Biss – dank ihres kulturellen Hintergrundes. Damit entpuppen sie sich als mustergültige Repräsentantinnen und Repräsentanten der gegenwärtig hoch im Kurs stehenden Werte der Eigeninitiative und Selbstverantwortung. Unter Rückgriff auf die eigene Herkunftskultur entsprechen sie einem gesamtgesellschaftlichen kulturellen Wert – zu beobachten ist eine doppelte „Kultur der Selbständigkeit“. Ein weiterer Triumph des Neoliberalismus? Oder eine besondere Form der Widerständigkeit? Das Fallbeispiel der selbständig erwerbstätigen Übersetzerin Alda Caneva.

SOZ-MAG Beitrag von Martin Handschin

„Diese Unternehmung ist mein Kind“ – Alda Caneva[1] hat es geschafft. Sie gehört zu jenen beachtlichen 14.1% der Secondas, die sich beruflich selbständig gemacht haben (Zahlen gemäss SAKE, Schweizerische Arbeitskräfteerhebung 2003), und somit zu der Gruppe aufstiegsbewusster Angehöriger der zweiten Ausländergeneration, welche in der erwähnten Studie des BfS positiv überrascht haben. Insbesondere bei den schon seit längerer Zeit in der Schweiz anwesenden Einwanderungsgruppen aus Italien und Spanien ist es in den letzten Jahrzehnten zu einer deutlichen Annäherung der sozialen Stellung an jene der Schweizer Bevölkerung gekommen. Die soziale Mobilität zwischen Eltern und ihren Kindern ist relativ hoch, was dazu führt, dass bei identischer Ausbildung und identischem Status der Eltern Immigrantenkinder schulisch und beruflich im Schnitt erfolgreicher sind als Schweizer Kinder.

Ethnisches Unternehmertum? Ein Fallbeispiel

Alda Caneva ist die Tochter von italienischen Einwanderern. Ihr Vater arbeitete auf dem Bau, ihre Mutter besorgte den Haushalt in einer Schweizer Familie. Damals, in der Schule, hat man sie wegen ihrer schwarzen Locken gehänselt. Heute – Caneva ist mittlerweile selbständige Übersetzerin – ist ihre italienische Herkunft Teil ihres Kapitals.

Alda Caneva wird 1962 in Basel geboren. Ihre Kindheit verbringt sie zu einem grossen Teil in der Schweizer Familie, in der ihre Mutter den Haushalt besorgt. Als sie achtjährig ist, wird in der Schweiz über die Schwarzenbach-Initiative abgestimmt, hin und wieder gibt man ihr zu verstehen, dass sie eine Ausländerin ist, „Spaghettifresser“ ruft man ihr in der Migros in der Schlange vor der Kasse zu. Nicht so in der Schule. Canevas Primarlehrerin unterstützt sie und Caneva schafft – nicht gerade üblich in Migrantenfamilien – den Übertritt ins Gymnasium. Dann folgt ein Bruch: Caneva verlässt Schule und Familie und geht – von der dortigen Lebensart angezogen – ins Tessin, arbeitet als Aupair. Zurück in Basel interessiert sie sich für die Ausbildung zur Kindergärtnerin, wird aber nicht genommen – „weil ich keine Schweizerin bin“, wie sie vermutet, und weil sie als öffentliche Person damit einen schweren Stand gehabt hätte. Später absolviert sie die Erwachsenenmatur, heiratet – ganz der italienischen Tradition verpflichtet – ihren damaligen Freund und beginnt Kunstgeschichte zu studieren. Obwohl sie das Studium inhaltlich anspricht, bricht sie es wieder ab, sie glaubt, dass sie damit kein Geld verdienen kann. Die Ehe lässt sie nach fünf Jahren scheiden – „ganz untraditionell“, wie sie spitz bemerkt.

Es folgt eine schwierige Zeit. Caneva lässt sich zur Übersetzerin ausbilden und arbeitet daneben als Sprachlehrerin, weil ihre Eltern sie nicht unterstützen können und wollen. Doch der Einsatz zahlt sich aus, bald erarbeitet sie sich erste Aufträge, der Einstieg ins Berufsleben nach dem Studium fällt ihr nicht schwer. Sie arbeitet als Freelancerin, eine Festanstellung – ein „rotes Tuch“ für Caneva – kommt nicht in Frage, sie möchte ihr eigener Chef sein. Bis 1998 hat sie sich ein umfangreiches Netz von Auftraggebern und freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geschaffen. Caneva fasst den Entschluss, sich zusammen mit zwei Partnern selbständig zu machen. Mit Erfolg. Heute zieren die Aufträge zahlreicher Schweizer Grossfirmen die Wände der grosszügigen Räumlichkeiten ihres vor kurzem bezogenen Büros im Zürcher Kreis 2 – eine Tellerwäscherkarriere.

Biss, Befreiung, Selbständigkeit – Die Biographie als Ressource

Alda Canevas berufliche Selbständigkeit ist das Resultat einer Biographie, die vom Migrationshintergrund der Eltern geprägt ist. Zum einen mussten sich Canevas Eltern in einem fremden Umfeld bewähren, sich immer wieder von neuem beweisen – und haben ihrer Tochter damit die wichtige Fähigkeit mit auf den Weg gegeben, niemals aufzugeben. Von ihnen hat sie den für die Selbständigkeit notwendigen „Biss“, wie sie es selber formuliert. Ihr Vater ist für sie eine sehr wichtige Figur. Die Motivation zur Selbständigkeit, so sagt sie selber, hat sie von ihm. „Es gibt nichts Entwürdigenderes, als einen schlechten Chef zu haben“, hat er oft abends nach der Arbeit zur Familie gesagt.

Zum anderen hatte Caneva nicht nur mit den Anforderungen und Restriktionen der Aufnahmegesellschaft zu kämpfen, sondern musste sich oft auch gegen die traditionellen Vorstellungen ihrer Eltern durchsetzen, sich von den starren Strukturen innerhalb der italienischen Community befreien. Litt sie damals unter der fehlenden Unterstützung, so ist sie heute froh um die Selbständigkeit, die sie sich so aneignete. Die berufliche Selbständigkeit, so gibt Caneva zu Protokoll, wäre ohne diese Erlebnisse, eigentliche Kämpfe bisweilen, gar nicht denkbar.

Canevas schweizerisch-italienischer Hintergrund dient ihr als Ressource. Die drei Punkte, die sie als Grund für ihren Erfolg nennt – Biss, Befreiung, Selbständigkeit – haben mit ihrer spezifischen Situation als Seconda zu tun. Dazu gehört auch das Merkmal des zweigleisigen Fahrens. Gleichzeitig in einer italienischen und einer Schweizer Familie aufgewachsen, lernt Caneva beide Kulturen kennen. Sie betrachtet diese Zweigleisigkeit als spezifische Eigenschaft von Angehörigen der zweiten Ausländergeneration. Und als Bereicherung, die ihre Identität prägt. Caneva fühlt sich der italienischen Kultur nach wie vor stark verbunden, freut sich, wenn man ihr in Italien zu verstehen gibt, „dass ich es noch nicht verloren habe“. Dabei distanziert sie sich von unzeitgemässen Traditionen oder Rollenbildern, welche die italienische Gesellschaft ihrer Meinung nach auszeichnen, um sich gleichzeitig eines abstrakten Italienbildes zu bedienen, welches ihre Identität stabilisieren kann und ihr Zugehörigkeit vermittelt. Zugehörigkeit zu einem Land, das für Unkompliziertheit oder Kommunikationsfreudigkeit steht.

Das Interesse an und mitunter auch die Mühen mit ihrer eigenen Identität – verortet zwischen italienischem „farbig und fröhlich“ und schweizerischem „leise und grau“, sowie die Frage nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden – dienen Caneva als Begründung für ihre Berufswahl. Als Übersetzerin kann sie der italienischen Kultur nahe sein, ohne auf die italienische Community, von der sie sich bewusst distanziert, angewiesen zu sein. Darin besteht die Identitätskomponente ihrer Berufswahl.

Martin Baethge hat dafür die These der „normativen Subjektivierung von Arbeit“ geprägt. Arbeit, so Baethge, hat gerade in der neueren Zeit eine Verstärkung der berufsinhaltlichen, kommunikativen und expressiven Ansprüche erfahren. Auf der Basis sich immer mehr ausbreitender Individualisierungsprozesse kann eine Verschiebung bzw. Ergänzung individueller Werthaltungen von Pflicht- und Akzeptanzwerten zu Selbstentfaltungswerten beobachtet werden. Der Arbeit kommt damit ein hoher identitätsstiftender Rang zu. Der Rückgriff auf ihren kulturellen Hintergrund – ihre Ethnizität – geschieht bei Caneva ohne jegliche ökonomische Absichten, sondern entspringt jenen expressiven Ansprüchen, welche Baethge für die jüngste Zeit zu beobachten glaubt. Dementsprechend entspricht Canevas Bezugnahme auf das Italienische nicht einer Instrumentalisierung ihres kulturellen Hintergrundes, sondern steht vielmehr für eine Ethnizität aus Eigensinn. Die italienische Kultur stellt für sie einen Symbol- und Wissensvorrat, soziale Wahrnehmungs-, Deutungs-, Bewertungs- und Handlungsmuster bereit, welche die notwendige Grundlage ihres subjektiv-sinnhaften Erlebens, Denkens und Handelns bilden. Die Relevanz der Kultur kann bei Caneva unabhängig von den materiellen Lebensbedingungen fixiert werden.

Die ökonomische Seite der Ethnizität darf dabei jedoch nicht ausgeblendet werden. Zweifellos vergrössert sich die Aussicht auf ökonomischen Erfolg dank Canevas doppeltem kulturellen Hintergrund. Sie ist dadurch mit den notwendigen Eigenschaften ausgestattet, um zum einen mit einer mehrheitlich schweizerischen Klientel umzugehen. Ihr italienischer Name steht für ihre Kompetenz als Übersetzerin und bedient, wie sie selber sagt, das „Fernweh“ der Klienten. Zum anderen erleichtert ihr ihr Hintergrund den Umgang mit den für sie arbeitenden freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, welche alle über ähnliche Biographien wie Caneva verfügen.

Ihre Berufswahl – bzw. die Form ihrer Erwerbstätigkeit, die Selbständigkeit – hat also auch eine ökonomische Komponente. Hier kommt das Konzept der „ethnischen Ökonomie“ zum Tragen, welches den kulturellen Hintergrund als zu instrumentalisierende Ressource auf dem Arbeitsmarkt betrachtet – womit eine erste Form der „Kultur der Selbständigkeit“ benannt ist. Bei Caneva ist das Italienische unter anderem eine kulturelle Ressource, welche sie bei Bedarf aktivieren kann.

Die klassischen Ansätze der ethnischen Ökonomie können Canevas Fall jedoch nicht vollumfänglich erklären. Behaupten diese den Rückgriff auf kulturelle Ressourcen aus der Not in einer prekären Lage, so bedeutet die Wichtigkeit des Ethnischen bei Caneva entsprechend Baethges normativer Subjektivierung von Arbeit vielmehr die Befriedigung eines individuellen Bedürfnisses – die ökonomische Bedeutung scheint zweitrangig.

Die Seconda als Arbeitskraftunternehmerin

Das Konzept der ethnischen Ökonomie greift im Falle von Alda Caneva zu kurz. Vielversprechender scheint der Ansatz des Arbeitskraftunternehmers, wie er von den Arbeitssoziologen Günter Voss und Hans Pongratz entwickelt wurde. Dieser findet seinen Ursprung zum einen in dem gesamtgesellschaftlichen Individualisierungsschub, wie er für die reichen Industrieländer im Rahmen der wohlfahrtsstaatlichen Nachkriegsentwicklung festgestellt werden kann. Verlieren sozialmoralische Milieus mit dieser Entwicklung ihre identitätsbildende Kraft, so führt dies dazu, dass die Menschen verstärkt auf sich selbst und ihr individuelles (Arbeitsmarkt-)Schicksal mit allen Risiken und Chancen verwiesen werden. Der verstärkte biographische Entscheidungsbedarf und die erhöhte Notwendigkeit biographischer Planung lässt die Biographie zu einer aktiven und bewussten Gestaltungsaufgabe, einer individuellen Leistung werden. Diese kann den Charakter biographischer „Arbeit“ annehmen, wobei der Einzelne zum Unternehmer des eigenen Lebenslaufs und der eigenen Biographie wird. Das Individuum muss sich sozusagen als Unternehmer seines Lebens betätigen.

Interessant zu beobachten ist, dass diese Individualisierungsprozesse komplementär zu Entwicklungen in der Arbeitswelt sind, die das Konzept des Arbeitskraftunternehmers ebenfalls entscheidend prägen. Aus der industriell geprägten Arbeitsgesellschaft entsteht zurzeit eine „Neue Arbeitsgesellschaft“. In westlichen Erwerbsgesellschaften ist infolge globalisierungsbedingter Flexibilisierung und Verflüssigung der Arbeit mit einer verstärkten Unsicherheit und Offenheit der Arbeitssituation zu rechnen. Es kommt zu einer wachsenden Individualisierung der Beschäftigung, Teile des Unternehmerrisikos werden als zeitlich flexible Beschäftigung auf die Arbeitenden abgewälzt. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass in den vergangenen Jahren viele Mikro- und Solounternehmen – vor allem von Frauen – gegründet wurden, was der Volkswirtschaftler Gerd Mutz als Indikator für eine neue „Kultur der Selbstständigkeit“ verstanden haben will.

Diese gesamtgesellschaftlich sowie im Bereich der Arbeitsgesellschaft zu beobachtenden Prozesse bleiben nicht ohne Folgen für das Individuum. So kommt es neben der von Baethge postulierten normativen Subjektivierung von Arbeit und veranlasst durch die genannten Umwälzungen, welche sich unter anderem in einem verschärften Wettbewerb äussern, in vielen Unternehmungen zu einem drastischen Kostenabbau und einer Steigerung des Leistungsvolumens von Mitarbeitern. Bisherige Strategien der Nutzung von Arbeitskraft, die vor allem auf Zwängen beruhten, scheinen dabei in vielen Bereichen zum Hindernis weiterer Produktivitätssteigerung geworden zu sein. So wird kontrastierend dazu nicht selten eine erweiterte Verantwortlichkeit der Arbeitenden etabliert, auf mehr Selbstverantwortung und Eigeninitiative gepocht. Diese Prozesse führen in ihrer Gesamtheit zu einer systematisch erweiterten Selbst-Kontrolle der Arbeitenden, einem Zwang zur forcierten Ökonomisierung ihrer Arbeitsfähigkeiten sowie einer entsprechenden Verbetrieblichung der alltäglichen Lebensführung.

Was sich im Rahmen dieser Entwicklung abzeichnet, ist eine vollständige Selbstunterwerfung unter ökonomische Zwecke. Der Arbeitskraftunternehmer zeichnet sich – so behaupten Pongratz und Voss – durch eine aktiv zweckgerichtete, letztlich alle Lebensbereiche umfassende sowie alle individuellen Ressourcen gezielt nutzende systematische Organisation des gesamten Lebenszusammenhangs aus. Womit nach der „ethnischen Ökonomie“ eine zweite Form einer „Kultur der Selbständigkeit“ vorgestellt ist. Die Selbständigkeit als gesamtgesellschaftlich – und nicht nur in der Sphäre der Arbeit – vorherrschender kultureller Wert.

Die doppelte These der „Kultur der Selbständigkeit“

Mit dem Arbeitskraftunternehmer ist ein Konzept gewonnen, welches die Fallgeschichte von Alda Caneva bereits umfassender zu erklären vermag. Canevas Unternehmung ist ihr „Kind“, wie sie es selber formuliert. Sie betont wiederholt ihre Hartnäckigkeit und Erfolgsorientierung. Freizeit hat und braucht sie nicht, die Arbeit lässt – gerade weil in Canevas Fall von einer normativen Subjektivierung von Arbeit zu sprechen ist – ihre komplette Entfaltung zu. Die Arbeit ist ihr Leben. Trägt Caneva damit zum einen dem gesamtgesellschaftlichen neoliberalen Ideal der Selbständigkeit Rechnung, so ist ihr beruflicher Erfolg zum anderen eng mit ihrer kulturellen Herkunft verknüpft. Es stellt sich zum Schluss also die Frage, welche Rolle die Ethnizität im Sinne von Canevas herkunftskulturellem Hintergrund in diesem gesamtgesellschaftlichen Modell einer „Kultur der Selbständigkeit“ spielt.

Katharina Pühl und Susanne Schultz sind in ihrer Studie über Gründerinnen von Kleinunternehmen einer ganz ähnlichen Frage nachgegangen. Pühl und Schultz wollten herausfinden, in welcher Weise Programme zur Umgestaltung des Arbeitsmarktes den neoliberalen Appell an die „Unternehmerin ihrer selbst“ bestärken und damit auf spezifische Weise zur Neuregulierung der Geschlechterverhältnisse beitragen. Sie können aufzeigen, dass sich die Unternehmerinnen offenbar nicht ohne weiteres an den Leitwerten der neoliberalen Arbeits-Subjektivitäten orientieren, sondern ihr persönliches Leitbild mit eigenwilligen, engagierten, kommunikativen Werten entwerfen, die sie kontextbezogen interpretieren. Können dabei einerseits widerständige subjektive Handlungsformen erkannt werden, so stellen diese Kompetenzen andererseits eine produktive Ressource dar, die vor allem im Dienstleistungssektor unter der Perspektive der Leistungsfähigkeit gefordert wird. Diese produktiven Machtbeziehungen bringen Geschlechterdifferenz auf neue Weise hervor, aber nicht, so die Autorinnen, um sie zu marginalisieren oder zu integrieren, sondern um sie zu definieren und zu nutzen.

Es stellt sich die Frage, inwiefern sich Pühls und Schultz’ Beobachtungen zur Geschlechterdifferenz auf die Frage der Ethnizität übertragen lassen. Dienen Ethnisierungspraxen – entgegen den Behauptungen der aktuellen Ethnizitätsdebatte – im vorliegenden Falle nicht mehr der Marginalisierung bzw. Integration, sondern in erster Linie der reinen Definition, um sie dadurch instrumentalisierbar zu machen? Diese Frage muss angesichts von Canevas Fallgeschichte – und nur im Kontext der vorliegenden Fragestellung – mit ja beantwortet werden. Ihr kultureller Hintergrund kommt Caneva weder als marginalisierender Faktor in die Quere, noch spielt er bei Fragen der Integration eine tragende Rolle. Vielmehr hat die Ethnizität zum einen definitorischen (bei Caneva identitätsstabilisierenden) Charakter, woraus sich ein konkreter Nutzen ableiten lässt. Und sie ist zum anderen mit eine Grundlage für die Argumentation Canevas hinsichtlich ihres beruflichen Erfolges, und erlebt somit eine teilweise Verschränkung mit der neoliberalen Programmatik. Als Beispiel mag Canevas „Biss“, den sie von ihren Eltern geerbt hat, diese Zusammenführung illustrieren. Caneva erklärt ihre Bereitschaft, viel zu arbeiten, mit ihrer Herkunft, ihrem Status als Arbeiterkind: „Also dieses Krampfen vielleicht vom, vom Arbeiterkind, das ist einfach hier, das ist wie selbstverständlich.“ Dieselbe Einstellung glaubt Caneva auch bei anderen Angehörigen der zweiten Generation feststellen zu können. Sie verknüpft den Erfolg von Secondas und Secondos mit den jeweiligen Lebensgeschichten, was die Anschlussfähigeit ihrer Argumentation an eine „Kultur der Selbständigkeit“ in einem gesamtgesellschaftlichen Sinne deutlich macht.

Gehen die Ansätze der „ethnischen Ökonomie“ angesichts prekarisierender Ethnisierungspraxen noch von einer Selbständigkeit aus der Not aus, so wird im vorliegenden Falle der selbstgewählte Definitionsprozess betont, der es erst ermöglicht, die Ethnizität hinsichtlich bestimmter Ziele zu instrumentalisieren. Die Ethnizität muss in diesem Fall als eine reklamierende Subjektivität bezeichnet werden, welche ideologisierten Subjektivitäten entgegentritt. Konnte bis hierhin gezeigt werden, dass Canevas Verhalten durchaus ideologisierten Subjektivitäten entspricht, d.h. von den Wirkungen kollektiver Sinn-Strukturen – einer gesamtgesellschaftlichen „Kultur der Selbständigkeit“ – nicht ausgenommen ist, so benutzt sie die Ethnizität im Sinne einer reklamierenden Subjektivität, um sich innerhalb der neoliberalen Programmatik die bestmöglichen Ausgangsbedingungen zu schaffen.

Caneva findet in ihrem binationalen Hintergrund eine Ressource, welche sie im Kontext einer neoliberalen Gegenwartsgesellschaft fruchtbar machen kann. Sie ist zu verorten zwischen einer – zumindest strukturellen – Integration in die Aufnahmegesellschaft und der Möglichkeit, bei Bedarf auf ethnische bzw. für die zweite Generation spezifische biographische Ressourcen zurückzugreifen, um sich innerhalb einer Gesellschaft zu positionieren, in der die Bereitschaft zur unentwegten Innovation, Flexibilität und Mobilität gewissermassen nicht nur als wirtschaftliche, sondern auch als kulturelle Anforderung an den Einzelnen herantritt, die angesichts der Gefahr des Stigmas der Rückständigkeit erfolgreich zu bewältigen ist.

Sind erfolgreiche Secondas wie Caneva also ideale Adressatinnen neoliberaler Anrufungspraktiken? Oder kann die Ethnizität in ihrem Fall als eine spezifische Form der Widerständigkeit gegenüber neoliberalen Idealen beschrieben werden? Wahrscheinlich ist beides richtig. Kann sich Caneva den Idealen einer durch den Neoliberalismus geprägten Gesellschaft nicht entziehen, so verfügt sie doch über ein Mittel, sich darin ihren Platz zu schaffen, der geprägt ist von Engagement und Eigenwilligkeit. Dieses Mittel ist die Ethnizität, die damit einen spezifischen Charakter erhält. Eingebettet in eine gesamtgesellschaftliche „Kultur der Selbständigkeit“ kann die Wirkungsmacht der Ethnizität – unabhängig von Praxen der Marginalisierung oder der Integration, und ausschliesslich bezogen auf diesen spezifischen Fall – im Sinne einer Definitionspraxis erklärt werden. Eine Definitionspraxis, die nicht nur eine ökonomisierende Instrumentalisierung erlaubt, sondern in erster Linie identitätsstabilisierenden Charakter hat.

So begleitet die Frage nach der eigenen Identität Caneva selbst in den drei Wochen Ferien im Jahr, die sie sich unterdessen leisten kann. Dann geniesst sie zum einen das Leben in ihrem schweizerischen Freundeskreis. Zum anderen besucht sie gerne Italien, weilt dann auf Sardinien, wo ihre Mutter herkommt und sie noch heute Heimatgefühle beschleichen. Trotzdem ist eine Rückkehr kein Thema. Wenn sie auswandern würde, dann am ehesten in das Land, in dem sie sich jeweils wirklich zu Hause fühlt. Nach Thailand.

[1] Name geändert

Martin Handschin (26) hat in Zürich Soziologie, Volkskunde und Philosophie studiert. In seiner Lizentiatsarbeit „Kultur der Selbständigkeit“ untersucht er anhand der Lebensgeschichten von selbständig erwerbstätigen Secondas die Gründe für die Aufnahme einer beruflichen Selbständigkeit unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Ethnizität.

Literaturauswahl:

Baethge, M. (1991): Arbeit, Vergesellschaftung, Identität – Zur zunehmenden normativen Subjektivierung der Arbeit. Soziale Welt, Band 42.
Mutz, G. (2002): Neue Integrationsmodelle in der zivilen Arbeitsgesellschaft. Eine sozialwissenschaftliche Perspektive. Rauscher, A. (Hg.): Arbeitsgesellschaft im Umbruch: Ursachen, Tendenzen, Konsequenzen. Berlin.
Pongratz, H. J. & Voss, G. (2003): Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen. Berlin.
Pühl, K. & Schultz, S. (2002): Gouvernementalität und Geschlecht – Über das Paradox der Festschreibung und Flexibilisierung der Geschlechterverhältnisse. Hess, S. & Lenz R. (Hg.): Geschlecht und Globalisierung. Ein kulturwissenschaftlicher Streifzug durch transnationale Räume. Königstein.
Scherr, Albert (2000): Ethnisierung als Ressource und Praxis. PROKLA. Zeitschrift fĂĽr kritische Sozialwissenschaft, Heft 120, 30. Jg., Nr. 3

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«The study of Sociology is the study of evolution in its most complex form»

Herbert Spencer (1891) in: The Study of Sociology, p.385Â