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soziologie.ch soz:mag#9 schöne neue arbeitswelt?

schöne neue arbeitswelt?

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Flexibilisierung der Arbeit durch atypische Beschäftigungsverhältnisse

Die Erwerbsarbeit befindet sich im Wandel. Atypische Beschäftigungsverhältnisse wie Arbeit auf Abruf, Befristung und Scheinselbständigkeit gewinnen an Bedeutung. Das „gute“ alte Normalarbeitsverhältnis, die unbefristete und gesicherte Anstellung bis zur Pensionierung, scheint dagegen bald nur noch schöne Erinnerung zu sein. Kurzlebigkeit, Unverbindlichkeit und damit auch Unsicherheit sind die Merkmale der neuen Arbeitswelt. Doch was genau sind die Ursachen atypischer Beschäftigung? Am Beispiel der Schweiz wird im Folgenden die Bedeutung struktureller und individueller Bestimmungsgründe für das Eingehen eines atypischen Beschäftigungsverhältnisses aufgezeigt. Kann atypische Beschäftigung vorwiegend auf wirtschaftliche, d.h. unternehmensseitige Faktoren zurückgeführt werden? Oder aber sind die Gründe eher auf gesellschaftlicher Ebene, bei den veränderten Bedürfnissen und Einstellungen der Arbeitnehmenden zu suchen? Und: Ergeben sich durch atypische Beschäftigungsformen für die Arbeitnehmenden entsprechend eher zusätzliche Zwänge oder neue Chancen?

SOZ-MAG Beitrag von Marc Höglinger

30 Jahre lang hatte Ilona (60) bei der gleichen Firma gearbeitet, als sie eines Morgens unvermutet ins Büro des Chefs zitiert wurde. Eine halbe Stunde später stand sie auf der Strasse: Entlassen wegen „Restrukturierung“. Als hoch spezialisierte Ingenieurin, als Frau und mit ausländischer Herkunft machte sie sich keine grosse Hoffnung, in ihrem Alter eine vergleichbare Anstellung zu finden. Wer sollte sie so kurz vor der Pensionierung noch einstellen? Dank ihres beruflichen Netzwerkes konnte Ilona dann doch nach ein paar Wochen bei einer neuen Firma eine auf 6 Monate befristete Tätigkeit aufnehmen – zu einem deutlich tieferen Lohn als bisher. Besser als gar nichts, dachte sie und hoffte auf eine spätere Festanstellung. Dieser Wunsch sollte sich nicht erfüllen. Sie wurde arbeitslos. Ein halbes Jahr später dann ein neues Angebot von derselben Firma, wieder eine befristete Anstellung. Die Unsicherheit und das Bangen um eine dauerhafte Anstellung gingen von neuem los. Kurz vor Ablauf der Befristung dann endlich die Erlösung: eine Festanstellung. Und damit die Gewissheit, bei der nahenden Auflösung des Betriebes – die Zukunft des Unternehmens war seit längerem in Frage gestellt – in einen Sozialplan eingeschlossen zu werden und die Möglichkeit zur Frühpensionierung zu erhalten.

Reto[1] (24) ist Publizistik-Student und arbeitet seit einem halben Jahr auf Abruf für ein Marktforschungsinstitut. Die letzten zwei Monate waren frustrierend: Reto hatte geplant und gehofft, arbeiten zu können. Aufgeboten wurde er jedoch nur für eine einzige Stunde. „Nichts los zu Jahresbeginn“, hiess es, seine Dienste werden im Moment nicht benötigt. Reto hofft weiter auf einen baldigen Einsatz. Der könnte schon morgen oder übermorgen rufen und im Extremfall ein Pensum von bis zu 20 Stunden pro Woche beinhalten – was dann für ihn fast wieder zuviel ist, je nachdem, was im Studium gerade läuft. Zum Glück wohnt Reto noch bei seinen Eltern. Der momentane finanzielle Engpass stört ihn zwar, bringt ihn aber nicht in existenzielle Nöte. Zudem macht ihm die Arbeit Spass. Sie ist spannend, das Verhältnis zu seinen Vorgesetzten gut, und er hat das Gefühl, für seine berufliche Zukunft wichtige Erfahrungen zu sammeln. Und möglicherweise gehört er unter all den auf Abruf Angestellten bald mal zu denen, die regelmässigere Einsatzmöglichkeiten erhalten.

Erosion des Normalarbeitsverhältnisses?

Die beiden Fallbeispiele stehen exemplarisch für den gegenwärtigen Wandel der Arbeit. Atypische Beschäftigungsverhältnisse wie Arbeit auf Abruf, befristete Anstellung und Scheinselbständigkeit sind tendenziell im Zunehmen begriffen. Das Normalarbeitsverhältnis dagegen scheint an Bedeutung zu verlieren. Dies ist zumindest die Wahrnehmung eines breiten Teils der Öffentlichkeit und Anlass für Ängste und Verunsicherung. Die These von der „Erosion des Normalarbeitsverhältnisses“ (vgl. beispielsweise Bonss 2002) wurde seit Ende der 80er Jahre immer populärer: Die unbefristete, Existenz sichernde, stark standardisierte und regulierte Beschäftigung wird zunehmend abgelöst von atypischen Beschäftigungsformen. Die persönliche Erwerbsbiographie wird dadurch unstrukturierter und ist zunehmend geprägt von Stellenwechseln und Erwerbsunterbrüchen.

Bei solchen Befunden geht allerdings oft vergessen, dass das Normalarbeitsverhältnis ein relativ junges Phänomen der Nachkriegsära ist und zudem zu keiner Zeit für alle ‚normal’ war. Marginalisierte Gruppen wie Migranten, Personen in Ausbildung und Frauen waren oft davon ausgenommen. Das vorwiegend männliche Normalarbeitsverhältnis implizierte gleichzeitig eine weibliche Normalbiographie: Konzentration auf die Familie und die Hausarbeit. Familienbedingte Unterbrüche der Erwerbsarbeit und atypische Beschäftigungsverhältnisse waren und sind für Frauen immer noch eher die Regel als die Ausnahme (Geissler 2002).

Zudem gilt es zu berücksichtigen, dass die Veränderung der Beschäftigungsverhältnisse auch von Seiten der Arbeitnehmenden ausgeht. Die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen ist dabei eine zentrale Ursache, aber beileibe nicht die einzige. Neue Familienmodelle (Alleinerziehende oder – zur Zeit noch spärlich anzutreffende – moderne Partnerschaftsarrangements mit neuer Rollenteilung), eine verlängerte Ausbildungsphase und neue, postmaterialistische Bedürfnisse gegenüber der Erwerbsarbeit (mehr ‚Selbstverwirklichung’ und ‚Abwechslung’, statt nur finanzielle Sicherheit) sowie eine Diversifizierung der Lebensverläufe führen zu einer veränderten Bedeutung der Erwerbsarbeit und zum Bedürfnis nach neuen Arbeitsmodellen. Neue Beschäftigungsformen erlauben Kombinationen von Erwerbsarbeit und anderen Aktivitäten, die sich mit einem Normalarbeitsverhältnis nicht vereinbaren lassen. Teilzeitarbeit ist unterdessen bereits so stark verbreitet, dass kaum noch von einer atypischen Beschäftigung gesprochen werden kann. 2003 arbeiteten in der Schweiz 59% der erwerbstätigen Frauen und 11% der Männer Teilzeit (SAKE 2003, eigene Berechnungen).

Konsequenterweise wird im Folgenden die Arbeitszeit nur als eine von vielen Eigenschaften der Erwerbsarbeit verstanden und nicht als Unterscheidungsmerkmal zwischen normaler und atypischer Beschäftigung. Unter Normalarbeitsverhältnis sind demnach alle abhängigen und unbefristeten Beschäftigungsverhältnisse mit fixer Stundenzahl zu verstehen – unabhängig vom Pensum. Bei einer auf diese Weise differenzierten Betrachtung, wenn Teilzeit nicht per se als atypisch klassiert und auch die allgemeine Zunahme der Beschäftigung berücksichtigt wird, fällt der Befund zur „Erosion des Normalarbeitsverhältnisses“ weit weniger dramatisch aus.

Flexibilisierung durch atypische Beschäftigungsverhältnisse

„Flexibilisierung der Arbeit“ ist ein Überbegriff, an dem die diffusen und vielschichtigen Veränderungen der Erwerbsarbeit gerne festgemacht werden. Mit seinem Buch „Der flexible Mensch – die Kultur des neuen Kapitalismus“ (1998) hat der Soziologe Richard Sennett den Begriff vorwiegend mit seiner negativen Konnotation populär gemacht. Flexibilisierung bedeutet ihm zufolge abnehmende Arbeitsplatzsicherheit, häufigere Stellenwechsel, eine Zunahme befristeter Beschäftigungsverhältnisse, ständige Umstrukturierungen der Betriebe und in der Folge Stress und Unsicherheit für die Angestellten.

Die gängige Unterscheidung in einerseits interne bzw. funktionale Flexibilisierung, welche eine schnellere qualitative Anpassung der Produktion an veränderte Nachfragebedürfnisse ermöglichen soll, und andererseits externe oder numerische Flexibilisierung, welche eine schnelle mengenmässige Anpassung der Arbeitskräfte durch Einstellungen oder Entlassungen erlaubt, versucht das Phänomen Flexibilisierung aus Sicht der Betriebe zu erfassen. Sie ist aber wenig hilfreich, wenn die Beschäftigten im Zentrum stehen sollen.

Ergiebiger ist da die Unterscheidung zwischen Flexibilisierung der Arbeit und Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse (Benner 2002). ‚Arbeit‘ bezieht sich dabei auf den Arbeitsprozess, die dazu notwendigen Fähigkeiten und Wissensbestände sowie die dabei stattfindenden sozialen Interaktionen. ‚Beschäftigungsverhältnis‘ bezieht sich auf die Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Die Flexibilisierung der Arbeit ist vorwiegend Folge der zunehmenden Bedeutung von Innovation, Wissen und Selbstverantwortung, bedingt durch stärkere Nachfrageschwankungen, verschärften globalen Wettbewerb und neue Technologien. Die Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse dagegen hängt vor allem von institutionellen Bedingungen wie Arbeitsgesetzen und Regulierungen, Organisationsstrukturen und Management-Praktiken ab. Änderungen der Beschäftigungsverhältnisse sind viel direkter sichtbar und die Folgen für die Beschäftigten empfindlich spürbar, da sie Auswirkungen auf den Lohn und die Beschäftigungssicherheit haben. Atypische Beschäftigungsverhältnisse sind damit der zentrale Ansatzpunkt zur Untersuchung der Flexibilisierung der Arbeit aus Sicht der Beschäftigten.

Atypische Beschäftigungsverhältnisse zeichnen sich durch den ungewissen Umfang und die variable Lage der Arbeitszeit sowie die unsichere, bzw. befristete Dauer des Anstellungsverhältnisses aus. Ersteres kommt exemplarisch in der Arbeit auf Abruf zum Ausdruck, letzteres bei der befristeten Beschäftigung. Scheinselbständigkeit umfasst beide Dimensionen: Weder ist die Arbeitszeit geregelt, noch die Dauer unbefristet. Da es sich bei der Scheinselbständigkeit (siehe die genaue Definition in der Tabelle) formell um kein abhängiges Beschäftigungsverhältnis handelt, sondern um ein Auftragsverhältnis, entfallen zudem sämtliche arbeitsrechtlichen Regulierungen. Aber auch bei den beiden anderen atypischen Beschäftigungsverhältnissen kommen viele mit einem Normalarbeitsverhältnis verknüpfte Schutzbestimmungen und Sicherungsleistungen nicht zum Tragen. Es besteht faktisch keine Kündigungsfrist, Pensionskasse, Krankentaggeld- und Arbeitslosenversicherung sind nur in eingeschränkter Form anwendbar und der Arbeitsvertrag ist oft von allfälligen gesamtarbeitsvertraglichen Regelungen ausgenommen. Prämien, Lohnfortzahlung bei Mutterschaft oder Militärdienst, Beiträge an Weiterbildungsinvestitionen, der Einschluss in einen Sozialplan bei Massenentlassungen, Altersprämien, Kinderzulagen und Ähnliches entfallen in der Regel, da solche Leistungen meistens implizit oder explizit an ein Normalarbeitsverhältnis gebunden sind.

Aus Sicht der Betriebe stellen atypische Beschäftigungsverhältnisse vor allem eine numerische Flexibilisierungsmöglichkeit dar. Sie erlauben, auf Absatzschwankungen rasch mit personellen Anpassungen – Verminderung oder Erhöhung der Arbeitszeit, Einstellungen oder Entlassungen – zu reagieren. Da atypische Arbeitsverhältnisse fast durchs Band weg weniger stark normiert und reglementiert sind als Normalarbeitsverhältnisse, können sie zudem – systematisch angewandt – zur Senkung der Personalkosten dienen.

Auch aus Sicht der Arbeitnehmenden können atypische Beschäftigungsverhältnisse eine erwünschte Flexibilisierungsmöglichkeit bieten. Sie können leichter eingegangen und wieder aufgelöst werden und die Arbeitnehmer-Arbeitgeberbindung fällt schwächer aus als bei einem Normalarbeitsverhältnis. Die Beständigkeit der Arbeitsbeziehung als Grundlage von Motivation, von gegenseitigem Vertrauen und Loyalität entfällt. Von Vorteil ist dabei, dass schneller auf veränderte Lebensumstände reagiert und mehrere Arbeitstellen oder ausserberufliche Tätigkeiten besser kombiniert werden können. Zudem sind die Einstiegshürden bei atypischen Arbeitsverhältnissen oft niedriger und oftmals geht mit dem atypischen Beschäftigungsverhältnis die Möglichkeit zu einer flexibleren Arbeitszeitgestaltung einher.

2003 arbeiteten in der Schweiz 8,4% aller Erwerbstätigen (im Haupterwerb) im Rahmen eines atypischen Beschäftigungsverhältnisses: 4,8% waren auf Abruf beschäftigt, 2,9% arbeiteten im Rahmen eines befristeten Anstellungsverhältnisses bis 18 Monate und 0,7% waren scheinselbständig (siehe Tabelle). Die Entwicklung über die Zeit ist bei atypischen Beschäftigungsverhältnissen schwierig zu rekonstruieren. Da atypische Beschäftigung bis vor kurzem von der wissenschaftlichen Forschung völlig vernachlässigt wurde, werden entsprechende Daten erst seit kurzem erfasst. In der Schweiz lässt sich für die 90er Jahre ein leichter Anstieg des Anteils der Selbständigen und der befristet Beschäftigten konstatieren. Für Arbeit auf Abruf und Scheinselbständigkeit lässt sich ebenfalls eine leichte Zunahme vermuten. Insgesamt scheint es in dieser Zeit aber – mit Ausnahme der zunehmenden Erwerbsbeteiligung der Frauen, häufig über Teilzeitstellen – zu keinen grösseren relativen Veränderungen gekommen zu sein (Arvanitis, Hollenstein und Marmet 2002).

Zwei Triebkräfte der Flexibilisierung

Was sind die Triebkräfte einer Flexibilisierung durch atypische Beschäftigungsverhältnisse? Die Gründe und Motive hinter atypischen Beschäftigungsverhältnissen lassen sich schematisch zwei Bereichen zuordnen: Einerseits der Nachfrageseite, d.h. den Betrieben, und andererseits der Angebotsseite, d.h. den Erwerbstätigen.

Strukturalistisch argumentierende Ansätze legen das Hauptgewicht auf die betriebsseitigen Einflüsse und betonen die daraus resultierenden Zwänge für die Arbeitnehmenden. Atypische Beschäftigung lässt sich in diesem Sinne vorwiegend als eine spezifische Spielart der Arbeitsmarkt-Segmentierung verstehen, welche bestimmten Personengruppen den Zugang zu ‚guten’ Jobs erschwert (vgl. Kalleberg 2000). Atypische Beschäftigung wäre demnach häufiger in bestimmten Branchen (beispielsweise im Gastgewerbe mit starken saisonalen Nachfrageschwankungen), im externen Arbeitsmarktsegment, d.h. bei Arbeitnehmenden die nicht eng an den Betrieb gebunden werden (sehr tief Qualifizierte einerseits, sehr hoch qualifizierte Spezialisten andererseits), und bei potenziell diskriminierten Gruppen wie Ausländern oder Frauen anzutreffen. Auch das Alter eines Erwerbstätigen und die generelle Arbeitsmarktsituation dürften einen Einfluss ausüben. Aufgrund der zunehmenden Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen, dem damit einhergehenden verschärften Wettbewerb, des Wachstums des Dienstleistungssektors auf Kosten der Industrie und nicht zuletzt aufgrund zeitgenössischer Trends in Organisations- und Managementpraktiken ist über die Zeit eine Zunahme atypischer Beschäftigung zu erwarten.

Individualistisch argumentierende Ansätze betonen die Wahlmöglichkeit der Arbeitnehmenden und sehen atypische Beschäftigungsverhältnisse vor allem als Chance. Je nach Haushaltskontext, Familiensituation und Lebensabschnitt kommt sie bestimmten Personen entgegen, bzw. erlaubt ihnen überhaupt erst eine Erwerbstätigkeit (vgl. Hakim 2000). Atypische Beschäftigung wäre demnach stark von einer Partnerschaft und Kindern, vom Karriereverlauf (Ausbildung, Berufseinstieg, Wiedereinstieg nach einem Unterbruch), von allfälligen zusätzlichen Einkommensquellen und weiteren beruflichen oder nicht-beruflichen Aktivitäten abhängig. Über die Zeit würde atypische Beschäftigung durch die zunehmende Erwerbspartizipation der Frauen, eine verlängerte Jugend- und Ausbildungsphase und veränderte Bedürfnisse gegenüber der Erwerbsarbeit gefördert.

Individuelle Motive und strukturelle Zwänge sind beim Entscheid, ein atypisches Beschäftigungsverhältnis einzugehen, eng miteinander verknüpft und oft nur beschränkt auseinanderzudividieren. Zudem sind individuelle Präferenzen immer an einen strukturellen Kontext gebunden und entstehen nicht im luftleeren Raum. Bei unseren Fallbeispielen ist für Ilona die befristete Beschäftigung nach dem Verlust ihrer Stelle die einzige Alternative zur Arbeitslosigkeit, eine atypische Beschäftigung per se aber nicht erwünscht – ganz im Gegenteil. Der Firma kommt die befristete Anstellung auf jeden Fall entgegen, da sie dadurch – ohne langfristige finanzielle Verpflichtungen eingehen zu müssen – eine günstige und zugleich hoch qualifizierte Arbeitskraft erhält. Reto auf der anderen Seite ist als Student grundsätzlich froh über eine flexible Stelle. Die Beschäftigungs- und Einkommenssicherheit ist für ihn von nachrangiger Bedeutung. Dennoch empfindet er die Unregelmässigkeit und die schlechte Voraussehbarkeit seiner Arbeit auf Abruf bisweilen als störend.

Bestimmungsgründe atypischer Beschäftigung

Die Betrachtung der generellen Verbreitung der verschiedenen Motive und Gründe für atypische Beschäftigungsverhältnisse in der Schweiz erlaubt eine empirische Überprüfung der beiden Erklärungsansätze und eine Einschätzung der Triebkräfte der Flexibilisierung. Sind es übers Ganze eher Ursachen auf Arbeitgeberseite oder eher solche auf Arbeitnehmerseite, die zu atypischen Beschäftigungsverhältnissen führen? In der Schweiz zeigen sich grosse Unterschiede zwischen verschiedenen Berufsgruppen. Arbeit auf Abruf etwa tritt häufiger im Gastgewerbe und in der Reinigung sowie im Verkauf auf, befristete Beschäftigung häufiger bei Gesundheits-, Lehr- und Kulturberufen und im Wissenschaftsbetrieb. Scheinselbständigkeit ist stärker verbreitet in der Landwirtschaft, im Gastgewerbe und bei Berufen zur Erbringung persönlicher Dienstleistungen. Auch bei der Ausbildung zeigen sich deutliche Unterschiede: Hochschulabsolventen sind überdurchschnittlich häufig befristet beschäftigt, Erwerbstätige ohne weiterführende Ausbildung öfters auf Abruf. Arbeit auf Abruf und Scheinselbständigkeit wird zu einem grossen Teil im Rahmen eines Teilzeitpensums, oft gar in marginaler Teilzeit (Arbeitspensum von weniger als 50%) getätigt. Befristete Beschäftigung dagegen wird zu zwei Dritteln in Vollzeitpensen geleistet und ist zu einem beträchtlichen Teil ein Phänomen unter jungen Beschäftigten. Scheinselbständigkeit auf der anderen Seite tritt häufiger unter älteren Erwerbstätigen auf. Frauen sind bei allen atypischen Beschäftigungsformen stärker vertreten.

Die Verbreitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse in verschiedenen Gruppen sagt nun noch nicht allzu viel über deren Ursachen aus. Sind beispielsweise Frauen häufiger befristet beschäftigt, weil sie öfters in Branchen arbeiten, wo dies häufiger vorkommt? Hängt es mit dem gewünschten Arbeitspensum zusammen? Oder ist es für sie tatsächlich aufgrund ihres Geschlechts wahrscheinlicher, etwa wegen Diskriminierung, dass sie keine Festanstellung bekommen und deshalb häufiger atypisch beschäftigt sind? Im Rahmen eines multivariaten Modells, mit dem partielle Effekte von einzelnen Merkmalen geschätzt werden, sind diese Fragen präziser zu beantworten.

Bei Arbeit auf Abruf zeigt sich beispielsweise kein Gender-Effekt, das bedeutet, Arbeit auf Abruf ist nicht direkt vom Geschlecht abhängig. Bei Berücksichtigung des Arbeitspensums haben Frauen sogar eine kleinere Wahrscheinlichkeit auf Abruf zu arbeiten als Männer. Starke Effekte zeigen sich aber bei der Berufszugehörigkeit. Auf Abruf wird – relativ zu administrativen und kaufmännischen Berufen – viermal häufiger [2] in künstlerischen oder grafischen Berufen sowie in der Transportbranche und bei der Post gearbeitet. Keine weiterführende Ausbildung zu haben erhöht die Wahrscheinlichkeit, auf Abruf beschäftigt zu sein – eine höhere Ausbildung vermindert sie. Eine hohe regionale Arbeitslosenquote führt zu weniger Beschäftigung auf Abruf. Bei den arbeitnehmerseitigen Faktoren zeigt sich der stärkste Effekt bei erwerbstätigen Rentnerinnen und Rentnern sowie bei Erwerbstätigen, die einen längeren Erwerbsunterbruch hinter sich haben. Beide haben eine mehr als doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit auf Abruf beschäftigt zu sein als andere Erwerbstätige. Verheiratete Frauen sind deutlich häufiger auf Abruf beschäftigt als unverheiratete. Bei den Männern weist dieser ‚Heirats-Effekt’ in die entgegengesetzte Richtung, ist jedoch nicht signifikant. Schliesslich hat die Arbeitszeit einen grossen Einfluss: Je kleiner das Pensum, umso eher ist jemand auf Abruf beschäftigt.

Bei befristeter Beschäftigung zeigt sich bezüglich der strukturellen Einflussgrössen eine mehr als dreimal Mal so hohe Wahrscheinlichkeit für Wissenschaftler, Lehrer, Kunstschaffende und Berufe der Fürsorge und des Gastgewerbes. Hochschulabgänger sind über 3 Mal häufiger befristet angestellt als Erwerbstätige mit einer Berufslehre. Die häufig postulierte These von der Polarisierung der atypisch Beschäftigten – dass einerseits Personen mit einer höheren Ausbildung und andererseits solche ohne weiterführende Ausbildung stärker betroffen seien – muss deshalb differenziert werden: Personen ohne weiteführende Ausbildung sind häufiger von Arbeit auf Abruf, höher Ausgebildete von befristeter Beschäftigung betroffen. Die arbeitnehmerseitigen Einflüsse sind bei befristeter Beschäftigung ähnlich wie bei der Arbeit auf Abruf – mit der Ausnahme, dass Alleinlebende im Vergleich zu Verheirateten eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit haben, befristet angestellt zu sein.

Scheinselbständigkeit schliesslich ist am wahrscheinlichsten bei Kunstschaffenden und – etwas weniger aber immer noch deutlich überdurchschnittlich – bei grafischen Berufen und im Baugewerbe. Rentnerinnen und Rentner gehen mit einer deutlich höheren Wahrscheinlichkeit einer scheinselbständigen Beschäftigung nach. Frauen arbeiten eher scheinselbständig als Männer. Und Frauen mit Kindern wiederum dreimal häufiger als Frauen ohne Kinder. Dies ist bemerkenswert, da echte Selbständigkeit klar von Männern dominiert wird. Die Bestimmungsgründe der Scheinselbständigkeit unterscheiden sich in dieser Hinsicht deutlich von denen der echten Selbständigkeit.

Eher strukturelle Zwänge als individuelle Chancen

Die hier nur verkürzt dargestellten Ergebnisse zeigen, dass übers Ganze gesehen die Einflüsse von Arbeitgeberseite leicht stärker sind als die arbeitnehmerseitigen. Eine strukturalistische Sichtweise, welche die firmenseitigen Einflussgrössen und aus Sicht der Arbeitnehmenden die Zwänge betont, besitzt grössere Erklärungskraft. Die stärksten Einflüsse zeigen sich nämlich bei der Berufszugehörigkeit und bei der Ausbildung.

Individualistische Ansätze, welche atypische Beschäftigungsverhältnisse vor allem als zusätzliche Wahlmöglichkeit und als Chance betrachten, können atypische Beschäftigung weniger gut erklären. Mit Ausnahme des Alters und eines vorhergehenden Erwerbsunterbruchs zeigt sich nur ein schwacher Einfluss der arbeitnehmerseitigen Merkmale.

Atypische Beschäftigung muss aber, wie sich anhand der Forschungsresultate zeigt, differenziert betrachtet werden. Die verschiedenen Formen unterscheiden sich stark voneinander. Die praktisch einzige durchgehende Gemeinsamkeit zwischen den drei betrachteten Formen besteht darin, dass Frauen jeweils stärker vertreten sind als Männer. Am deutlichsten ist dies bei Arbeit auf Abruf, die bei Frauen mehr als doppelt so häufig vorkommt, am wenigsten deutlich bei befristeter Beschäftigung. Das Geschlecht übt jedoch nur indirekt einen Einfluss aus – über die Branchenzugehörigkeit, das gewählte Pensum und die Haushaltssituation. Die Einnahme der Rolle als Zweitverdienerin vieler Ehepartnerinnen und Mütter ist dabei entscheidend. Ein deutlicher Hinweis für die Bedeutung der geschlechtsspezifischen Aufteilung von Erwerbs- und Haus- bzw. Familienarbeit ist, dass die familiäre Situation der Erwerbstätigen bei Männern kaum Einfluss auf das Eingehen eines atypischen Beschäftigungsverhältnisses hat, bei Frauen dagegen schon. Inwiefern aber diese Frauen bewusst ein atypisches Beschäftigungsverhältnis wählen, oder sie – evtl. da sie ein Teilzeitpensum möchten – keine andere Wahl haben, lässt sich mit der vorliegenden Untersuchung nicht abschliessend beantworten. Auf jeden Fall zeigen sich auch am Beispiel atypischer Beschäftigung deutliche Gender-Unterschiede bezüglich der Erwerbsarbeit.

Atypische Beschäftigung „normalisieren“

Die Flexibilisierung durch atypische Beschäftigungsverhältnisse wird sowohl durch strukturelle Faktoren, als auch durch Veränderungen auf Seiten der Erwerbstätigen, speziell bei den Frauen, verursacht. Die strukturellen Bestimmungsgründe sind übers Ganze gesehen jedoch stärker. Atypische Beschäftigungsverhältnisse werden dementsprechend eher aufgrund der betriebsspezifischen Bedürfnisse eingegangen – und weniger, weil sie von den Arbeitnehmenden gewünscht werden und ihrer persönlichen Situation entgegenkommen.

Dennoch hilft es wenig, atypische Beschäftigungsverhältnisse generell als prekär zu stigmatisieren und damit weiter abzuwerten. Wichtig ist, sie als bedeutendes Phänomen anzuerkennen und ihre allfälligen prekarisierenden Folgen zu vermindern. Eine Strategie, die einzig auf die Stärkung des Normalarbeitsverhältnisses zielt, wird kaum Erfolg haben und zielt bereits heute an der Realität vorbei – bzw. an den rund 10% Erwerbstätigen in atypischen Beschäftigungsverhältnissen. Zudem hat sie oft unerwünschte Auswirkungen. In Ländern mit starkem Kündigungsschutz und hoch reguliertem Normalarbeitsverhältnis gibt es deutlich mehr Erwerbstätige in atypischen Beschäftigungsverhältnissen als etwa in der Schweiz.

Die Gewerkschaften mit ihrer stark am Betrieb, an der Branche und vor allem am Normalarbeitsverhältnis und dem Normalarbeiter orientierten Politik haben sich diesen Herausforderungen bis jetzt nur ungenügend gestellt. Dazu fehlen ihnen auch oft geeignete Möglichkeiten. Atypisch Beschäftigte sind kaum in Gewerkschaften integriert und Gesamtarbeitsverträge kommen bei ihnen in der Regel nicht zum Tragen.

Vor diesem Hintergrund sollte es vor allem darum gehen, bestehende allgemeine Arbeitnehmerrechte und Sicherungsinstitutionen anzupassen. Sie dürfen bestehende Ungleichheiten nicht noch verschärfen und müssen auch atypisch Beschäftigten Schutz bieten. Personen, die nicht im Rahmen eines Normalarbeitsverhältnisses beschäftigt sind, dürfen nicht einfach von essentiellen Errungenschaften wie etwa einer gesicherten Altersrente, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder Arbeitslosenunterstützung ausgeschlossen werden. Atypische Beschäftigung muss in dieser Hinsicht endlich dem Normalarbeitsverhältnis gleichgestellt und „normalisiert“ werden – damit sie für die Beschäftigten tatsächlich eine echte Chance ohne gravierende Nachteile darstellen kann.

[1] Name geändert.

[2] Die in diesem Abschnitt angegebenen Wahrscheinlichkeitsveränderungen sind Veränderungen der relativen Wahrscheinlichkeiten bezogen auf das Normalarbeitsverhältnis (relative risk ratios). „viermal häufiger“ oder „viermal wahrscheinlicher“ heisst genau genommen, einen künstlerischen oder grafischen Beruf zu haben, führt – ceteris paribus – dazu, dass sich das Verhältnis der Wahrscheinlichkeit einer Arbeit auf Abruf über der Wahrscheinlichkeit eines Normalarbeitsverhältnisses um den Faktor 4 zugunsten von Arbeit auf Abruf verändert. Die relative risk ratios können im vorliegenden Fall näherungsweise als Veränderungen der Wahrscheinlichkeit des atypischen Beschäftigungsverhältnisses interpretiert werden – ohne grosse Unschärfe und zugunsten der einfacheren Verständlichkeit. Die Angaben basieren auf einem multinominalen Logit-Modell des Autors auf der Grundlage von Daten der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) 2003 des BfS, bei der 55‘000 Personen zu ihrer Erwerbssituation befragt wurden.

Marc Höglinger (26) studiert an der Universität Zürich Soziologie im Hauptfach, Volkswirtschaft sowie Sozial- und Wirtschaftsgeschichte im Nebenfach. Der Artikel basiert auf ersten Ergebnissen seiner Lizentiatsarbeit zu atypischen Beschäftigungsverhältnissen im Kontext der Flexibilisierung der Arbeit. » marc_hoeglinger(at)soziologie.ch

Literaturauswahl:

Arvanitis, S., H. Hollenstein und D. Marmet (2002): Numerical or functional labour flexibility. What is at stake for the Swiss economy? Zürich. » http://e-collection.ethbib.ethz.ch/show?type=incoll&nr=732
Benner, Ch. (2002): Work in the new economy. Flexible labor markets in Silicon Valley. Oxford u. Malden.
Bonss, W. (2002): Erosion des Normalarbeitsverhältnisses. Tendenzen und Konsequenzen. In: Rauscher, A. (Hrsg.) Arbeitsgesellschaft im Umbruch Ursachen, Tendenzen, Konsequenzen. Berlin, 69-86.
Geissler, B. (2002): „Der flexible Mensch“. Eine These auf dem Prüfstand. In: Caritas Schweiz (Hrsg.) Der flexibilisierte Mensch. Luzern, 57-71.
Hakim, C. (2000): Work-lifestyle choices in the 21st century. Oxford.
Kalleberg, A. L. (2000): Nonstandard employment relations: Part-time, temporary and contract work. Annual Review of Sociology, Vol. 26, 341-365.
Sennett, R. (1998): Der flexible Mensch – Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin.
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Auguste Comte, Leitsatz positivistischer Soziologie