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zur paradoxie von organisationsberatung

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Eine Anleitung zu einem systemtheoretischen Blindflug

Organisationen wie Firmen, Unternehmen, Vereine, Verbände, Agenturen usw. lassen sich beraten, um ein Problem zu lösen. Entgegen den klassischen Beratungszielen versteht die systemische Organisationsberatung ihre Aufgabe jedoch nicht darin, das Problem einer Organisation zu lösen. Ihr Verständnis von Beratung ist paradox, denn sie geht davon aus, dass eine Organisation nicht von aussen steuerbar ist, und behauptet dennoch deren Steuerbarkeit. Der folgende Beitrag zeigt, wie die Beratung von Organisationen aus dieser Perspektive beschrieben werden kann.

SOZ-MAG Beitrag von Thomas Stucki

Für das Thema Organisationsberatung ist der Begriff Kommunikation unumgänglich. Alltagsweltlich wird mit Kommunikation der Austausch von Informationen zwischen Menschen bezeichnet. In der Systemtheorie wird Kommunikation hingegen als grundlegende Operation sozialer Systeme verstanden. Das bedeutet mit anderen Worten, dass soziale Systeme aus nichts anderem als aus Kommunikation bestehen. Die Systemtheorie trennt Soziales und Psychisches als zwei voneinander verschiedene Sphären der Systembildung. Diese beiden Sphären bedingen und berühren einander, operieren aber immer getrennt. Es ist für ein psychisches System beispielsweise nicht möglich, die Inhalte der eigenen Wahrnehmung in ein soziales System wie beispielsweise ein Unternehmen zu übertragen; es gibt keinen Zugriff auf die Gedanken eines Menschen.

Die Eigenständigkeit von Kommunikation

Die Systemtheorie vertritt die Ansicht, dass Menschen nicht kommunizieren können, und konzipiert Kommunikation entsprechend als rein soziale Operation, die als Letztelement sozialer Systeme fungiert. Kommunikation ist zwar auf Menschen angewiesen, folgt aber ihrer eigenen Dynamik. Die Trennung von sozial und psychisch hat der Systemtheorie manche Kritik eingetragen von der Art, wie es möglich sei, zu vertreten, dass nicht Menschen kommunizieren würden, wo doch jeder und jede jederzeit das Gegenteil überprüfen könne. Die humanistische Kritik etwa gipfelt in der Frage, wo in der Systemtheorie der Mensch bleibe. Der Begriff System wird dabei oft mit Attributen wie Kälte, Technizität, Unmenschlichkeit und Leere verbunden, während der Mensch unter der Sonne der Aufklärung als Vernunftwesen erscheint.

Die Trennung von Sozialem und Psychischem ist aber noch nicht alles, was die Systemtheorie uns zumutet, wenn es um Kommunikation geht. Sie verabschiedet sich auch von der Metapher der Übertragung von Kommunikation und von der Vorstellung, das Ziel der Kommunikation liege in der Verständigung. Dieser Abschied bedarf einer Erklärung, denn in der Kommunikationswissenschaft wird Kommunikation als Übertragung von Information zwischen Sender und Empfänger verstanden. Tritt bei der Übertragung ein Problem auf, spricht man von einer Störung. Ziel der Kommunikation ist es demnach, ungestört zu funktionieren. Damit liegt der Fokus auf der Übertragung: Kommunikation wird als Paket vorgestellt, welches von A nach B verschoben wird. Wird die Übertragung gestört, läuft etwas nicht gut. Kommunikation kann deshalb normativ gefasst werden, als gute oder als schlechte Kommunikation. Gut ist Kommunikation dann, wenn das Paket so ankommt, wie es auf den Weg gesetzt wird, d.h. wenn der Empfänger erhält, was der Sender abgeschickt hat. Schlecht ist Kommunikation hingegen dann, wenn etwas nicht so ankommt, wie es gesendet wurde, d.h. wenn etwas falsch verstanden wird. Ziel der Kommunikation ist folglich die Verständigung der Beteiligten. Die Systemtheorie verabschiedet sich radikal von dieser Sichtweise. Sie arbeitet nicht mehr mit der Unterscheidung [gute Kommunikation | schlechte Kommunikation]. Der Grund für diese Abkehr liegt darin, dass es für die Fortdauer der Kommunikation keine Rolle spielt, ob sie als gute oder als schlechte Kommunikation bezeichnet wird. Die Bezeichnung „gut“ bzw. „schlecht“ ist bildlich gesprochen ein Etikett, welches an die Kommunikation geklebt wird, und kann nicht als Eigenschaft verstanden werden, welche die Kommunikation als Kommunikation konstituiert. Gerade bei Konflikt, Meinungsverschiedenheit, im Streit und sogar im Krieg kann Kommunikation an Kommunikation anschliessen, auch wenn die Beteiligten solche Kommunikation als unangenehm empfinden.

Die Systemtheorie beschreibt die Kommunikation von ihrem Ende her und schlägt vor, dass Kommunikation sich dann ereignet hat, wenn etwas als Kommunikation verstanden worden ist. Dieses Etwas kann eine Handlung sein, aber genauso gut auch das Ausbleiben einer Handlung. Mein Tischnachbar klopft mit den Fingern auf den Tisch: Kommunikation oder nicht? Systemtheoretisch gesehen ist die Handbewegung meines Nachbars Kommunikation, wenn ich darin eine Mitteilung erkenne. Grundsätzlich handelt es sich nur um eine Handbewegung, und nichts wird von A nach B gesendet. Dass das Klopfen der Finger etwas mitteilen kann, liegt auf der Hand; ob es das tut, ist jedoch nicht klar. Mein Nachbar tippt vielleicht gedankenverloren auf den Tisch. Eventuell verstehe ich sein Tippen aber auch als Zeichen von Langeweile oder Ärger. Kommunikation realisiert sich mit anderen Worten erst durch das Verstehen. Nur wenn ich dieses Verhalten als Mitteilung interpretiere, ist es Kommunikation, sonst ist es einfach eine Handbewegung. Kommunikation realisiert sich dann, wenn verstanden worden ist, und dabei ist es unerheblich, ob es sich um richtiges oder falsches Verstehen handelt. Für die Kommunikation zählt einzig der Anschluss an Kommunikation, was bedeutet, dass auch bei Falschverstehen, bei Konflikt und Dissens weiter kommuniziert werden kann. Selbst wenn ich das Klopfen meines Nachbars falsch verstehe, kann die Kommunikation weiterlaufen. Bereits dieses Beispiel verdeutlicht die Eigenständigkeit der Kommunikation, denn schon bei zwei Personen kann es kompliziert werden, wenn man alle Anschlussmöglichkeiten der Kommunikation erfassen will. Hat man es mit grösseren Zusammenhängen, beispielsweise mit Organisationen zu tun, erweitern sich die Möglichkeiten drastisch und die Eigenständigkeit von Kommunikation wird augenfällig.

100 Jahre Organisationsberatung – 3 Richtungen

Die Geschichte der Beratung von Organisationen ist ungefähr 100-jährig und hat bisher drei Richtungen hervorgebracht, welchen drei verschiedene Sichtweisen der Organisation entsprechen. Die älteste Richtung ist die klassische Management- oder Unternehmensberatung. Sie geht davon aus, dass eine Organisation eine triviale Maschine ist, die man bis ins Letzte verstehen und nach Plänen warten kann. Der Zweck der Maschine wird von aussen durch einen Konstrukteur vorgegeben, und die Beziehungen der Teile der Maschine sind determiniert. Die Maschine ist zwar kompliziert, prinzipiell aber durchschaubar. Wird eine Organisation als Trivialmaschine gesehen, erfüllt alles in ihr einen festgelegten Zweck. Was keinen Zweck verfolgt, ist unnötig und kann deshalb eliminiert werden. In Abgrenzung zu diesem Verständnis entsteht Ende der 1940er Jahre die Organisationsentwicklung oder Prozessberatung, welche die Organisation als Organismus sieht und ihr eine gewisse Selbstbestimmung zugesteht. Dieser Ansatz berücksichtigt, dass Organisationen im Austausch mit ihrer Umwelt stehen. Veränderungen können nicht einfach vollzogen werden, sondern sind das Ergebnis evolutionärer Prozesse. Eine Organisation überlebt nur, wenn sie sich ihrer Umwelt anpassen kann. Die systemische Beratung schliesslich sieht Organisationen als nichttriviale Maschinen. Sie sind für sich selbst und für andere in hohem Mass undurchschaubar und unberechenbar. Die systemische Beratung folgt dem Konstruktivismus, welcher davon ausgeht, dass jede Erkenntnis abhängig von einem Beobachter ist, d.h., dass es keine Objektivität gibt. Weiter geht der Konstruktivismus davon aus, dass die Beobachtungen der Beobachter das Beobachtete beeinflussen. Plakativer formuliert, kann sogar gesagt werden, dass das Beobachtete seine Existenz dem Beobachter verdankt. Ein Beispiel dafür ist die Äusserung von Picasso, dass nicht der Künstler das Bild erschaffe, sondern der Betrachter. Für die Beratung von Organisationen bedeutet diese Ausrichtung, dass Abschied genommen wird von der Vorstellung eines archimedischen Punktes, der stabil gehalten und von dem aus die Organisation repariert werden kann.

Die systemische Beratung von Organisationen blickt zurück auf 20 Jahre Praxis. Den einen gilt sie als Kaffeesatzdeuterei und den anderen als Revolution in der Beratungspraxis. Die systemische Beratung wurzelt einerseits in der systemischen Familientherapie und andererseits in der soziologischen Systemtheorie. Der systemischen Familientherapie entnimmt sie ihre Methoden der Intervention, und der soziologischen Systemtheorie ihre Theorie. Die systemische Familientherapie entstand Ende der 1950er Jahre um die Psychologin Selvini Palazzoli. Die als „Mailänder Schule“ bezeichnete Gruppe versteht Krankheit, Störung oder Abweichung als mögliche Lösung einer unentscheidbaren Situation, als sowohl funktional für den Erhalt des Systems und als zugleich dysfunktional für die Persönlichkeitsentwicklung der am System beteiligten Personen. So kann beispielsweise die einnässende Tochter als Symptomträgerin eines Familiensystems gesehen werden, bei welchem die Geburt eines Geschwisters das System verändert hat. Die soziologische Systemtheorie ist geprägt durch den Bielefelder Soziologen Luhmann, der 1984 in seiner Theorie sozialer Systeme vorschlägt, Soziales als Emergenz in Form von Kommunikation zu verstehen. Was ist damit gemeint? Aus der Selbstorganisationsforschung ist bekannt, dass Systeme mit dem Überschreiten einer kritischen Masse an Komplexität Eigenschaften hervorbringen, die aus den Eigenschaften ihrer Elemente allein nicht mehr erklärbar sind. Soziales spielt sich mit anderen Worten auf einer Ebene ab, welche ihrer eigenen Dynamik folgt und deshalb nicht mehr auf die Teilnehmenden, beispielsweise auf die Mitglieder einer Familie, zurück zu rechnen ist. Nun sind Organisationen aufgrund der Anzahl ihrer Mitglieder in den meisten Fällen ungleich komplexer als Familien, die heute in der Regel aus drei bis vier Personen bestehen. Es stellt sich deshalb die Frage, wie in ein solches System interveniert werden kann, wenn man davon ausgeht, dass es sich selber reguliert.

Damit ist die grundlegende Paradoxie von Organisationsberatung benannt, die darin besteht, dass man es mit der Steuerung nichtsteuerbarer Systeme zu tun hat. Eine Organisation ist ein soziales System und daher autopoietisch, d.h. sie entscheidet eigenlogisch und ausschliesslich auf Grundlage eigener Operationen, welche Ereignisse aus ihrer Umwelt auf welche Weise registriert werden. Autopoiesis bedeutet, dass ein System sich andauernd aus eigener Kraft und ausschliesslich durch eigene Operationen von der Umwelt abgrenzt und sich dadurch andauernd selber schafft (griech. autos | poiein = selbst | machen). Dieser autopoietische Reproduktionsprozess lässt sich an einem Bild veranschaulichen: Es ist, als ob das System sich an den eigenen Haaren aus dem Wasser zöge. Legt man sich das Konzept der Autopoiesis als Prämisse für das Denken über Organisationsberatung zugrunde, besteht eine der Paradoxien von Organisationsberatung darin, dass sie in der Umwelt der Organisation stattfindet und über keinen Zugriff auf das organisationsinterne Geschehen verfügt, jedoch genau dies postulieren muss. An welchen Mechanismen kann Organisationsberatung ansetzen, wenn sie keinen Zugriff auf das beratene System hat? Wie kann Organisationsberatung betrieben werden, wenn angenommen wird, dass jede Beobachtung, d.h. jede Beschreibung, jede Diagnose, jeder Text, jede Erzählung relativ zum Standpunkt des Beobachters ist und dass es keinen Zugriff von der Umwelt in das System gibt?

Die Besonderheit systemischer Beratung

Worin unterscheidet sich systemische Organisationsberatung von den anderen beiden genannten Beratungsformen? – Bei der systemischen Beratung handelt es sich letztlich um eine Haltung und nicht um ein erlernbares Set an Methoden. Diese Haltung besteht darin, radikal davon auszugehen, dass eine Organisation sich selber steuert. Systemische Beratung von Organisationen ist im Kern Hilfe zur Selbsthilfe. Als Grundsatz systemischer Beratung gilt, dass kein System willentlich in einen bestimmten Zustand gebracht werden kann, sondern dass ein System immer sich selber in einem bestimmten Zustand hält und dies immer aufgrund eigener Mechanismen tut. Diese Mechanismen spielen sich auf der sozialen Ebene ab, d.h. auf der Ebene der Kommunikation, und sie folgen nicht dem Willen der beteiligten Personen. Dieser Zustand ist aber veränderbar, obwohl er immer der Zustand des betreffenden Systems und als solcher hausgemacht bleibt. Gerade an dieser Eigenart sozialer Systeme, sich selber zu regulieren, setzt die systemische Beratung an. Sie bietet an, das System zu stören.

Wie ist eine solche Störung zu verstehen? – Ist Beratung systemisch, geht sie von der Geschlossenheit sozialer Systeme aus. Gemäss dieser Annahme kann ein soziales System nur erreicht werden, wenn es etwas als Störung registriert. Nur über Irritation kommt Bewegung ins System. Gerade die Schwierigkeiten gelten der systemischen Beratung als Impulse für Veränderung. Systemische Beratung setzt deshalb an denjenigen Situationen in Organisationen an, welche als problematisch definiert werden und von denen am liebsten niemand redet. Natürlich stört auch klassische Beratung die Organisation durch ihre Anwesenheit. Das ist genauso unvermeidlich, wie uns der Besuch zuhause in der Routine des Alltags stört, indem er diese durch seine Präsenz durchbricht. Im Unterschied zu klassischer Beratung arbeitet systemische Beratung aber explizit mit der Störung, sie macht Irritation sozusagen zu ihrem Kerngeschäft. Man könnte sagen, dass sie ihre Aufgabe in der qualifizierten Störung sieht. Sie kommt, stört und begleitet das System auf seinem Weg, mit der Störung etwas anzufangen. Systemische Beratung bietet Sicherheit im Umgang mit Unsicherheit. Dabei besteht im Unterschied zur klassischen Beratung nicht die Vorstellung eines idealen Zustands des beratenen Systems. Die Struktur einer Organisation ist nichts Festes, was erst in Bewegung gebracht werden muss. Organisationen sind als soziale Systeme permanent in Bewegung. Selber werden Organisationen aber in der Regel nicht davon ausgehen, dass sie sich in einem ständigen Prozess des Werdens und Vergehens befinden, sondern dass sie stabil, stark und sicher sind und aufgrund klarer Leitbilder und Zielvorgaben in eine bestimmte Zukunft hinein operieren. Nur schon die Konfrontation damit, dass die eigene, offizielle Sicht der Dinge von aussen nicht geteilt wird und dass in der Organisation selbst heterogene Sichtweisen beobachtet werden können (z.B. abweichende Sichtweisen von Individuen, Gruppen oder Abteilungen), stellt eine Störung dar, wie sie massiver kaum sein könnte. Beratungskommunikation nimmt besondere Blickwinkel ein, sie überrascht und irritiert bestehende Sichtweisen. Organisationsberatung sieht nicht besser oder richtiger, sondern sie beobachtet die beratene Organisation aus einer anderen Perspektive. Das beratene System erhält durch diese Konfrontation mit einer abweichenden Sicht Gelegenheit, sich zu verändern.

Methoden systemischer Beratung: Zirkuläres Fragen und Paradoxe Intervention

Die systemische Beratung verfügt über hohe Freiheitsgrade im Einsatz ihrer Methoden. Deshalb kann grundsätzlich auch klassische Expertenberatung als systemische Beratung verstanden werden, wenn sie ihre Arbeit als Intervention in ein soziales System begreift.

Dieses Verständnis von Intervention bedeutet, dass man die Rückwirkung der Beratung auf das beratene System mitbeachtet. Zu diesem Zweck drängt sich die Verwendung geeigneter Methoden auf. Als typisch systemische Methoden gelten das zirkuläre Fragen und die paradoxe Intervention. Beide Methoden konfrontieren das beratene System mit der eigenen Komplexität und reizen es zur Selbstveränderung. Das System wird durch diese Methoden dazu angeregt, sich explizit mit seinen eigenen Mechanismen zu beschäftigen. Diese Art der Intervention ist vor allem dann sinnvoll, wenn sich repetitive Muster eingespielt haben, die bestehende Probleme erhalten. Man spricht in einem solchen Fall von einer „rigiden Schlaufe“. Indem nun systemische Beratung versucht, der Organisation ihre eigenen Mechanismen sichtbar zu machen, kann die Organisation ihr Selbstbild verändern. Es wird für die Organisation möglich, das Problematische am eigenen Zustand zu erkennen. Es findet eine Orientierung im Sinne einer Selbstorientierung statt. Eine rigide Schlaufe kann sich beispielsweise daran zeigen, dass die Marketingleitung eines Unternehmens innerhalb weniger Monate zum dritten Mal neu besetzt wird. Die neue Leitung wird willkommen geheissen und nach einiger Zeit treten Zweifel an ihr auf. Die Anstellung wird aufgelöst und die Stelle wird wieder ausgeschrieben. Die Frage stellt sich, wie es weitergehen soll. Darauf setzen, dass es beim nächsten Mal klappt? Was wird mit der vierten Besetzung dieser Stelle geschehen? Solche Muster können sichtbar gemacht werden. Die beratene Organisation kann beispielsweise herausfinden, dass sie selber Teil des Problems ist, indem sie die neue Besetzung abstösst, ähnlich wie ein Körper, der nach einer Organtransplantation ein neues Organ abstösst.

Ein Beispiel für die Intervention des zirkulären Fragens könnte so aussehen: Eine Produktionsfirma für Käse im solothurnischen Langendorf hat das Problem ständiger, unerklärbarer Störfaktoren, welche die Produktion unverkäuflich werden lassen. Der bestverkaufte Weichkäse der Firma gelingt nicht mehr. Die Geschäftsleitung hat den Eindruck, dass die Meister, welche den Prozess der Produktion steuern, dem Prozess nicht genug Aufmerksamkeit widmen. Der Verkauf ist überzeugt, das Problem liege bei den Produktionsanlagen. Man investiert in technologische Überwachung. Das Problem wird schlimmer. Beratung wird gesucht, und die Geschäftsleitung will ein Seminar zur Motivation der Meister durchführen lassen. Der systemische Ansatz könnte Geschäftsleitung, Meister und Verkauf gemeinsam in den Prozess führen und ein Störungsmanagement aufbauen, welches alle beteiligten Ebenen einbezieht. Zirkuläres Fragen kann beispielsweise bedeuten, dass erarbeitet wird, wie die gegenseitige Sicht aufeinander ist, und dass man dies in Anwesenheit der anderen macht. Auf diese Weise kann zirkuläres Fragen die Struktur der Kommunikation wahrnehmbar machen. Das bedeutet, dass man die Leute vom Verkauf fragt, wie sie denken, dass die Geschäftsleitung die Meister sieht. Gleichzeitig fragt man die Geschäftsleitung, wie sie denkt, dass die Meister den Verkauf sehen, etc. Es geht bei einer solchen Intervention um Lernen durch Reflexion, um Lernen durch Distanz zur eigenen Sicht oder der Sicht der eigenen Gruppe.

Die Interventionsform der paradoxen Intervention kommt in verschiedenen Spielarten vor und wird häufig mit systemischer Intervention überhaupt gleichgesetzt. Paradoxe Interventionen sind kontradiktorische Handlungsanweisungen, welche dem beratenen System signalisieren, dass es sich nur ändern kann, wenn es so bleibt, wie es ist. Oder umgekehrt ausgedrückt, dass es nur so bleiben kann, wie es ist, wenn es sich ändert. Was ist damit gemeint? Die systemische Beratung arbeitet ausdrücklich mit der Selbstregulierung sozialer Systeme. Veränderung kommt nicht von aussen, sondern ein System verändert sich selbst aufgrund der Sicht, die es sich selber von der Welt macht. Dass ein soziales System sich nur ändern kann, wenn es so bleibt, wie es ist, meint deshalb, dass Veränderung im System nur vom betreffenden System ausgelöst werden kann. Es bedeutet, dass jeder Zustand eines sozialen Systems für dieses System insofern Sinn macht, als er das System erhält. Es bedeutet, dass man nicht von richtigen und falschen Zuständen sozialer Systeme ausgehen kann, sondern dass man sich an den Ressourcen orientiert, die ein soziales System in einem gegebenen Moment zur Verfügung hat. Die umgekehrte Formulierung, dass das System nur so bleiben kann, wie es ist, wenn es sich ändert, bedeutet, dass ein soziales System nie statisch ist. Ein soziales System ist vielmehr in dauernder Bewegung, und das Einzige, was sich an einem sozialen System nicht wandelt, ist, dass es sich dauernd wandelt. Konstant ist einzig der Wandel. Beratung muss das beratene System unterstützen, sich selber zu bleiben, indem es Veränderung zulässt. In der systemischen Beratung geht es darum, Alternativen sichtbar zu machen und davon auszugehen, dass dieses Sichtbarmachen Veränderung auslöst. Veränderung wird dabei, wie gesagt, nicht in eine bestimmte Richtung erwartet. Stattdessen zeigt sich die Haltung systemischer Beratung in der Annahme, dass nur das beratene System selbst bestimmen kann, ob und inwiefern es sich verändert. Eine der Spielarten paradoxer Intervention ist die Umdeutung. Diese Intervention gilt als Prinzip systemischer Intervention schlechthin. Deshalb lässt sich mit ihr die systemische Haltung sehr gut illustrieren. Bei einer Umdeutung wird das Klientensystem zu einer alternativen Interpretation der Wirklichkeit verlockt, indem der bisherige Rahmen der Interpretation gesprengt wird. Die vom Klientensystem formulierte Selbstdiagnose wird in einen anderen Kontext gesetzt. So wird beispielsweise aus der Marktänderung, die den Absatz gefährdet, der Impuls, überfällige Veränderung endlich anzugehen. Was bisher als Problem definiert wurde, erhält durch die Intervention eine ganz andere Note, wodurch sich die Möglichkeit von Veränderung eröffnet. Ein Problem wird anders gesehen, es wird umgedeutet und kann dadurch eine andere Bedeutung bekommen. Die innere Sicht des Klientensystems kann durch eine Umdeutung in einem anderen Licht erscheinen. Es werden weitere Perspektiven eingeführt, welche das bisherige Denken in Frage stellen. Der bisher gültige Rahmen der Interpretation wird gesprengt, und das führt dazu, dass auf einen Wandel im Klientensystem gehofft werden kann. Ein solcher Wandel ist, wie immer, nicht als Eingriff von aussen in das Klientensystem zu verstehen, sondern strikt als Eigenleistung des Klientensystems.

Organisationsberatung als Blindflug

Die systemtheoretisch orientierte Beratungstätigkeit vollzieht sich in einem Prozess, welcher Veränderung im beratenen System über Mechanismen der Selbstreflexion des beratenen Systems anreizt. Dieser Prozess ist vergleichbar mit einem Blindflug. Gerade darin liegt die spezifische Stärke dieser Beratungsform, gerade darin liegt ihr Veränderungspotential. Kommunikation operiert ohne Wahrnehmung, sie fliegt blind. Während in der Fliegerei die Messinstrumente zeigen, ob man auf Kurs ist, zeigen bei der Beratung die Ergebnisse, wo man sich befindet. Das einzige, was der Beratung von Organisationen zur Verfügung steht, sind die Ergebnisse ihrer kommunikativen Intervention. Die Beratung ist selber Teil des Beratungsprozesses, sie ist Teil des Fluges. Sie kann nicht vorneweg wissen, was sie tun muss, und was sie tut, verändert wiederum die Bedingungen ihres Handelns. Veränderung wird als Normalzustand verstanden und nicht als Ausnahme. Organisationen verändern sich andauernd und befinden sich in keinem Moment im Gleichgewicht. Im Grunde genommen geht es bei der systemischen Beratung um die Einsicht, dass keine Beratung in der Lage sein kann, genug über die Zusammenhänge zu wissen, um konkrete Ratschläge zu erteilen. Diese Beratungsform geht davon aus, dass sie erstens keinen direkten Zugriff auf die Operationen des zu beratenden Systems hat. Zweitens ist sie sich der Tatsache bewusst, dass sie keine „besseren“ Lösungen anbieten kann, als das Klientensystem selbst formulieren kann. Gerade diese Haltung befähigt die systemische Beratung zur Beratung: Die Aufgabe von Beratung ist in ihrem Verständnis nicht die Aufhebung eines Problems, sondern die Irritation des beratenen Systems zwecks Hilfe zur Selbsthilfe.

Thomas Stucki studierte Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften, Sozialanthropologie und Journalistik an den Universitäten Freiburg und Luzern. Vorliegender Artikel basiert auf seiner Bachelorarbeit ‚Von Krähen und Landkarten. Zur Paradoxie von Organisationsberatung‘. th.stucki(at)vtxmail.ch

Literaturauswahl:

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Mingers, S. (1996): Systemische Organisationsberatung. Eine Konfrontation von Theorie und Praxis. Frankfurt/M.
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«Deshalb ist er [der Arme] im sozialen Sinn erst arm, wenn er unterstützt wird. (…) Soziologisch angesehen ist nicht die Armut zuerst gegeben und daraufhin erfolgt Unterstützung (…), sondern derjenige, der Unterstützung geniesst (…), dieser heisst der Arme»

Simmel, Georg (1992 [1908]): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 551.