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soziologie.ch soz:mag#9 "ich dachte, wir bleiben nur ein paar wochen in der schweiz."

"ich dachte, wir bleiben nur ein paar wochen in der schweiz."

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Geschichte einer Flucht aus Sarajewo nach Steinbach im Eutal – eine etwas andere akademische Karriere

Zvezdana Lovric war Dozentin für Psychologie und Pädagogik an der Universität Sarajevo. Zusammen mit ihrer Tochter und ihrer Mutter kam sie 1992 als Flüchtling in die Schweiz und begann, sich hier ein neues Leben aufzubauen. Weil nur ihr Pflegediplom, das sie vor ihrem Studium erwarb, anerkannt wurde, arbeitet sie heute als Krankenpflegerin in einem Altersheim. Zvezdana Lovric erzählt von kaum wahrgenommenen Spannungen vor Kriegsausbruch in Sarajevo, von ihrer Flucht und dem schwierigen Fussfassen in der Schweiz.

SOZ-MAG Interview: Marc Höglinger und Nina Hössli

„Zusammen mit meiner Tochter und meiner Mutter kam ich in einem Bus mit bosnischen Flüchtlingen am 1. August 1992 in der Schweiz an. Als wir ausstiegen, ging gerade ein Feuerwerk los, ein grosses, schönes über dem See. Alle warfen sich voller Angst auf den Boden, einige suchten Schutz unter dem Bus, weil wir meinten, dass es wieder Granaten und Heckenschützen seien.

Sarajevo hatten wir einige Monate früher in einem Konvoi mit Frauen und Kindern, der über serbisches Gebiet nach Kroatien fuhr, verlassen. Damit die serbische Armee uns gehen liess, musste ich meine Wohnung ‚verschenken‘. In Kroatien bekam ich keine Arbeit, und als ich von einer Aktion hörte, bei der bosnische Familien in die Schweiz reisen können, entschlossen wir uns, mitzugehen. In der Schweiz lebten wir zuerst mit vielen anderen bosnischen Flüchtlingen in einem Heim in Steinbach bei Eutal. Ich dachte, dass wir nur ein paar Wochen in der Schweiz bleiben und so schnell wie möglich wieder nach Hause gehen würden. Aber es wurde immer schlimmer in Sarajevo, und langsam realisierte ich, dass wir länger hier bleiben werden. Für mich als allein erziehende Mutter waren die Flucht und die erste Zeit in der Schweiz sehr schwierig. Ich war auf mich alleine gestellt und hatte keine Unterstützung durch einen Partner. Meine Tochter war noch klein, und meine Mutter hatte gesundheitliche Probleme.

Ich wollte mir und meiner Familie möglichst schnell ein normales Leben ermöglichen; eine Arbeit ist dafür das Wichtigste. Doch auf alle meine Bewerbungen bekam ich wegen meines damaligen Aufenthaltsstatus F [vorläufige Aufnahme] nur Absagen. Das war die schwierigste Zeit für mich, ich fühlte mich nutzlos und abhängig. Also fing ich mit Freiwilligenarbeit an. Zuerst gab ich in einer Schule in Oberiberg gratis Nachhilfeunterricht, dann half ich in einem kleinen Laden in Einsiedeln und später in der Asylorganisation. Auch wenn ich nichts verdiente, war ich froh darüber, denn so kam ich in Kontakt mit Leuten, konnte helfen und Deutsch lernen.

1997 kam dann die Nachricht, alle Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina müssten zurückkehren. Meine Tochter hatte damals gerade das Gymnasium begonnen, meine Mutter war alt und krank. Ohne eine Wohnung, ohne soziales Netz – alle unsere Bekannten waren aus Sarajevo weggegangen oder gestorben – und als Kroatin, noch dazu in meinem Beruf, sah ich für uns keine Chance mehr in Sarajevo. In einer Gruppe mit anderen allein erziehenden Müttern kämpfte ich darum, hier bleiben zu können. Schliesslich bekamen wir 2001 eine B-Bewilligung, die humanitäre Aufnahme. In dieser Zeit fand ich endlich eine bezahlte Stelle als Pflegerin in einem Altersheim. Ich war froh, dass ich wieder richtig arbeiten konnte und nicht mehr von der Sozialhilfe abhängig war. Seit fünf Jahren arbeite ich nun dort und ich bin sehr dankbar für diese Chance. Denn egal was es für eine Arbeit ist, Hauptsache, man kann überhaupt arbeiten und davon leben.

Meine Tochter hat mittlerweile das Gymnasium beendet und ihr Studium in Zürich begonnen. Sie ist kürzlich Schweizerin geworden – und ich möchte dort sein, wo meine Tochter lebt, und das ist hier. Sarajevo hat sich durch den Krieg und in der Zeit danach stark verändert. Vor dem Krieg gab es in fast jeder Familie gemischte Ehepaare. Es gab verschiedene Nationalitäten, ein Gemisch von Religionen. Wegen dem Krieg haben viele die Stadt verlassen, heute wohnen ganz andere Leute da. Ich fühle mich nicht mehr zu Hause in Sarajevo.

Früher hatte ich ein gutes Leben dort, und wie viele andere auch spürte ich nicht, dass ein Krieg kommen würde. Auch noch während des Krieges in Slowenien und Kroatien dachte ich, es sei nicht möglich, dass auch in Bosnien-Herzegowina Krieg ausbrechen würde. Es ist anders gekommen. Vielleicht wollte ich das nicht wahr haben, vielleicht war ich zu sehr Idealistin. An der Universität bemerkten wir nichts. Es gab dort zwar Nationalisten, aber mit denen wurde gar nicht gesprochen. Man spricht halt mit den Leuten, die in etwa die gleiche Meinung haben. Vielleicht habe ich das deshalb nicht realisiert. Zum ersten Mal bewusst wurden mir die Spannungen unmittelbar vor Kriegsausbruch, als ich mich für eine neue Stelle bewarb und meine Bewerbung aus fadenscheinigen Gründen abgelehnt wurde. Doch selbst da dachte ich, dass sich das wieder ändern würde.

Die Situation heute in Bosnien-Herzegowina ist noch lange nicht gut. Jeder der konnte oder kann, verlässt Sarajevo, verlässt Bosnien-Herzegowina. Es gibt keine richtige Wissenschaft mehr, keine Industrie, keine Zukunft für junge Leute. Dafür Armut, Drogen, Prostitution und Korruption. Die Universitäten sind über das ganze Land verstreut, aufgeteilt nach Nationalitäten. Es gibt keine Kooperation zwischen ihnen und kein Interesse an einer Zusammenarbeit. Der Nationalismus dominiert alles.

Normal zu leben ist für mich schwierig nach diesem Krieg. Das Leben hat seither ganz andere Regeln. Du denkst immer an den Krieg und an das, was du erlebt hast. Ich bin froh, dass ich gut für meine Familie sorgen kann. Ich helfe auch gerne anderen Leuten. Aber ich fühle mich nicht mehr gleich wie früher. Ich kann nicht mehr in meinem alten Beruf arbeiten und meine Stellung ist heute eine andere. Aber ich bin dankbar, dass ich hier eine kleine Chance habe.

In der Schweiz habe ich viele gute Menschen kennengelernt von denen ich viel moralische Unterstützung erfahren durfte. Ein Gespräch, ein schöner Nachmittag, Blumen – dafür bin ich dankbar. Allerdings durfte ich lange Zeit nicht arbeiten und meinen ursprünglichen Beruf als Dozentin oder als Psychologin werde ich hier nie ausüben können. Von manchen Personen wurde ich jahrelang gemieden, da ich Ausländerin bin. Das Gefühl, dass man immer fremd bleibt, ist belastend. Aber man lernt, damit zu leben und macht das Beste daraus. Im Grossen und Ganzen bin ich dennoch zufrieden.“

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«The sick person is, by definition, in some respect disabled from fulfilling normal social obligations, and the motivation of the sick person as being or staying sick has some reference to this fact.»

Talcott Parsons (1951) in: American Journal of Orthopsychiatry