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networking im internet-zeitalter

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Neue Praktiken des online-gestützten Netzwerkens und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen

Im Internet sind derzeit Anwendungen im Trend, welche es den Nutzern ermöglichen, ihr soziales Netzwerk abzubilden und zu erweitern – sogenannte „Social Software“. Dabei eröffnen sich hinsichtlich Aufbau und Pflege des persönlichen Beziehungsnetzes neue Handlungsmöglichkeiten. Anhand von explorativen Interviews mit Nutzern der Business-orientierten Plattform openBC wurden die im Entstehen begriffenen Praktiken des online-gestützten Netzwerkens untersucht. Das Ergebnis: Online-Networking wird in den allermeisten Fällen nicht ganzheitlich betrieben, bietet dem Einzelnen aber in Ergänzung zu traditionellen Formen der Kontaktpflege erhebliche Vorteile. Und: Auch auf der untersuchten Business-Plattform sind die Beziehungsgeflechte eher privater als geschäftlicher Natur.

SOZ-MAG Beitrag von Florian Renz

Wenn ein Hochschulabsolvent auf der Suche nach einer Einstiegsposition ist oder wenn es für einen Geschäftsmann gilt, einen ausgeschriebenen Auftrag an Land zu ziehen, dann ist oftmals „Vitamin B“ gefragt: Man lässt über Bekannte, Freunde und Verwandte seine Beziehungen spielen, und aktiviert Kontakte, um sich gegenüber seinen Mitbewerbern einen Vorteil zu verschaffen. War früher noch eher abfällig von „Seilschaften“ und „Vetternwirtschaft“ die Rede, so hält seit einiger Zeit der Begriff des „Networkings“ in unseren Sprachgebrauch Einzug. Damit ist ganz allgemein das zielgerichtete Ausbauen des persönlichen sozialen Netzwerks gemeint sowie die regelmässige Pflege der gewonnenen Kontakte. In der soziologischen Theorie ist die Einbettung in ein soziales Beziehungsgeflecht („soziales Netzwerk“), welches die Mobilisierung von Ressourcen ermöglicht, als „Sozialkapital“ bekannt: Erfolgreiches Networking erhöht das Sozialkapital.

Social Software im Networking-Prozess

Die in den letzten Jahren wachsende Bedeutung des Mediums Internet drückt sich auch in der Entwicklung neuer Online-Anwendungen aus, die darauf ausgerichtet sind, soziale Netzwerke darzustellen und zu erweitern. Relativ neu ist der für solche Technologien geprägte Sammelbegriff der „Social Software“. Im Wesentlichen gehören dazu Weblogs, Wikis und „Social Network Sites“. Bei Weblogs handelt es sich um regelmässig aktualisierte Websites, die Einträge in chronologisch umgekehrter Reihenfolge enthalten und untereinander stark vernetzt sind – sowohl aus einer technischen Perspektive, indem die einzelnen Einträge, Kommentare und Trackbacks [1] stark untereinander verlinkt sind, als auch aus einer sozialen Perspektive, indem die Autoren persönliche Kontakte pflegen (vgl. Schmidt 2006). Auch Wikis, bei denen Webinhalte von den Benutzern nicht nur gelesen, sondern auch online verändert werden können [2], zeichnen sich durch eine hohe Vernetzung aus, da die einzelnen Artikel, aber auch ihre Autoren, mittels Querverweisen miteinander verbunden sind. Darüber hinaus gibt es eigene Applikationen, welche die verschiedenen Wikis wiederum untereinander vernetzen (vgl. Röll 2005).

Am deutlichsten tritt das Phänomen der Vernetzung bei den Social Network Sites zutage, bei denen die angemeldeten Mitglieder sich untereinander verknüpfen. Das seit 2003 existierende Hamburger Internetangebot Open Business Club, kurz „openBC“, ist eine dieser Social Network Sites, die sich in den letzten Jahren zahlreich entwickelt haben und das soziale Netzwerk eines Individuums zumindest teilweise abbilden können. Dies geschieht durch die Visualisierung der Kontakte der einzelnen Teilnehmer, die sich untereinander als Bekannte bzw. Freunde deklarieren. Über Visualisierungspfade können die Nutzer – in Anlehnung an das bekannte „Small World“-Phänomen (Milgram 1967), nach dem einzelne Mitglieder grosser sozialer Netzwerke nur durch wenige Schritte miteinander verbunden sind – feststellen, dass sich die Mitglieder zumindest indirekt kennen.

Im Falle von openBC vernetzen sich inzwischen über eine Million Menschen weltweit – das Business-orientierte Angebot steht nach eigenen Angaben mittlerweile in 16 Sprachen zur Verfügung und wird von Mitgliedern aus 200 verschiedenen Nationen genutzt.

Neue Networking-Praktiken

Statt sich auf Visitenkartenpartys durch Dritte einander vorstellen zu lassen, können Geschäftsleute dies nun auch per openBC tun. Ebenso bieten die technischen Möglichkeiten dem Nutzer auch neue Optionen. So kann mit den anderen Mitgliedern auf verschiedene Arten kommuniziert und in speziellen openBC-Foren Wissen ausgetauscht werden. Jeder Anwender verfügt zudem über eine Profilseite, die über die eigene Person informiert und gleichzeitig direkte und indirekte Verbindungen zu anderen Mitgliedern anzeigt.

Die technische Ausgestaltung der Plattform bietet dem Nutzer demnach neue Handlungsoptionen, die unter Umständen alte Handlungsroutinen ergänzen oder sogar ersetzen können. Letzteres wäre beispielsweise dann der Fall, wenn mit der Verwendung dieser neuartigen Social Network Sites neue Praktiken des Networkings entstünden – wenn die openBC-Anwender die Plattform rege dazu nutzen würden, um neue Kontakte zu knüpfen, und so ihr Sozialkapital, also ihre Einbettung ins soziale Gefüge, erheblich verbessern könnten.

Die Realität sieht jedoch anders aus: Im Rahmen meiner Diplomarbeit wurden zahlreiche leitfadengestützte Interviews mit Nutzern von openBC durchgeführt, welche ergaben, dass das Generieren von neuen Kontakten eher zweitrangig ist und die Anwender vor allem bereits aus der Offline-Welt bestehende Kontakte pflegen. Die Mehrzahl der Befragten gab an, dass sie über erheblich mehr Kontakte aus der Offline-Welt als aus der Online-Welt verfügen [3].

Für den Grossteil der Nutzer ist openBC vor allem eine praktikable Form eines sich aktualisierenden Adressbuches. So sei das Generieren von Geschäftsbeziehungen nicht ihre Hauptmotivation, openBC zu nutzen. Oftmals sei das Verwalten von bereits bekannten Kontakten der wichtigere Grund, openBC zu verwenden. Dort finden folglich vermehrt einander bekannte Personen zueinander, deren Beziehungen zudem eher im privat-freundschaftlichen als im geschäftlichen Bereich anzusiedeln sind.

Versteht man Networking in einer ganzheitlichen Definition, die sowohl die Pflege bereits geknüpfter Kontakte als auch das Generieren neuer Kontakte beinhaltet, so wird deutlich, dass in openBC Networking nur teilweise stattfindet. Dies steht in Kontrast zur Idealvorstellung, dass mit Hilfe von Business-orientierten Social Network Sites in grossem Masse neue Kontakte generiert und damit auch neue Kundenkreise und/oder Aufträge an Land gezogen würden. Die meisten Befragten gaben nämlich an, via openBC bisher keine Geschäftsbeziehungen geknüpft, oftmals aber interessante Kontakte aufgebaut zu haben, von denen sie sich einen künftigen Nutzen versprechen. Statt durch neue Verbindungen konkrete Verhandlungen anzustreben, werden Kontakte folglich eher generiert, um eine „Nutzenreserve“ aufzubauen, aus der in Zukunft bei Bedarf geschöpft werden kann. Dies entspricht dem Aufbau von Sozialkapital.

Verschiedene Nutzer – unterschiedliche Nutzung

Daraus zu schliessen, dass openBC nur halbherzig genutzt wird, wäre jedoch vorschnell, da zwei verschiedene Nutzertypen existieren: Zum einen die Anwender, die von sich behaupten, openBC eher passiv und unregelmässig zu nutzen, zum anderen Anwender, die das Networking in openBC nach eigener Aussage aktiv und regelmässig betreiben. Diese Einteilung korreliert stark mit der Unterscheidung zwischen dem Status der kostenfreien Mitgliedschaft und dem Status der Premium-Mitgliedschaft, die gegen eine monatliche Gebühr erweiterte Funktionalitäten bietet. Interessanterweise herrscht in beiden Gruppen eine geringe Bereitschaft, den Mitgliedschaftsstatus zu wechseln.

Betrachtet man allerdings den Durchschnittsnutzer, so ist nicht nur die Nutzung der Plattform eingeschränkt, sondern auch die Erwartungen an openBC sind eher gering. Sie beschränken sich auf Aspekte, die mit den technischen Möglichkeiten der Plattform einhergehen, wie das erleichterte Kontaktmanagement und die Suchfunktionalitäten, die das Auffinden von potentiell interessanten Kontakten deutlich erleichtern.

So sind die Nutzer generell der Auffassung, dass die Plattform für eine erste Kontaktnahme durchaus geeignet, für die Ausweitung einer geschäftlichen Beziehung jedoch der direkte persönliche Kontakt mit dem potentiellen Geschäftspartner unvermeidlich sei. openBC kann nach Aussagen der Nutzer den herkömmlichen Networking-Prozess nicht ersetzen. Die meisten Befragten sehen in der Plattform eher eine Ergänzung und Unterstützung ihrer übrigen Networking-Aktivitäten.

openBC-Networking im Offline-Bereich

Vermehrt wird das Online-Networking auch durch so genannte „openBC-Treffen“ ergänzt. Dabei handelt es sich um Veranstaltungen, die von openBC-Mitgliedern in vielen Städten nach dem „bottom-up“-Prinzip zum Zwecke des Networkings organisiert werden. Mittels mehrerer teilnehmender Beobachtungen wurden diese Treffen analysiert, wobei ähnliche Tendenzen wie beim Online-Networking festgestellt wurden. Vor allem bei Veranstaltungen, an denen mehrere hundert Personen teilnehmen, finden sich wiederum einander bekannte Gruppen zusammen, deren Praktiken auf eine hohe Vertrautheit untereinander schliessen lassen. Nicht nur in openBC selbst, sondern auch auf den von den Teilnehmern in die Offline-Welt ausgelagerten Treffen, finden mehr private, nicht geschäftsorientierte Aktivitäten statt, als man annehmen würde.

Aus den Aussagen von Teilnehmern der Treffen, aber auch aus den Ergebnissen der Nutzerbefragung geht dennoch hervor, dass es sich bei den openBC-Treffen um eine Fortführung der Networking-Prozesse auf der Online-Ebene handelt. So kann der für Geschäftsbeziehungen oft notwendige persönliche Kontakt bei diesen Veranstaltungen geschlossen werden. Diese Verknüpfung der Online- und der Offline-Ebene wird von einigen aktiven Nutzern als äusserst wertvoll eingestuft.

Online-Networking als ideale Ergänzung

Aus den Erhebungen geht hervor, dass openBC einen sozialen Raum bildet, in dem Praktiken des Networkings ausgeübt werden und neue Nutzungsroutinen entstehen, die bisher gängige Praktiken ergänzen.

Versucht man die zentrale Motivation zu benennen, über openBC Networking zu betreiben, so ist nach den Ergebnissen der Nutzerbefragung zwar zu konstatieren, dass der Auf- und Ausbau von Sozialkapital an vorderster Stelle steht, allerdings in unterschiedlichem Ausmass. Neben einer Gruppe von Anwendern, die openBC nur passiv und unregelmässig nutzen und in der Plattform nicht viel mehr als ein digitales Adressbuch sehen, gibt es eine zweite Gruppe, die das Online-Networking zwar erheblich aktiver, aber auch nur in den wenigsten Fällen online „ganzheitliches Networking“ betreibt, also neue Kontakte generiert und bereits bekannte Kontakte pflegt. Ebenso wenig ist openBC eindeutig als geschäftlich-orientierte Social Network Site zu deuten, denn zu viele Praktiken, die auf private Bekanntschaften ausgerichtet sind, werden ausgeübt.

Vielmehr scheinen die Networking-Praktiken in openBC nur ein Element übergeordneter Praktiken zu sein, die auf ein „Mehr-Ebenen-Networking“ hindeuten: Traditionelle Mechanismen der Kontaktpflege werden mit den neuen Optionen des Online-Networkings verbunden, die openBC und die dazugehörigen Treffen bieten. Nach Aussage einiger Anwender bilden die neuen Elemente die ideale Ergänzung zum traditionellen Networking, dessen kompletten Wegfall keiner der Nutzer erwartet.

Individuelle und gesellschaftliche Konsequenzen

Wie der Begriff der Social Software neu ist, so sind auch die meisten darunter subsumierten Angebote äusserst jung. Im Anschluss an Theoretiker wie Barry Wellman (2000) oder Manuel Castells (2001) lässt sich Social Software als weiterer Katalysator für das Entstehen einer „Netzwerkgesellschaft“ deuten. In dieser Organisationsform verlagert sich, Castells zufolge, der soziale Austausch zwischen Akteuren zunehmend in Netzwerke, die delokalisiert organisiert sind, deren Teilnehmer sich aber durch die neuen Kommunikations- und Informationstechnologien über grosse Distanzen hinweg austauschen können. Der potentielle Transfer von Networking-Praktiken aus dem Offline- in den Online-Bereich entspricht den Prognosen Castells für die weitere Ausgestaltung der Netzwerkgesellschaft.

Social Network Sites, wie das diskutierte Angebot openBC, erleichtern dem Einzelnen die Pflege und die Erweiterung des eigenen sozialen Netzwerkes, besonders dann, wenn die Online-Networking Praktiken mit traditionellen Networking-Formen kombiniert werden. Ihre Nutzer können sich gegenüber anderen Personen einen Vorteil verschaffen, weil sie in der Lage sind, ihr soziales Netzwerk auszubauen und damit das verfügbare Sozialkapital zu steigern.

Die Entwicklung im gesamten Bereich der Social Software könnte demnach die „Digitale Spaltung“, die Kluft zwischen Internet-Nutzern und Internet-Nichtnutzern, weiter erhöhen. Dies kann zum sozialen Problem werden, vor allem deswegen, weil die Kluft zwischen Onlinern und Offlinern entlang anderer gesellschaftlicher Spaltungen, wie dem Alter und dem Bildungsniveau, verläuft.

[1] Als „Trackback“ wird in der Blogger-Sprache eine Software-Funktion bezeichnet, mit der in Weblogs automatisch auf Reaktionen bzw. Kommentare verwiesen werden kann.

[2] Eines der wohl bekanntesten Beispiele für die Verwendung von Wiki-Software ist die Online-Enzyklopädie „Wikipedia“ (www.wikipedia.org).

[3] Die Angaben zur mengenmässigen Verteilung der verschiedenen Nutzergruppen sind mit Vorsicht zu geniessen. Da die Untersuchung auf einem qualitativen Ansatz beruht, ist die statistische Repräsentativität nicht gewährleistet.

Florian Renz hat unlängst sein Soziologiestudium an der Otto-Friedrich Universität Bamberg abgeschlossen. Mit der Nutzung von Social Software beschäftigte er sich anlässlich seiner Diplomarbeit „Praktiken des online-gestützten Netzwerkens am Beispiel von openBC“ und im Rahmen seiner Arbeit an der Forschungsstelle für neue Kommunikationsmedien an der Otto-Friedrich Universität Bamberg (Weblog der Forschungsstelle unter www.fonk-bamberg.de).

Literaturauswahl:

Castells, M. (2001): Bausteine einer Theorie der Netzwerkgesellschaft. In: Berliner Journal für Soziologie, Jg. 11, Nr. 4, S. 423-439.
Milgram, S. (1967): The Small-World Problem. In: Psychology Today, Nr. 5, S. 62-67.
Röll, F.-J. (2005): Blogs und Wikis – Stachel der Netzwerkgesellschaft. In: Felsmann, K.-D. (Hg.): Buckower Mediengespräche. Aufklärung im Zeitalter virtueller Netze. München, S. 29-36.
Schmidt, J. (2006): Weblogs. Eine kommunikationssoziologische Studie. Konstanz.
Wellman, B. (2000): Die elektronische Gruppe als Netzwerk. In: Thiedeke, U. (Hg.): Virtuelle Gruppen, Wiesbaden. S. 134-167.

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«Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.»

Ludwig Wittgenstein (1980 [1921]): Tractatus logico-philosophicus. In: Wittgenstein, Ludwig: Schriften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 83.