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soziologie.ch soz:mag#9 das aufbrechen des "subjekts"

das aufbrechen des "subjekts"

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Identitätskritik und Subjektkonstitution

Von „Subjekt“ wird gesprochen, um auf jene Form zu verweisen, in welcher das menschliche Wesen als ein gesellschaftliches erscheint. Das Aufbrechen des „Subjekts“ ist in einem doppeldeutigen Sinne zu verstehen: Es meint einerseits ein Zerbrechen starrer Identitäten und kategorialer Einteilungen und andererseits ein Ausbrechen des Einzelnen aus diesen reglementierenden Umständen. Allerdings wird der Begriff des „Subjekts“ nichts desto trotz als Denkbestimmung oder Reflexionskategorie gebraucht, um überhaupt von gesellschafts- und erkenntnistheoretischen Dingen sprechen zu können und, nicht zu vergessen, um politisches Handeln zu organisieren. Der Versuch, diese Problematik auszuloten, ereignet sich – mittels den Ansätzen von Nietzsche, Marx, Adorno und Foucault – in einem Wechselspiel von Konstitution und Kritik, jenseits von Erstarrung in dogmatischer Identität oder beliebigem Relativismus.

SOZ-MAG Beitrag von Lucas Gross

Ausgehend von der Forderung einer Selbstreflexion der Moderne und dem Tod fester Referenzen, stehen wir vor einer kompromisslos nachmetaphysischen Zukunft. Was nicht heissen soll, dass in einer sich vielleicht emanzipierenden Gesellschaft das Geschichten-Erzählen, die Suche nach beruhigenden Klarheiten, sich erübrigen würde, sondern zugunsten einer Selbstillusionierung im Sinne „des Rausches“ und „des Schönen“ oder einer „Ästhetik der Existenz“ sich wandeln müsste – ohne mehr bloss Ideologisierung zu sein. Dass Geschichte und gesellschaftliches Dasein einen vorbestimmten und metaphysischen Sinn haben sollen, erscheint lächerlich: Das Auftreten von Zielen und Zwecken in der Wirklichkeit ist auf konkrete „Subjekte“ zurückzuführen, d.h. losgelöst von ihnen gibt es keinen Sinn, und damit ist auch keine teleologische Endzweckvorstellung angebracht. Die Orientierung am endlichen Menschen bedarf keiner metaphysischen Letztbegründung und fordert stattdessen ein kritisches Urteil über die jetzige kapitalistische Gesellschaft und die konkret in ihr lebenden Menschen.

„Was nur Werth hat in der jetzigen Welt, das hat ihn nicht an sich, seiner Natur nach, – die Natur ist immer werthlos: – sondern dem hat man einen Werth einmal gegeben, geschenkt und wir waren diese Gebenden und Schenkenden! Wir erst haben die Welt, die den Menschen Etwas angeht, geschaffen!“ (Nietzsche). Damit wird nicht nur die Möglichkeit postuliert zu erschaffen, was sein soll, sondern es soll auch explizit die politische Forderung erhoben werden, nach dem „Tod Gottes“ und dem „Tod des Menschen“ an Kritik als Programm der Selbstreflexion festzuhalten, um im Sinne Marx‘ „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ Wir stürzen uns dabei, ohne jedoch zu fallen, vielleicht mit einigem Stolpern, in eine Kritik an Substanzen und Unvermitteltem jenseits von Finalisierungen, Ursprungsdenken, zentristisch-hierarchischer Organisation und totalitären Zuschreibungen. Doch: Wie ist dann Theorie noch möglich? Wie lässt sich der Begriff des „Subjekts“ nun verwenden?

Die Setzung „Subjekt“ fungiert bloss als abgekürzte Formel oder als Hypothese, welche uns das Erfassen und Bearbeiten der Thematik ermöglicht. Es ist eine Erfindung und ein Geschaffenes, damit eine Fiktion, die jedoch als begriffliche Denkbestimmung oder Reflexionskategorie ihre Dienste leistet. Das jeweils als „Subjekt“ Identifizierte ist ein vermitteltes und aufgeschobenes, nicht einholbar durch eine abschlusshafte Bestimmung. „Subjekt“ wird als ein Verhältnis aufgefasst, als Vermittlungskategorie und temporäre Organisation. Als Ausdruck der Kristallisation von verschiedenen aufeinandertreffenden und sich verbindenden Momenten ist es unterworfen und hervorbringend, aber nicht als fester Punkt präsent. Es konstituiert sich fortwährend aus dieser Dynamik von dezentrierten Momenten und ist somit nicht als zentrierte Einheit, von welcher die alles konstituierende Wirkung ausgeht, zu verstehen. „Subjekt“ als einen Punkt oder als ein stillgelegtes Resultat gibt es nicht, oder gäbe es allenfalls zu kritisieren. Damit wird immer schon eine Kritik an hegemonialen Sozialisations- und Subjektivierungspraktiken gemeint, um neue Denk- und Handlungsräume zu eröffnen, d.h., um „neue Formen der Subjektivität zustande (zu) bringen“ (Foucault). Der Begriff „Subjekt“ impliziert somit nichts Festes, Substanzielles oder Ursprüngliches, und darf also nicht ontologisch als Träger eines „Ichs“, als in diesem Sinne zugrunde liegend, missverstanden werden. „Subjekt“ ist eine Setzung, die nicht zu verabsolutieren ist: An der Arbeit mit Begriffen wird zwar festgehalten, um dem Besprochenen Ausdruck zu verleihen. Jedoch müssen Begriffe gegen ihre wesenhafte Totalisierung und einheitsstiftenden Ansprüche kritisiert werden. Adornos Diktum, „mit dem Begriff über den Begriff“ hinauszugehen, leistet hierzu den kritischen Impetus.

Die folgenden Abschnitte beruhen auf drei Aspekten: Da Gesellschafts- und Erkenntnistheorie nicht zu trennen sind, steht erstens die historische Konstitution eines realgesellschaftlich-historischen „Subjekts“, d.h. seine Hervorbringung in konkreten Verhältnissen, im Vordergrund. Zweitens gilt es Kritik zu üben am identisch-zurüstenden Typus von „Subjekt“ selbst. Drittens wird der erkenntnistheoretische Aspekt des Vermögens der subjektiven Vernunft fokussiert. Diese Aspekte stellen konstellativ den Problemzusammenhang dar.

Soziales Feld und Vermittlung

Wie muss der gesellschaftlich-geschichtliche Vermittlungszusammenhang gefasst werden, innerhalb welchem die Einzelnen sich hervorbringen und hervorgebracht werden? – Das menschliche Wesen wird „Subjekt“, insofern es sich durch Objektivation und Auseinandersetzung in einem Möglichkeits- und Erfahrungsraum formt. Sich im gesellschaftlichen Raum zu entwickeln, bedeutet immer, sich innerhalb von bestimmten Produktionsverhältnissen, Disziplinen und diskursiven Zusammenhängen zu bewegen. Es ergeben sich Techniken des Umganges und Verhaltensanforderungen sowie Ordnungscodes für den Zugriff auf die Welt. Wir erlangen Kommunikation und werden als verständliche und identifizierbare Einheiten einen Umriss erhalten, welcher fassbar und einsetzbar sich für den sozialen Austausch eignet. Dieser Artikel wird es bei einer theoretischen Skizze über den Wirkungszusammenhang bei der Hervorbringung eines „Subjekts“ belassen, ohne die in einer Kultur wirkenden Wissensbereiche, Normativitätstypen und Subjektivitätsformen konkret ansehen zu können.

Schon ein kritischer Materialismus verstand, dass „das gesellschaftliche Verhältnis ‚des Menschen zum Menschen‘ (...) zum Grundprinzip der Theorie“ (Marx) zu machen sei. Der Modus des sozialen Verkehrs bestimmt die Konstitution des Einzelnen in einem historisch-gesellschaftlichen Lebenszusammenhang. Daran zeigt sich, wie der Einzelne sich formt, sich verhält und formend wirkt, wie dieser wahrnimmt und auf sich einwirken lässt. Was wir „Welt“ oder „Gesellschaft“ nennen, ist Resultat und ein historisches Produkt wirkender Subjekte und nichts von Ewigkeit her Gegebenes. Deshalb kann geschlossen werden, dass „es vielmehr der Mensch (ist), der wirkliche, lebendige Mensch, der das alles tut, besitzt und kämpft; es ist nicht etwa die ‚Geschichte‘, die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre (...) Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen“ (Marx). Nicht bloss „Zwecke“ oder „Ideen“, sondern Menschen, die Zwecke und Ideen in ihrem realen Lebensprozess hervorbringen, machen die geschichtliche Wirklichkeit und damit sich selbst. Es kann bekanntlich nach Marx in einem dialektischen Sinne geschlossen werden, „dass also die Umstände ebensosehr die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen.“ Die Einzelnen stehen in ständiger Auseinandersetzung mit anderen „Subjekten“, um die jeweiligen Dinge der Bedürfnisbefriedigung und der Selbstverwirklichung zu erhalten, da sie im Produktionsprozess „fortdauernd in einem werktätigen Umgang unter sich und mit diesen Dingen stehen und bald auch im Kampf mit anderen um diese Dinge zu ringen haben“ (Marx). Diese Auseinandersetzungen ereignen sich in Form von Vorstellen, Verstehen, Wollen, Begehren, Sich-Beziehen oder durch Leidenschaft – durch Kräfte, die in einem durch sie entstandenen sozialen Raum provozieren, sich gegenseitig affizieren, zusammenstellen und normalisieren. In diesem Sinne sind diese Kräfteverhältnisse etwas, das durchläuft, das wirkt und bewirkt, und zwar „auf der ganzen Oberfläche des sozialen Feldes“ (Foucault). Sie wirken durch die kleinsten sozialen Elemente und Beziehungen hindurch und sind somit „eine Form augenblickhafter und beständig wiederholter Zusammenstösse innerhalb einer bestimmten Anzahl von Individuen“ (Foucault). Sie schreiten fort, wandeln und organisieren sich neu, ohne eine feste Struktur zu zeitigen. Es ist also „die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren“ (Foucault). Gesellschaft, und damit die Hervorbringung des „Subjekts“, entsteht aus einem Spiel von Kräften, welche anregen, zusammenfügen und hervorrufen. Alles gesellschaftlich Hervorgebrachte ist eine Verbindung von diesen Kräfteverhältnissen, die produzieren, einwirken, konfrontieren und lenken. Wir können diese einzelnen Momente des sozialen Kräftefeldes festhalten, aber ohne eine klare ursächliche Fixierung festzumachen. Zu sehr ist alles in Bewegung, in fortschreitend differenzierendem und wechselwirkendem Austausch.

Konstitution und Identität

Als dieses Vermittelte kann das menschliche Wesen nur in seinen Vermittlungen reflektiert werden, ohne jedoch seinen Vermittlungs- und Konstitutionszusammenhang ganz abschütteln zu können. Das gesellschaftliche „Subjekt“ kann also nur als etwas Sich-Veränderndes gefasst werden, ohne dass es dabei irgend einen festen Kern oder Ursprung von „Subjekt“ freizulegen gäbe, der durch ein Spiel von Kräften unkenntlich gemacht wird. Dies würde nach Foucault die „Suche nach dem genau abgegrenzten Wesen der Sache (...), die Suche nach ihrer reinsten Möglichkeit, nach ihrer in sich gekehrten Identität, nach ihrer unbeweglichen und allem Äusseren, Zufälligen und Zeitlichen vorhergehenden Form“ bedeuten. Diese Suche wäre vergebens, denn das je vorliegende „Subjekt“ wurde Stück für Stück aufgebaut aus historischen Elementen und innerhalb bestimmter Konstellationen von Ereignissen. Sein Anfang ist nicht lokalisierbar, sein Ende nicht absehbar – es zeigt sich uns ausschnitthaft, als Teil eines schon lange Begonnenen und ohne Abschluss. Dem als „Subjekt“ festgemachten Mensch kommt nicht eine ursprüngliche Stifterfunktion zu; er steht mitten im Spiel drin.

Dies impliziert das menschliche „Wesen“ als offenes und nicht definierbares Wesen (ausser eben als offenes und werdendes), welches sich innerhalb eines jeweiligen Erfahrungshorizontes durch Auseinandersetzung bereichert und wandelt. Er ist wesentlich unfertiges und sich änderndes Resultat, fortwährendes Produkt seiner Erfahrungen und Tätigkeiten in einer bestimmten historisch-gesellschaftlichen Situation. Die Natur des menschlichen Wesens könnte höchstens als historisch Sich-Modifizierendes verstanden werden. Der Einzelne ist Naturwesen aber als ein lebendiges Wesen, dessen Natur das Werden ist. „Indem er auf die Natur ausser ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur“ (Marx). Die eigene Veränderung und jene der Umwelt sind zusammen zu betrachten. Dabei wird die Umwelt nicht als unveränderlich und bestimmt hypostasiert, sondern wird als Ergebnis einer dynamischen und dialektischen Bewegung der Praxis aufgefasst, was den gesellschaftlich-praktischen Charakter von vermeintlicher Natur und objektivem Geschichtsverlauf unterstreicht. Der Mensch ist zwar Produkt der Geschichte, aber, da die Geschichte durch ihn gemacht und bestimmt wird, ein Produkt seiner selbst. In dieser Prozesshaftigkeit birgt der Einzelne als sich verhaltendes Wesen die Möglichkeit endlos vieler Kreationen in sich. Wir können daher auch sagen, Bewusstsein und Form des „Subjekts“ hängen vom Reichtum dessen Beziehungen ab und werden wesentlich durch sinnlich-praktische Erfahrungen und Tätigkeiten generiert. „In nichts anderem als in der Zartheit und dem Reichtum der äusseren Wahrnehmungswelt besteht die innere Tiefe des Subjekts. Wenn die Verschränkung unterbrochen wird, erstarrt das Ich. Geht es, positivistisch, im Registrieren von Gegebenem auf, ohne selbst zu geben, so schrumpft es zum Punkt, und wenn es, idealistisch, die Welt aus dem grundlosen Ursprung seiner selbst entwirft, erschöpft es sich in sturer Wiederholung. Beide Male gibt es den Geist auf“ (Adorno). Trotz diesen Zuschreibungen an das menschliche Wesen ist eine Wesensanthropologie in einem engeren Sinne nicht ausmachbar: Der Mensch ist nach Nietzsche „das noch nicht festgestellte Thier“. Darin, dass er nicht festgestellt und bestimmt ist, liegt seine Freiheit, sich hervorzubringen. Die Denaturalisierung und Entmythologisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse und des menschlichen Wesens eröffnen diese Freiheit.

Derweil erscheint die Bestimmung „Subjekt“ als etwas Abgeschlossenes, etwas fest Gewordenes. Das menschliche Wesen nimmt darin Gestalt an, d.h. Ordnung und Identität erfolgen durch Zuschreibungen und Identifizierungsprozesse, die eine bestimmte Positionierung innerhalb der Welt und die Generierung von Diskursen ermöglichen. Im Verlaufe der Subjektivierung gibt sich der Einzelne als „Subjekt“ einen bewussten Status, eine Identität, die verstehbar sein muss und welche für den Einzelnen als fester Ausgangspunkt dient. Er gerinnt zu einem festen Punkt als dieses gesellschaftlich erstarrte „Subjekt“. Das menschliche Lebewesen bekommt eine sich selbst zugehörige Form, die einen Willen und eine Lebensintensität hervorruft, aber auch einen Modus der Bewertung und einen Massstab für das eigene Handeln. Dieses Gerinnen des Subjektivierungsprozesses zeichnet sich durch die Herausbildung einer inneren Instanz der Führung aus, die als Sitz der persönlichen Wahrheit die Orientierung und Handlungsfähigkeit innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen ermöglicht. In dieser Erstarrung ist die Identität des „Subjekts“ mit zweierlei Unterwerfung behaftet: Einerseits ist der Einzelne „vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen“ und andererseits „durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet“ (Foucault). Damit wird der Blick darauf gerichtet, was den Einzelnen abspaltet, absondert und „auf sich selbst zurückwirft und zwanghaft an seine Identität fesselt“ (Foucault). Zu kritisieren gilt es jene Kräfteverhältnisse und gesellschaftlichen Bedingungen, die aus den menschlichen Wesen jene unterworfenen „Subjekte“ machen.

Durch diese Einstellung wird gemäss Foucaults Analyse allem ein Ende gesetzt, was „dieser Erzeugung des Menschen durch den Menschen eine feste Erzeugungsregel, ein wesentliches Ziel vorgeben will“, denn im Verlaufe der Geschichte haben die Menschen niemals aufgehört, „sich selbst zu konstruieren, d.h. ihre Subjektivität zu verschieben, sich in einer unendlichen und vielfältigen Serie unterschiedlicher Subjektivitäten zu konstruieren. Diese Serie von Subjektivitäten wird niemals zu einem Ende kommen und uns niemals vor etwas stellen, das ‚der Mensch‘ wäre.“ Ein offenes, nicht in abgeschlossener Identität erstarrendes und in Finalität sich abschliessendes Fortschreiten im Denken und in der Selbstkonstitution setzt den Massstab der Emanzipation. Dabei erfolgt diese im Bewusstsein dessen, dass eine erstarrende Identität uns einzuholen trachtet, jedoch dem nur in der aporetischen Anstrengung, mittels Identitäten gegen Identitäten vorzugehen, entgegen gewirkt werden kann. Vielmehr soll der vermeintlich stillgelegte Einzelne aufbrechen aus der Einsperrung der Definition des Menschen als klar umrissenes und identisches „Subjekt“, um in dieser hervorgebrachten Leere neue Denkräume zu finden, ohne sie mit einem neuen Ordnungscode vereinnahmend auszufüllen. Betont wird das Prozesshafte, welches konstituiert, aber zugleich verschiebt, verformt und verwandelt und damit den Menschen in seiner Subjektivität permanent umwandelt, lernen lässt und neuen Erfahrungen aussetzt. Nach Adorno, zu dem wir nun kommen werden, lässt sich dieses Bestreben kurz fassen: „Utopie wäre über der Identität und über dem Widerspruch, ein Miteinander des Verschiedenen.“

Zugriff und Nicht-Identität

Die Welt ist nicht ohne das erfahrbar, was durch „Subjekt“ bezeichnet wird, denn dieses selbst erst macht und nimmt die Erfahrungen auf, durch die wir werden. Das „Subjekt“ ist aber, wie schon gesehen, selbst schon derart vermittelt, auch durch sich selbst, dass wir kein Festes an ihm halten können. Dies zeigt sich auch auf der Ebene der Frage nach dem Vermögen der zugreifenden Vernunft, d.h. dem Vermögen der Wahrnehmung und der Reflexion.

Ausgangspunkt ist dabei eine Kritik an der Identitätslogik der Begriffe und an einer damit einhergehenden Reglementierung von Erfahrung. Die sinnliche Eindrucksvielfalt wird unter ein begriffliches Anschauungsschema gebracht: „Nicht erkennen, sondern schematisieren, dem Chaos so viel Regularität und Formen auferlegen, als es unserem praktischen Bedürfnis genug thut“ sowie das Unbekannte und Neue zu „subsumieren, zu schematisieren, (und) zum Zweck der Verständigung, der Berechnung“ (Nietzsche) zurecht zu legen, ist die Funktion und Wirkungsweise der Begriffe. „Die Menschen distanzieren denkend sich von der Natur, um sie so vor sich hinzustellen, wie sie zu beherrschen ist. Gleich dem Ding, dem materiellen Werkzeug, das in verschiedenen Situationen als dasselbe festgehalten wird und so die Welt als das Chaotische, Vielseitige, Disparate vom Bekannten, Einen, Identischen scheidet, ist der Begriff das ideelle Werkzeug, das in die Stelle an allen Dingen passt, wo man sie packen kann“ (Adorno). Die Leistung der ordnenden Vernunft ermöglicht uns eine Auseinandersetzung mit der Welt durch einen verfügungsorientierten Eingriff: Sie lässt uns darüber sprechen, darüber austauschen. Diese Objektivierungsleistung scheint für die Selbsterhaltung und Organisation unumgänglich und kann nach der geschichtsphilosophischen Spekulation von Adorno als Urgeschichte des „Subjekts“ durch Trennung von „Subjekt“ und „Objekt“, gar als Urgeschichte der Verdinglichung angesehen werden. Denn die einhergehende Unterwerfung von allem zu Erkennenden unter das selbstherrlich identifizierende „Subjekt“ scheidet aus und rüstet zu: Damit wird aber auch der Erfahrungsraum und die Erkenntnismöglichkeit der Einzelnen selbst eingeschränkt und damit sie selbst.

In kritischer Manier bedeutet nun eine Kritik der Vernunft nicht deren Verabschiedung. Bloss ihre Souveränität als instrumentelle und damit ihre Reduktion auf eine beschränkte steht zur Disposition. Es soll korrektiv gegen das Identitätsdenken als grundlegendes Moment der Gewalt im Zuge der Subjektivierung vorgegangen werden und gegen die gesellschaftlichen Bedingungen, welche dieses Moment der Vernunft hervorbrachten und fördern. Die Erscheinung des zu Erkennenden als ein Besonderes ist durch eine Vielzahl von Eigenschaften und deren Kombinationen sowie von verschiedener Intensität geprägt. Der Anspruch des Begriffs der Erkenntnis besteht nicht im blossen Wahrnehmen, Klassifizieren und Berechnen, sondern gerade im Aufbrechen des je Unmittelbaren, vermeintlich Festen, durch eine fortlaufende Bewegung der Unterscheidung und der Negation. Die Unterschiedenheit, d.h. die Nichtidentität, soll jedoch nicht in die Identität hineingeholt und dem „Subjekt“ zugeschlagen werden, sondern es bedarf eines veränderten Zuganges zum „Objekt“ (ein solches das „Subjekt“ als zu erkennendes selbst ja ist). Auch Nichtidentität verlangt, dass am repräsentierenden Denken festgehalten wird, denn dieses ermöglicht uns, Setzungen zu tätigen und das zu bezeichnen, was uns in dieser Welt etwas angeht: Das, was sich „hinter dem Rücken“ abspielt, soll begriffen werden. Nichtidentität kann als begriffliche Bestimmung des Nichtbegrifflichen, als Grenzbegriff des Begrifflichen selbst verstanden werden. Das Bemühen um ein Bewusstsein von Nichtidentität möchte dieser gerecht werden, um ein anderes seiner selbst einzugedenken und diesem zur Sprache zu verhelfen. Das Potential, welches noch in der Sache drinsteckt, wird damit zugelassen. „Nichtidentität (ist) das Telos der Identifikation“ und somit „wäre das Nichtidentische die eigene Identität der Sache gegen ihre Identifikation“ (Adorno). Das Denken darf sich jedoch der Sache weder überantworten, noch sie vereinnahmen. Es bleibt die aporetische Bemühung, der Sache sich begrifflich-konstellativ anzunähern, um beim Begriffslosen, Einzelnen und Besonderen anzugelangen. Nach Adorno ist somit die „Erkenntnis des Gegenstandes in seiner Konstellation“ jene Erkenntnis des Prozesses, den der Gegenstand „in sich aufspeichert.“ Dem will dialektisches Denken gerecht werden. Die Aporie, dass man zu sagen versucht, was sich nicht sagen lässt, stachelt kritische Erkenntnis an. Um Dinge zu erkennen, muss über Dinge gesprochen werden, ohne sie dabei schon erkannt zu haben. Noch weniger wäre Erkenntnis im Schweigen möglich. Gegenüber einem System, einem Ersten und Festen erschüttert der „Schock des Offenen“ (Adorno). Es bleibt eine unauflösliche Spannung und ein Spiel von Reflexion und Erfahrung, von Bestimmung und Offenheit.

Von der glücklichen Verzweiflung

Das Entstehende, welches sich aus verschiedenen und zueinander in Differenz stehenden Momenten herausbildet, ist in einem Spannungsverhältnis von Werden, Augenblicken des Stillstandes, von Bezug, Transformation und Fortschreiten zu begreifen. Wie lässt aber eine derartige Dezentrierung, welche einen sich verändernden Einzelnen hervorbringt, Selbstverständnis und Handlungsfähigkeit zu? Dass damit nicht ein modisch flexibles „Ich“ gemeint sein kann, das sich den Anforderungen des konkreten Alltags und seinen Verhaltenserwartungen anpasst, ist wohl verständlich. Die Möglichkeit einer emanzipierten Subjektivierung wäre im Bewusstsein des ausgeführten Problemzusammenhanges zu versuchen. Aber eben nie als etwas Abgeschlossenes, d.h. anzustreben ist kein erstarrtes, sinnhaft-fertiges und mit sich identisches „Subjekt“. Auch diese Zeilen verkommen damit zum Zirkel, Sinn und Identität zu generieren sowie Setzungen zu tätigen, obwohl sie dessen Aufbrechen, konkret das Aufbrechen des „Subjekts“, zu forcieren trachten. Diese Aporie erfordert die Anstrengung des Reflektierens und Konstruierens, einhergehend mit der Bestimmung ihrer Grenzen. Damit bleibt für den Einzelnen die Konstitution von Existenzweisen und die Erfindung von Möglichkeiten des Lebens als künstlich werkender und als erfindender. Wir sind genötigt, Ideen und Positionen zu kreieren, nach denen sich leben lässt. Seiendes lässt sich aneignen und die Einrichtung des sozialen Zusammenlebens kann vorangetrieben werden, ohne dass man sich dabei ängstlich an ein Unmittelbares und vermeintlich Sicheres zu klammern braucht. Um dieses bewusste Machen soll es gehen in seiner Widersprüchlichkeit und in der Nichtpräsenz der Ereignishaftigkeit als das Hereinbrechen in geronnene Sinnzusammenhänge. Ob sich die Mühe lohnt, sei dahingestellt. Aber, wenn irgend etwas wie Menschlichkeit umrissen werden sollte, wäre sie wohl am ehesten hier zu finden: In der Unmöglichkeit ihrer Begründung wäre die Möglichkeit von Menschlichkeit zu suchen, wäre von ihr zu sprechen. Dabei erübrigt sich die zwanghafte Frage, wie sich denn eine kritische Gesellschaftstheorie rechtfertigen könne. Sie impliziert selbst schon den Primat eines ontologischen Denkens, d.h. eines Denkens, das sich dem Bedürfnis nach Sicherheit und Ausgangspunkt unterordnet.

Verkommt nun die alte Forderung nach Kritik selbst schon zu einem Mythos und Ursprung? Weist sie nicht Abnutzungserscheinungen auf nach langer Zeit von Aufklärung und Gesellschaftskritik? Ist sie blosser Ausdruck zweckoptimistischer Hoffnung auf eine freiere Welt? Vielleicht. Aber die Welt könnte wegen ihrer Unbestimmtheit anders sein. Die Unnachgiebigkeit der Theorie bleibt deshalb von Nöten und kann als Kritik der Identität, als Kritik des Totalitären, Geschlossenen, Systemischen und Verabsolutierenden in die Repressivität integrierender gesellschaftlicher Entwicklungen eingreifen. Für die Qualität des Bewirkten gibt es jedoch keine essentielle Vorentscheidung und für dessen Gelingen keine Garantie. Eine pragmatisch-praktische Forderung und Herangehensweise bleibt aber bestimmend, ohne die Dialektik von Verbindlichkeit und Ereignishaftigkeit aufzugeben und ohne in einer auswegslosen Zwanghaftigkeit zu verharren. Theorie ist keine bloss theoretische Übung, sondern impliziert immer schon eine Verhaltensweise. Selbst an den Abgründen soll getanzt werden – dies ist die kritische Praxis dialektischen Denkens.

Lucas Gross studierte bis Herbst 2005 Soziologie, Philosophie und VWL an der Universität Zürich. Zur Thematik des vorliegenden Artikels hat er seine Lizenziatsarbeit geschrieben. lgross(at)soziologie.ch

Literaturauswahl:

Adorno, Th. W. (1997): Die Aktualität der Philosophie. In: GS Bd. 1, Suhrkamp Verlag.
Adorno, Th. W. (1997): Zu Subjekt und Objekt. In: GS Bd. 10.2, Suhrkamp Verlag.
Foucault, M. (1997): Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Suhrkamp Verlag.
Foucault, M. (1994): Das Subjekt und die Macht. In: Dreyfus, H. L.; Rabinow, P.: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik; Beltz Athenäum Verlag.
Marx, K. (1981): Ökonomisch-philosophische Manuskripte. MEW Ergänzungsband I; Dietz Verlag.
Nietzsche, F. (1999): Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. Kritische Studienausgabe Bd.1.

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«Die Welt ist alles, was der Fall ist.»

Ludwig Wittgenstein (1980 [1921]): Tractatus logico-philosophicus. In: Wittgenstein, Ludwig: Schriften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 11.