soziologie.ch

 
  • Increase font size
  • Default font size
  • Decrease font size
soziologie.ch soz:mag#3 wieder arbeiten?

wieder arbeiten?

E-Mail

Strategien zur Bewältigung der Frühpensionierung

Im letzten Jahrzehnt trat fast ein Drittel aller Erwerbstätigen frühzeitig in den Ruhestand über. Längst nicht alle freiwillig. Was tun, wenn einem der eigene Betrieb nicht mehr braucht? Frau Oberli arbeitet als Telefonistin im Verkauf von Inseraten, Herr Jutzeler betreut Mandate im Bereich Management Support. Beide wurden Ende der Neunzigerjahre auf Initiative der Swisscom hin im Alter von 50 und 56 Jahren frühpensioniert – und arbeiten wieder. Am Beispiel des Schweizer Telekommunikationskonzerns soll hier gezeigt werden, mit welchen Strategien Frührentner auf ihre Pensionierung reagieren.

SOZ-MAG von Matthias Kuert

Bei der Swisscom war im Rahmen der Umstrukturierungen der Neunzigerjahre vorgesehen, über 4000 Angestellte frühzeitig zu pensionieren. Die Swisscom repräsentiert damit einen allgemeinen Trend, der bis heute anhält. In gewissen Branchen (Verkehr und Nachrichten, öffentliche Verwaltung) betrug die Quote des vorzeitigen Ruhestands gegen 50%.

Nicht repräsentativ ist die Situation der Swisscom in zweierlei Hinsicht. Erstens waren die Angestellten einem rechtlichen und politisch besonderen Umfeld ausgesetzt: Entlassungen waren durch das Beamtenrecht bis 2000 nicht möglich. Rückstellungen, die das Parlament bewilligte um den Bundesbetrieb aus einer guten Startposition in die Privatwirtschaft zu entlassen, erlaubten es der Swisscom, gute finanzielle Abgangsbedingungen zu offerieren.

Zweitens wurden die Beschäftigten bereits im Alter ab 50 (Frauen) und 55 (Männer) pensioniert, was in dieser Form in der Schweiz ein Unikum ist. Somit stellte sich die Situation als eine Art Sozialexperiment dar: Die jungen Frührentner bewegen sich in einer gesellschaftlich wenig definierten Zone. Die frühe Pensionierung stellt einen Bruch mit den Erwartungen des Normallebenslaufs dar. Der Lebenslauf wird hier als das institutionelle Programm (Schule, Ausbildung, Arbeitsmarkt, Sozialversicherungen) verstanden, das die Bewegung der Individuen durch das Leben regelt. Er stellte ihnen bisher ein Ablaufprogramm zur Verfügung, das abhängig vom chronologischen Alter weitgehend bestimmte, in welcher gesellschaftlichen Position sie sich befinden und befinden sollten. Die Biographie dagegen ist eine subjektive Konstruktion, die vom Individuum – natürlich in Anbetracht der Position im Lebenslauf – komponiert wird. In der Deutung ihrer aktuellen Situation, sind die Frührentner gezwungen, selber Kontinuität herzustellen, indem sie auf eigene biografische Erfahrungen zurückgreifen. Es muss die für die Identitätsbildung grundlegende Fähigkeit, das eigene Leben zu «einer durchhaltbaren Erzählung» (Sennett) zu formen, erhalten bleiben und trotzdem müssen neue Lebensperspektiven, neue Sinnstiftung gefunden werden. Weder kann ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass alles so weiter läuft wie bisher, noch ist es möglich, alle Verbindungen zum bisherigen Leben abzubrechen. 55 bis 59-jährige Frauen und Männer können im Durchschnitt mit 30 respektive 25 Jahren weiterer Lebenszeit rechnen. Die kommende Zeit der Pensionierung wird somit nicht als blosse Restzeit verstanden. Hinzu kommt, dass die Berufstätigkeit für die betreffende Generation allgemein auch jenseits des Brotwerbs von zentraler Bedeutung für Sinnstiftung und Zeitstruktur war. Deshalb ist die Bedeutung, die der Erwerbsarbeit in der eigenen Biographie zugewiesen wurde, zentral: Je nach subjektiver Bedeutung wird die Frühpensionierung als Chance zu mehr Subjektivität und Autonomie ausserhalb des Korsetts des Normallebenslaufs gesehen oder der «Rauswurf» aus dem Normallebenslauf nimmt gerade die Chance auf ein autonomes, erfülltes Leben in der Erwerbsarbeit drin.

Mit 55 einfach so das Leben geniessen? Das ist offenbar nicht für alle erstrebenswert. Obwohl genaue Zahlen über einen Wiedereinstieg nach der Frühpensionierung fehlen (die Studie arbeitete mit der qualitativen Methode der Grounded Theory), scheint es, dass ein beträchtlicher Teil dieser «jungen Alten» wieder Unterschlupf im Erwerbsleben fand. Bei den interviewten Personen war dies bei der Hälfte der Fall. Hier half sicher die anziehende Konjunktur in den Jahren 98-2000 dieses Bedürfnis aufzufangen. Heute hätten es die arbeitswilligen FrührentnerInnen wohl bedeutend schwerer. (Ganz abgesehen davon, dass die jüngsten Sozialpläne der Swisscom finanziell bei weitem nicht mehr den gleichen finanziellen Standard bieten wie diejenigen bis zum Jahr 2000).

Erneute Erwerbsarbeit: «50 ist mir gleichwohl ein bisschen jung»

Beata Oberli, 50, Telefonistin und Aufsicht bei der internationalen Auskunft, wusste wie viele andere, dass man nicht dazu verpflichtet war, das Angebot der Swisscom anzunehmen. Doch der zunehmende Leistungsdruck und die Hektik, liessen sie erahnen, dass «wir Alten plötzlich nicht mehr gefragt sind.» Dieses Gefühl, wohl die ersten zu sein, die nach der vollständigen Privatisierung gezwungen werden, die Swisscom zu verlassen, liess sie einlenken: «Lieber das, als eben dann auf der Strasse stehen und den blauen Brief haben und vielleicht mit 52, 53 gar nichts mehr finden.»

Arbeit auf Mandatsbasis: «Ich habe eigentlich fast zu viel»

Nützlich sein, «etwas bringen», das will auch Jürg Jutzeler noch. Bis er 56 war, hatte er eine Position im obersten Kader der PTT, Telecom PTT und der Swisscom inne. Dann ist eine neue Garde gekommen, die alten «Bremser» hätten aus der neuen Warte heraus einfach «Stallgeruch» gehabt, meint er. Jutzelers Laufbahn war durch stetigen Aufstieg gekennzeichnet. Vom Mechaniker ist er nach dem Abendtechnikum und einer Nachdiplomausbildung in Betriebswirtschaft durch zuverlässigen Einsatz im Betrieb in die höchsten Chefetagen aufgestiegen. Seine Position bot ihm hohe Entscheidungs- und Entfaltungsmöglichkeiten, die Entstehung eines riesigen Beziehungsnetzes sowie die Möglichkeit, an konkreten Problemen ausgerichtet mit anderen Personen gute Lösungen zu erarbeiten. Letzteres war ihm besonders wichtig, forderte ihn heraus. Die Erwerbsarbeit stellt Jutzeler im Rückblick als Herausforderung dar, in welcher er vielfältige Gestaltungsfreiräume, aber auch umfassende berufliche Pflichten besass. Dabei ist er bemüht, vorrangig zu betonen, dass mit der Pensionierung diese Verpflichtungen und die körperlichen und psychischen Verschleisserscheinungen wegfallen: «Es ist ja nicht nur das aufstehen. Es ist ja auch dieser Druck, den man einfach immer gehabt hat. Man hat eine rechte Verantwortung. Je nachdem kann das einen fast erschlagen, wenn Sie da sehen .., x Bürogebäude voll Leute, mit etwa 1500, über 1500 Leuten. .. Auch wenn Sie nicht alleine sind, sind Sie einfach zuoberst an der Spitze dieser Leute und Sie haben einfach eine soziale Verantwortung denen gegenüber und dieser Druck..., den brauche ich nicht unbedingt, also ich bin nicht einer, der unbedingt grad ab einer Brücke springen muss oder so, damit er genug Kick hat.»

Sein Abgang symbolisiert nicht nur ein Generationenwechsel in der Führungsetage, sondern auch einen Mentalitätswandel. Die alte Generation von Patrons, zu denen Jutzeler gehört, wird von «Managern» abgelöst. Als Patron stand er seinen Mitarbeitern nicht vor, sondern er hatte sie «zu betreuen». Er fühlte sich in einem vollumfänglichen Sinne, über die reine Vertragsbeziehung hinaus, zuständig und verantwortlich für das Leben anderer. Dies im Gegensatz zu den heutigen Managern, die nur noch an kurzfristiger betriebswirtschaftlicher Effizienz interessiert seien.

Einen Kick braucht Jutzeler zwar nicht mehr, verschiedene Herausforderungen, die ihn seine Problemlösungskompetenzen einbringen lassen, hingegen sehr wohl. Dass mit den Belastungen auch die Herausforderungen abhanden gekommen sind, will er nicht einfach so akzeptieren. Deshalb übt er verschiedene Tätigkeiten im Bereich Management Support aus. Er hat nach der Pensionierung viele Anfragen erhalten, habe nun eigentlich fast zuviel: «Wie gesagt, ich habe so viele Angebote, das ist klar, wenn man so jemanden kennt und nachher weiss, der hat noch eine rechte Pension im Rücken.»

Er hat sich quasi selbständig gemacht und arbeitet auf Mandatsbasis. Seinen Arbeitsaufwand schätzt er auf 30%, tatsächlich dürfte er aber darüberliegen. Neben Chargen in diversen Vorständen (u.a. eine Fachhochschule), einem Projekt für Frauenförderung in der Informatik, engagiert er sich für die Schaffung von Lehrstellen für Informatiker generell. Dabei trennt er nicht zwischen Freiwilligenarbeit und Berufsarbeit. Wenn andere auch ehrenamtlich im gleichen Projekt mitarbeiten, tut er dies auch. Sonst lässt er sich bezahlen. Entscheidend für sein Mitmachen ist aber vielmehr, dass die Projekte Gestaltungsspielräume offen lassen und sich sein Expertenwissen zur Problemlösung und Innovation einsetzen lässt. Eine Tätigkeit bloss zum Spass wäre ihm zuwenig. Damit eine Tätigkeit sinnstiftend ist, muss sie «etwas bringen».

Mit dieser Strategie geht es nicht nur darum, Stärke zu bewahren und zu zeigen, dass man nicht ohne weiteres entbehrlich ist. Jenseits der Koketterie mit Ruhm und Anerkennung, spielt die starke Identifikation mit der beruflichen Thematik, die die Vertreter dieser Strategie während ihrer beruflichen Laufbahn aufgebaut haben, eine entscheidende Rolle für die Gestaltung des Lebens nach der Pensionierung. Mit dem Ende des Vertragsverhältnisses lösen sich diese nicht ohne weiteres von ihrem beruflichen Engagement. Somit bleibt auch hier die Erwerbsarbeit auf ihre Art sinnstiftend. Insgesamt steht das Bemühen im Vordergrund, die positiven Aspekte des Berufslebens (stetige Herausforderung) ohne die negativen Nebeneffekte (Verpflichtungen und Belastung) in die neue Lebensführung hinüber zu retten.

Persönliche Projekte: «Ich arbeite natürlich auch»

Den Bezug zum Erwerbsleben in die Pensionierung mitzunehmen, ist aber bei weitem nicht die einzige mögliche Strategie, um sinnstiftend auf die Frühpensionierung zu reagieren. Stellvertretend für viele andere, stelle ich Paul Stucki vor, der sich nach der Pensionierung mit voller Energie persönlichen Projekten im Bereich der Fotografie zuwandte. Einfach wieder arbeiten zu gehen, kam für Paul Stucki nicht mehr in Frage. Ursprünglich Telegraphist, spielte sich sein Berufsleben in den unterschiedlichsten Tätigkeitsbereichen vom PTT Museum bis zum Personalwesen stets bei der PTT ab. Zuletzt war er persönlicher Mitarbeiter eines Personalchefs. Bei all diesen Wechseln fand er letztlich nicht, wonach er suchte: Mehr Gestaltungsspielraum und Autonomie. So meint er denn auch, dass seine Tätigkeiten eben immer auch ein gutes Stück Entmündigung enthielten: «Ich bin natürlich auch der „Gib mer, reck mer, zünd mer“ (Handlanger) gewesen. Und das ist nicht etwas gewesen, was ich mit Freuden gemacht hätte dort. Ist nicht das gewesen, was ich.., ja was ich am liebsten gemacht hätte.»

Nun sieht er in der Frühpensionierung die Chance, diese unerfüllten Bedürfnisse doch noch erfüllen zu können. Er habe wie viele andere ein fremdbestimmtes Leben geführt, «wo man vieles einfach verpasst hat. Das möchte ich probieren zu ändern.» Heute betreibt er die Fotografie semi-professionell mit einem künstlerischen Anspruch, steht morgens um halb fünf auf, dokumentiert unbekannte Bergtäler, stellt sein Archiv «auf eine andere Basis». Damit macht er sein Hobby zum zweiten Beruf. Ein blosser Zeitvertreib wäre ihm zuwenig: «Was das Arbeiten anbelangt. Ich arbeite natürlich auch. Nur gehe ich nicht einem Erwerb nach in dem Sinne oder. Sondern ich arbeite für mich, an meinen fotografischen Projekten. Ich schaue das auch als Arbeit an.»

Mit dieser Tätigkeit hat Stucki seine wahre Berufung gefunden. Sinn stiftet die neue Tätigkeit, indem man sich bei der Erreichung der selbstgesteckten Ziele weiterentwickeln und entfalten kann. Die Tätigkeit genügt aber in gewisser Weise sich selbst, da sie keinen externen Nutzen stiften oder «etwas bringen» muss. Auch Geselligkeit und gesellschaftliche Integration spielen nur eine Nebenrolle. Das Handeln ist von einem Selbstverwirklichungsethos geprägt, das in den kommenden Generationen nach zeitdiagnostischen Befunden zunehmen wird.

Fazit

Die dargestellten Muster der Lebensführung nach der Frühpensionierung sind vielfältig. Neben den drei dargestellten Strategien wurde auch die Vertiefung in die Freiwilligenarbeit sowie der Rückzug ins Private wie man ihn sich als althergebrachtes Muster der regulären Pensionierung vorstellt, angetroffen. Alle FrührenterInnen, ob erwerbstätig oder nicht, sind bei der Suche nach neuen sinnstiftenden Aufgaben auf biographische Kontinuität angewiesen. Kontinuität kann heissen, möglichst weiter arbeiten zu wollen wie bisher. Dann wird ein schrittweiser Übergang in den Ruhestand angestrebt, wie er aus psychogerontologischer Sicht empfohlen wird. Andere Betroffene befürworten aber gerade einen äusseren Bruch, um in einem anderen Bereich an ihre bisherige Biographie anzuknüpfen. Allgemein ist es wichtig, bereits während des Erwerbslebens alternative Sinnhorizonte aufzubauen. Dann kann Befriedigung in einem anderen Tätigkeitsfeld gefunden werden. Aus individueller Sicht können Frühpensionierungen also durchaus «sinnvoll» sein. Die politische Forderung nach Verlängerung des Erwerbslebens im Interesse eines erfüllten Alters wird dadurch entkräftet.

Die Diskussion, wie sinnvoll Frühpensionierungen aus gesellschaftlicher Sicht sind, wird von zwei gegensätzlichen Argumentationen geprägt: Einerseits wird betont, dass sich die künftige Wirtschaft ein Herausdrängen der älteren Arbeitskräfte aus dem Arbeitsmarkt aufgrund der demographischen Entwicklung (Alterung der Bevölkerung) nicht mehr leisten könne. Andererseits wird Wert gelegt auf den technologischen Wandel, der die einzelne Arbeitskraft immer produktiver macht und deshalb längst nicht mehr die ganze Bevölkerung bei der Erwerbsarbeit gebraucht werde. Die Zeit wird zeigen, welche Prognose sich bewahrheiten wird.

Matthias Kuert studiert Soziologie an der Uni Bern und hat sich im Rahmen seiner Lizentiatsarbeit und einem Praktikum beim Bundesamt für Sozialversicherung mit dem Phänomen der Frühpensionierungen auseinandergesetzt.

Literaturauswahl

Kohli, Martin (1985): Die Institutionalisierung des Lebenslaufs. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 37, 1-29.
Baethge, Martin (1994): Arbeit und Identität. in Beck, U./Beck-Gernsheim, E.: Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Suhrkamp.
Clemens, W. (2001): Ältere Arbeitnehmer im Sozialen Wandel. Leske+Budrich.
Voss, Günter (1994): Das Ende der Teilung von «Arbeit und Leben»? in Beckenbach, N./van Treeck, W. (Hg.): Soziale Welt, Sonderband 9: Umbrüche gesellschaftlicher Arbeit. 269-294. Göttingen.

Attachments:
FileFile size
Download this file (sozmag_03_kuert.pdf)sozmag_03_kuert.pdf413 Kb
 

«Die Welt ist alles, was der Fall ist.»

Ludwig Wittgenstein (1980 [1921]): Tractatus logico-philosophicus. In: Wittgenstein, Ludwig: Schriften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 11.