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soziologie.ch soz:mag#3 die wiederentdeckung der chancengleichheit

die wiederentdeckung der chancengleichheit

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Was bringt die Berufsmatura?

Es regt sich was im Bildungssystem! Politische Ereignisse, insbesondere das neu verabschiedete Bildungsgesetz im Kanton Zürich, versetzen VerfechterInnen der Chancengleichheit in eine eher depressive Stimmung. Es gibt jedoch auch Lichtblicke: Bildungssoziologie ist für werdende KindergärtnerInnen und LehrerInnen neu ein Pflichtfach, und die Berufsmatura scheint die soziale Herkunft ihrer Studierenden zu durchmischen.

SOZ-MAG Beitrag von Claudia König

In Zukunft wissen KindergärtnerInnen und LehrerInnen im Kanton Zürich über die Chancengleichheit im Bildungssystem Bescheid. Denn der neue Lehrplan der Pädagogischen Hochschule sieht vor, dass sie Schule und Bildung, also ihr künftiges Arbeitsfeld, neu auch aus soziologischer Perspektive verstehen lernen. Ein Teil des Grundstudiums orientiert sich fortan an der Reflexions- und Aktionsfähigkeit der Studierenden und zielt dabei über das primäre Handlungsfeld von Schule und Unterricht hinaus auf das Verständnis von Bildung als gesellschaftliches Gut.

Dies sind erfreuliche News. Hatte man doch mit der Einführung des Numerus Clausus und der Erhöhung der Studiengebühren an der Zürcher Universität den Eindruck gewonnen, die Chancengleichheit sei den Sparmassnahmen im Bildungssystem geopfert worden. Dies wäre bedauerlich und zudem verfassungswidrig. Als freiheitlicher und demokratischer Sozialstaat ist die Schweiz verfassungsrechtlich verpflichtet, allen BürgerInnen nicht nur die formale, sondern auch die tatsächliche Voraussetzung für Chancengleichheit zu schaffen. Die formale Chancengleichheit muss somit in soziale Wirklichkeit umgesetzt werden. Was dies nun konkret bedeutet, darüber sind sich aber weder Wissenschafter noch Politiker einig. Ihre Umsetzung hingegen wird seit einigen Jahrzehnten angestrebt. Einer der Wege, der eingeschlagen wurde um die Chancengleichheit zu verbessern, war die Öffnung des Bildungssystems. Bereits in den 1960er und frühen 1970er Jahren wurden im ganzen deutschsprachigen Raum grosse Anstrengungen betreffend Ausbau und innere Reform des Bildungssystems unternommen. Eines der Ziele war, allen Kindern die gleichen Bildungschancen zu eröffnen. Insbesondere sollten die Benachteiligung von Mädchen, von Kindern aus ländlichen Gegenden, von Ausländern sowie die Unterschiede zwischen verschiedenen sozialen Gruppen beseitigt werden. Einerseits ging es um die Verwirklichung von Chancengleichheit, anderseits wollte man die brachliegenden Begabungsreserven ausschöpfen, um international wettbewerbsfähig zu bleiben.

Längst ist diese Bildungseuphorie jedoch verklungen, und die Umsetzung der Chancengleichheit wurde in den achtziger Jahren von der Traktandenliste der Schweizer Bildungspolitik verdrängt. Es hat sich in den vergangenen Jahrzehnten auch tatsächlich einiges verändert. Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ist bis zum Universitätseintritt verschwunden. Im Jahre 2001 stieg der Anteil der Schülerinnen an den Mittelschulen im Kanton Zürich auf 57%, an der Universität machte der Anteil der Studentinnen 52% aus. Was jedoch die Bildungsbeteiligung der verschiedenen sozialen Schichten sowie der Ausländer betrifft, scheint die Entwicklung dagegen weniger erfolgreich verlaufen zu sein. Es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass diese sozialen Unterschiede im Bildungssystem nicht überwunden sind. Lamprecht & Stamm (1996) weisen nach, dass bestimmte Merkmale, die vom Einzelnen nicht beeinflusst werden können, in der Schweiz den Bildungserfolg nach wie vor markant mitbestimmen. Rund 17% der Bildungsunterschiede von 20-23 Jährigen lassen sich direkt auf diese zugeschriebenen Merkmale zurückführen. Dies mag auf den ersten Blick als nicht sehr viel erscheinen. Betrachtet man diese allgemeinen Angaben aber differenzierter, so zeigt dies deutlich, dass die Bildungschancen nach wie vor ungleich verteilt sind. Insbesondere die soziale Herkunft erweist sich als ein wichtiges Sprungbrett zu einer erfolgreichen Bildungskarriere, und dies ist gleichzeitig der Schlüssel zu erhöhten Berufs- und Lebenschancen. Vor allem der Bildungsstand des Vaters erweist sich noch 1990 als wichtigster Indikator des Bildungserfolgs. Haben die Bildungspolitiker versagt? Oder ist die Umsetzung der Chancengleichheit tatsächlich eine Illusion wie Bourdieu & Passeron (1971) proklamieren?

In der Schweizer Bildungslandschaft hat sich in den letzten Jahren wieder einiges bewegt. Es wird viel Geld in neue Reformen investiert. Verschiedene Lehrpläne, zum Beispiel auch der LehrerInnenausbildung, wurden geändert und neue Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten geschaffen. Was dies für die Verbesserung der Chancengleichheit bedeutet, muss erst untersucht werden. In der NZZ vom 5. Oktober 1998 erfährt man über brisante Reformpläne im Bildungssektor, 14 Milliarden Franken würden von 2000 bis 2003 als Rahmenkredit eingesetzt. Erwähnt wird unter anderem die Idee der Gleichstellung von Berufs- und gymnasialer Matur. AbsolventInnen der Berufsmatura sollen in Zukunft zwischen Fachhochschule und Universität wählen können. Es gibt demnach eine neue Möglichkeit im Zugang zu Tertiärausbildung.

Die genannte Frist ist nun bald abgelaufen, und es soll erste Bilanz gezogen werden: Die Gleichstellung der beiden Maturitätstypen hat (noch) nicht stattgefunden, und verfolgt man die aktuelle Bildungspolitik, so erscheint es als eher unwahrscheinlich, dass man die BerufsmaturandInnen in naher Zukunft an universitären Studiengängen teilnehmen lässt.

Was bedeutet dies jedoch für die Umsetzung der Chancengleichheit? Diese Frage haben König & Siegfried (2001) und König (2002) mit einer umfangreichen Befragung von BerufsmaturandInnen, MaturandInnen und BerufschülerInnen und zu beantworten versucht.

Die Berufsmatura

Die Berufsmatura, die schweizerische Bezeichnung für die Fachhochschulreife, wurde 1993 in der Schweiz eingeführt und ist eine Reform der Sekundarstufe II des Bildungssystems, die den Zugang zur Tertiärstufe, insbesondere zu den Fachhochschulen ermöglichen soll. Der erfolgreiche Abschluss des berufsspezifischen und des allgemeinbildenden Bildungsgangs soll gesamtschweizerisch sowie in Zukunft europaweit einen prüfungsfreien Übertritt in die Fachhochschulen erlauben.

Dieser Abschluss wertet die bereits bestehenden, Ende der 1960er Jahre gegründeten Berufsmittelschulen (BMS) auf. In den neuen Berufsmittelschulen soll mehr Allgemeinbildung auf höherem Niveau vermittelt werden, als dies in der gewöhnlichen Berufsausbildung der Fall ist und auch in den bisherigen Berufsmittelschulen der Fall war. Die praktische und berufsbezogene Ausbildung in Betrieb und Berufsschule bildet jedoch weiter den Hauptpfeiler der Ausbildung. Allgemeinbildung wird in den verschiedenen Berufsmittelschultypen unterschiedlich resp. bereichsspezifisch definiert.

Es gibt zwei BMS-Typen: Die BMS I beginnt im Kanton Zürich im ersten Semester der Berufslehre und wird während der ganzen Lehrzeit besucht. Die BMS II dauert zwei Semester im Vollzeitstudium oder drei bzw. vier Semester im Teilzeitstudium nach absolvierter Lehre.

Heute bestehen fünf Berufsmatura-Richtungen: gestalterische, gewerbliche, kaufmännische, technische und technisch-landwirtschaftliche mit Schwerpunkt Naturwissenschaft. Die Wahl der BMS-Fachrichtung richtet sich dabei nach der beruflichen Grundausbildung und der voraussichtlichen späteren Weiterbildung.

4530 Lehrlinge und Berufsleute mit Lehrabschluss durchlaufen zum Zeitpunkt der Erhebung eine Berufsmittelschule (BMS) im Kanton Zürich. Grösstenteils besuchen sie die BMS lehrbegleitend (BMS I). Der Anteil der Schüler an Berufsmittelschulen nach dem Lehrabschluss (BMS II) macht knapp 9% aus.

1996 wird erstmals von einer Privatschule ein Gesuch für die Durchführung von BMS-II Klassen beim Amt für Berufsbildung eingereicht. Es ist vorstellbar, dass in Zukunft Berufsmittelschulen auch auf privater Basis geführt werden können. Was dies für Implikationen bezüglich der Chancengleichheit haben wird, wird sich zeigen.

Weshalb ist die Berufsmatura interessant? Nun, alle bisherigen Studien kamen zum Schluss, dass die Bildungsexpansion die Situation der Chancengleichheit verbessert, aber nicht gelöst hat. Kinder aus ‚bildungsfernen Familien’ sowie Ausländer konnten vom Prozess der Expansion nicht profitieren. Statt die Öffnung der Mittelschulen und Universitäten für ihren sozialen Aufstieg zu nutzen, absolvieren sie – wie es ihre Vorväter und Vormütter taten – eine Lehre. Das macht in diesem Zusammenhang die Berufsmatura so spannend, denn sie basiert auf dieser Ebene und verbindet die klassische, praxisnahe Berufsausbildung mit theoretischem, abstraktem Allgemeinwissen.

Berufsmatura und Chancengleichheit

In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass eine Bildungsexpansion notwendig, aber nicht hinreichend für eine Verbesserung der Chancengleichheit ist, denn die letzen zwei Wellen der Bildungsexpansion im vergangenen Jahrhundert sind durch die Statuskonkurrenz in der Mittelschicht ausgelöst worden. Es ging dabei weniger um sozialen Aufstieg als um Statuserhalt. Dass dies auch Mobilität für die Unterschicht ermöglicht hat, war eher ein Nebeneffekt. Lamprecht bezweifelt, dass die schon verwirklichten Reformen, welche die Bildungsexpansion beschleunigt haben, die Chancengleichheit in der Schweiz tatsächlich positiv beeinflussen konnten.

Es ist also theoretisch vorstellbar, dass mit der Berufsmatura hartnäckige Mobilitätsbarrieren überwunden wurden. Die ebenfalls plausible gegenteilige Annahme wäre, dass sich dieser Bildungsweg als eine weitere Möglichkeit des Statuserhalts für bildungsnahe Schichten erweist.

Die Studie von König weist hoffnungsweckende Resultate aus. Es wird auch hier bestätigt, dass Mädchen nicht mehr benachteiligt sind. Ihr Anteil von 42% in Berufsmittelschulen entspricht nahezu jenem in allgemeinen Berufsschulen (46%). In der Kaufmännischen Berufsmatura machen sie mit 55% sogar mehr als die Hälfte der Schüler aus. Ihr Anteil variiert jedoch stark zwischen den verschiedenen BMS-Typen, so wie es auch zwischen den verschiedenen Lehren festzustellen ist.

Weniger erfreulich sieht die Situation bei den Ausländer-Innen aus. Sie sind in den Berufsmaturitätsschulen mit 8% stark untervertreten. Dieser Wert entspricht in etwa den 7%, die sie bei den traditionellen Mittelschulen ausmachen. In den allgemeinen Berufsschulen haben sie mit 18% einen mehr als doppelt so hohen Anteil. Es zeigt sich also, dass die Nationalität nach wie vor stark mitbestimmt, ob eine weiterführende Schule besucht wird oder nicht. Hier muss allerdings erwähnt werden, dass die AusländerInnen nicht weiter differenziert wurden. Es fallen in diese Kategorie sowohl AusländerInnen der zweiten Generation, die in der Schweiz geboren wurden, als auch SchülerInnen, die erst vor kurzer Zeit in die Schweiz gekommen sind. Es wäre notwendig, diese benachteiligte Gruppe noch genauer unter die Lupe zu nehmen. Es ist nicht klar, inwiefern die Benachteiligung auf mangelnde Sprachkenntnisse oder fehlende Möglichkeiten zurückzuführen ist. Es müsste weiter untersucht werden, ob sich ein Zusammenhang zwischen Berufmittelschulbesuch und Wahl der Lehre abzeichnet.

Aufschlussreich sind die Resultate bezüglich der sozialen Herkunft. Es wurde auf Grund der Reproduktionstheorie nach Bourdieu postuliert, dass sich Bildung und Status der Eltern von Berufsschülerinnen und -schülern und BerufsmittelschülerInnen entsprechen müssten. In diesem Zusammenhang könnte auf intergenerationelle Bildungsmobilität geschlossen werden. Wäre das Gegenteil der Fall, entspräche die Verteilung von Bildung und Status der Eltern von BerufsmittelschülerInnen jener der Eltern von traditionellen Mittelschulen, so zeugte dies von einer Tendenz zum Statuserhalt. Die Daten machen nun deutlich, dass sich die Zusammensetzung der sozialen Herkunft von Berufsmittelschülern zwischen der Verteilung bei den Berufsschülern und Maturanden bewegt. Das bedeutet, dass beide Annahmen richtig sind. Die Berufsmittelschule bietet die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs, gleichzeitig aber auch die des Statuserhalts. Wird hingegen die soziale Herkunft der Mittelschüler jener der Berufsschule gegenübergestellt, so lässt sich ein signifikanter Unterschied insbesondere bezüglich der Bildung des Vaters feststellen.

Die BMS II kann auch zu einem späteren Zeitpunkt besucht werden, und dies stellt eine grosse Chance dar. Wird die Berufsmatura tatsächlich eines Tages den Zugang zur Universität erlauben, so dürfte dies das Bild der Schweizer Bildungslandschaft bedeutsam verändern. Eine Folge wird wohl sein, dass sich der Prozentteil der Bevölkerung mit Tertiärbildungsabschluss markant erhöht und sich jenem der Nachbarländer annähern wird. Diese Tendenz wird weiter unterstützt durch den Umstand, dass verschiedene Bildungsinstitutionen zu Fachhochschulen aufgewertet worden sind.

Es macht also durchaus Sinn, dass sich werdende Lehrkräfte mit der Schule als sozialem System und mit Fragen der Reproduktion von sozialen Ungleichheiten durch das Bildungssystem auseinandersetzen. Im ganzen System vollzieht sich ein fundamentaler Wandel und die Reflexion über soziale Konsequenzen ist unabdingbar. Die dargestellten Befunde machen deutlich, dass die Tendenz auch in Richtung mehr Chancengleichheit gehen kann.

Claudia König ist Assistentin und Lehrbeauftragte am Soziologischen Institut der Universität Zürich sowie an der Hochschule für Pädagogik Zürich. Sie hat sich im Rahmen ihrer Forschungs- und Lizentiatsarbeit intensiv mit der Frage der Chancengleichheit im Bildungssystem und insbesondere dem Beitrag der Zürcher Berufsmaturitätsschulen auseinandergesetzt.
NB: Im Sommersemester 2003 wird am Soziologischen Institut der Universität Zürich eine Vorlesung über die Soziologie der Schule sowie ein Seminar zur Bildungssoziologie angeboten.

Literaturauswahl

Bornschier, Volker (1998): Westliche Gesellschaft - Aufbau und Wandel. Zürich: Seismo.
Bourdieu, Pierre & Jean-Claude Passeron (1971): Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart: Klett.
Kiener, Urs & Philipp Gonon (1998): Die Berufsmatur. Ein Fallbeispiel schweizerischer Berufsbildungspolitik. Nationales Forschungsprogramm 33, Wirksamkeit unserer Bildungssysteme. Chur/Zürich: Rüegger.
König, Claudia & Franca Siegfried (2001): Berufsmatura – Die Chance für innovative junge Leute? Zürich: Forschungsarbeit am Soziologischen Institut der Universität Zürich.
König, Claudia (2002): Berufsmatura – Die Lösung zur Umsetzung der Chancengleichheit? Zürich: Lizarbeit am Soziologischen Institut der Universität Zürich.
Lamprecht, Markus & Hanspeter Stamm, 1996: Soziale Ungleichheit im Bildungswesen. Bern: Bundesamt für Statistik.
Lamprecht, Markus, 1991: Möglichkeiten und Grenzen schulischer Chancengleichheit in westlichen Gesellschaften. In: Bornschier, Volker (Hg.), Das Ende der sozialen Schichtung?. 1991. Zürich: Seismo.
Rieger, Andreas, 2001: Bildungsexpansion und ungleiche Bildungspartizipation am Beispiel der Mittelschulen im Kanton Zürich, 1830-1980. In: Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften. 1/2001. 41-72.

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«Das Gesellschaftssystem wird demnach nicht durch ein bestimmtes Wesen, geschweige denn durch eine bestimmte Moral (...) charakterisiert, sondern allein durch die Operation, die Gesellschaft produziert und reproduziert. Das ist Kommunikation.»

Luhmann, Niklas (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 70.