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soziologie.ch soz:mag#2 "drag kings sind perfektere männer"

"drag kings sind perfektere männer"

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Subversion oder Reproduktion der Zweigeschlechtlichkeit?

Geschlecht ist sozial konstruiert, das wissen wir spätestens seit Simone de Beauvoir. Kaum eine Feministin kam allerdings je auf die Idee, die Konstruiertheit von Geschlecht "am eigenen Leib" aufzuzeigen. In New York, London und Berlin geben sich Frauen als Männer aus und nennen sich "Drag Kings". Handelt es sich dabei um eine neue feministische Strategie? Oder reproduzieren die Drag Kings nur ein klischiertes Bild von Männlichkeit und bleiben damit in den herrschenden Vorstellungen von Geschlecht verhaftet? Ausgehend von zwei theoretischen Ansätzen werden im folgenden Artikel Antworten auf diese Fragen gesucht.

SOZ-MAG-Beitrag von Christina Caprez

Drag Kings - das sind Frauen (und Männer), die Männlichkeit bewusst darstellen. Seit Ende der Achtziger Jahre entwickelte sich in den amerikanischen Grossstädten, in London und Berlin eine Drag-King-Subkultur, die in der Schweiz erstmals durch den Film "Venus Boyz" der Schweizer Regisseurin Gabriel Baur bekannt wurde. Die Formen und Orte der Inszenierung von Männlichkeit sind vielfältig: Viele Drag Kings treten in Clubs auf, einige testen ihre männliche Identität im Alltagsleben, und die "Mutter der Drag-King-Bewegung", Diane Torr, vermittelt ihre Erkenntnisse sogar in Workshops. Aus soziologischer Perspektive sind Drag Kings interessant, weil sie das zu demonstrieren scheinen, was postmoderne Feministinnen schon seit 15 Jahren postulieren: Geschlecht ist konstruiert, es ist nichts als ein Bündel von Verhaltensregeln, die von der Kleidung über die Art zu sprechen bis hin zu Mimik und Gestik mehr oder weniger willkürlich Frauen und Männern zugeordnet werden. Wenn Geschlecht konstruiert ist, bedeutet dies, dass es auch anders konstruiert werden könnte. Gerade in der Anders-Konstruktion könnte ein subversives Potential liegen. Genau dies scheinen die "Drag Kings" zu versuchen: Mit einer gelungenen, "authentischen" Inszenierung von Männlichkeit hinterfragen sie die Alltagsannahme, nur ein Mensch mit männlichen Geschlechtsorganen könne ein Mann sein. Damit entlarven sie Geschlecht als eine ständige Inszenierung. Aber: Gelingt es den "Drag Kings" wirklich, Geschlecht zu dekonstruieren?

In der feministischen Diskussion wird das Crossdressing unterschiedlich bewertet. Einige Theoretikerinnen stellen hohe politische Erwartungen an seine subversive Kraft. Crossdresser werden euphorisch als ausgeschlossenes "Drittes" bezeichnet, und ihnen wird attestiert, sie könnten beweisen, dass "jede geschlechtlich bestimmte Identität eine angenommene Identität ist" (vgl. Hark 1998). Andere Autorinnen entgegnen, dass gerade die Travestie die Geschlechtskörper affirmieren, die letztendlich klar trennbar sind in männliche und weibliche (vgl. Landweer 1994). Die Frage nach der Subversivität von Drag Kings kann allerdings kaum pauschal beantwortet werden. Sie kann nicht lauten, ob, sondern wie und in welchen Kontexten die Drag Kings die Zweigeschlechtlichkeit in Frage stellen. Ich bin der Frage aus dem Blickwinkel zweier konstruktivistischer soziologischer Theorien nachgegangen, zum einen aus der Perspektive der Diskurstheorie Judith Butlers, und zum andern mit dem Symbolischen Interaktionismus in der Auslegung Stefan Hirschauers.

Butler und die Drag Kings

Judith Butler geht in ihrem mittlerweile zum feministischen Klassiker avancierten "Unbehagen der Geschlechter" (dt. 1991) der Frage nach, wie gesellschaftliche Diskurse unser Verständnis von Geschlecht, Sexualität und Körper bestimmen. Sie zeigt auf:
- dass Kategorien wie 'Frau', 'Körper', 'Materie' oder 'Begehren' keine natürlichen Tatsachen, sondern diskursiv produzierte Kategorien sind (Konstruktion von Geschlecht).
- dass die Diskurse, die diese Kategorien produzieren, aber gleichzeitig den Produktionsprozess verschleiern und die Produkte als 'Natur', als 'immer schon Dagewesenes' ausgeben (Naturalisierung von Geschlecht).
Ein Beispiel für die Konstruktion und Naturalisierung von Geschlecht ist die geschlechtliche Zuordnung bei der Geburt: Ein Neugeborenes "ist" nicht einfach ein Junge oder ein Mädchen, sondern wird erst durch die Bezeichnung dazu gemacht; dabei existiert die Kategorisierung "Junge" versus "Mädchen" schon vorgängig - wir können also im Neugeborenen nur einen Jungen oder ein Mädchen sehen, wenn wir schon von diesen Kategorien ausgehen. Ganz selbstverständlich gehen wir ausserdem von einer Kohärenz von Körper, Identität und Begehren aus. Hat jemand einen weiblichen Körper, so soll diese Person als Frau fühlen, denken und handeln und auch als solche begehren. Laut Butler handelt es sich bei dieser postulierten Kohärenz um eine "Zwangsordnung von sex, gender und Begehren".

Für Judith Butler ist die Travestie ein Mittel, den konstruierten Charakter von Identitätskategorien aufzudekken. Die Inszenierung von Männlichkeit auf der Bühne zitiert die Inszenierungen von Männer im Alltag und macht auf diese Weise sichtbar, dass es sich auch bei der alltäglichen Männlichkeit um Darstellungen handelt. Wie dies konkret funktionieren kann, möchte ich im Folgenden kurz anhand Diane Torrs Performance "Drag Kings and Subjects" aufzeigen.

Torr betritt die Bühne als Hausfrau Mitte Fünfzig, nennen wir sie Dinah. Torr alias Dinah trägt ein Deux-Pièces und ein gepflegtes Make-Up. Über die Männer weiss sie Bescheid, weiss, dass sie nicht zuhören könne, und dass sie im Gespräch mit ihnen nur drei Floskeln benutzen muss: "How nice!", "Very interesting!" und "You are right!". Diese drei Ausdrücke, ein permanentes Lächeln und ein gepflegtes Äusseres braucht Dinah, um ihre Weiblichkeit zu inszenieren. Nach dieser Szene schminkt sich Torr vor dem Publikum ab und verwandelt sich Schritt für Schritt in Danny King, ihr männliches Alter Ego: Sie bindet ihre Brüste ab, zieht Anzug und Krawatte an und klebt sich einen Schnauz auf. Danny ist Gründer der "American Society of Men", einer Organisation nur für Männer, die die Wiederherstellung der Männerherrschaft entgegen feministischen Ansprüchen zum Ziel hat. Danny erklärt dem Publikum genau, wie sich die Männer den ihnen gebührenden Respekt verschaffen können: "Rule number one: Stop smiling!" Lächeln bedeute, andere um Anerkennung zu bitten, es mache einen Mann verletzlich und ausnutzbar. "Rule number two: Stop apologizing!" Frauen entschuldigten sich dauernd, aber "As a man in a man's world, you are always right." Wenn ein Mann den Raum betritt, geht er so, als ob jeder Fleck Erde, den der betritt, sein Eigentum wäre, und jeder Gegenstand, auf den er seinen Blick richtet, gehört ihm.

Torrs Inszenierungen wirken sehr lebensecht. Sie orientieren sich zwar an Stereotypen; das heisst, Dinah und Danny können nicht für "die Frau" bzw. "den Mann" schlechthin stehen, da es diese ohnehin nicht gibt. Aber sie sind Figuren, die existieren könnten, Figuren, denen wir tagtäglich auf der Strasse begegnen und in denen wir uns selber teilweise wieder erkennen. Gleichzeitig macht Torr deutlich, wieviel Aufwand diese beiden Figuren brauchen, um sich so zu inszenieren, wie sie "sind". Make-Up versus künstlicher Bart, entschuldigendes Lächeln versus Platz einnehmende Gestik - Diane Torr führt uns die Requisiten vor, mit denen Männlichkeit und Weiblichkeit konstruiert werden und setzt so um, was Butler als politisches Potential von Travestie einschätzt. Es gibt keine notwendige Kohärenz zwischen dem Geschlechtskörper und der Geschlechtsidentität: Diane Torr ist als Danny genauso überzeugend wie als Dinah, obschon ihr Körper derselbe ist. Sex und Gender werden mittels einer Darstellung entnaturalisiert, die die Unterschiedenheit dieser Kategorien eingesteht.

Crossdressing als Krisenexperiment

Butlers Ansatz hat den Nachteil, dass er mit abstrakten Termini operiert und somit eine gewisse Distanz zum Alltagsleben aufweist. Der interaktionistische Ansatz entwickelt Begrifflichkeiten, mit denen die alltägliche Konstruktion von Geschlecht in Interaktionen adäquater beschrieben werden kann. Stefan Hirschauer (1989) analysiert, wie wir in Alltagssituationen zwischen Männern und Frauen unterscheiden und diese Kategorien so immer neu konstruieren. Dies geschieht durch zwei einander bedingende Prozesse: durch Geschlechtsattribution, das heisst, durch den Prozess der Wahrnehmung und Zuschreibung von Geschlecht, und Geschlechtsdarstellung. Natürlich kann zwischen DarstellerInnen und Publikum nur in der Theorie getrennt werden; alle Interaktionsteilnehmenden stellen gleichzeitig dar und betrachten.

Geschlechtsattribution

Das Alltagswissen geht von drei Basisannahmen über Geschlecht aus, aufgrund derer wir Menschen kategorisieren (Kessler/McKenna 1978):

  1. Es gibt zwei und nur zwei Geschlechter.
  2. Die Zweigeschlechtlichkeit ist von der Natur vorgegeben; deshalb kann eine Person nur entweder ein Mann oder eine Frau sein.
  3. Die Geschlechtszugehörigkeit ist bei der Geburt festgelegt und bis ans Lebensende unveränderlich.

Aufgrund dieser drei Basisannahmen entscheiden wir in Alltagssituationen in Sekundenschnelle, ob jemand eine Frau oder ein Mann ist. Ist diese Zuschreibung nicht (sofort) möglich, sind wir verunsichert, weil unsere Interaktionen grundsätzlich davon abhängen, mit welchem Geschlecht wir interagieren. Bei der Geschlechtsattribution spielt aber auch der Interaktionskontext eine Rolle; so erscheinen etwa Frau-zu-Mann-Transsexuelle in Begleitung einer Frau männlicher, da BetrachterInnen die beiden als heterosexuelles Paar wahrnehmen.

Geschlechtsdarstellung

Die Darstellung von Geschlecht folgt denselben Annahmen (Dichotomizität, Naturhaftigkeit und Konstanz) wie seine Attribution. Für Geschlechtsdarstellungen braucht es allerdings nicht in erster Linie ein mentales Wissen über die Zweigeschlechtlichkeit, sondern vor allem ein praktisches Wissen, das im Körper angelegt ist. Mit Michel Foucault und Pierre Bourdieu geht Hirschauer davon aus, dass Gesellschaft sich in den Körper von Individuen einschreibt, und dass Individuen gleichzeitig in situativen Darstellungen gesellschaftliche Wirklichkeit mittels des Körpers schreiben.
Wie lassen sich die Drag Kings nun mithilfe des interaktionistischen Ansatzes verstehen? Im symbolischen Interaktionismus existiert die Strategie des "Krisenexperiments", mit dem die sozialen Regeln einer Gesellschaft bewusst gestört werden, um Aufschluss über sie zu erhalten. Auch Crossdressing kann als Krisenexperiment gesehen werden, wie das folgende Erlebnis zeigt.

Nach einem Workshop bei Diane Torr wagte ich mich als Christian auf die Strasse, als 20-jähriger Philosophiestudent mit grauer Bundfaltenhose und hellgrauem Hemd, schwarzen schlichte Schuhe und einem blonden Bärtchen. Entgegen meinen Erwartungen fiel es mir nicht schwer, auf der Strasse durchzugehen - niemand schenkte mir spezielle Beachtung. Dabei kam mir zugute, was Hirschauer "Immunschutz" nennt: Ich gab zwar meiner Umwelt bezüglich meines Geschlechts widersprüchliche Signale - Bart, Kleidung und fehlende Brust deuteten auf einen Mann, Statur und Gesichtszüge auf eine Frau - die Notwendigkeit, Menschen als eindeutig männlich oder weiblich wahrzunehmen, führte jedoch dazu, die plausibelste Annahme (Bart = Mann) zu treffen und ihr widersprechende Elemente auszublenden. Die Erfahrung, als Mann behandelt zu werden, war sehr eindrücklich: Man wich mir automatisch aus, während sonst ich ausweichen musste, in der U-Bahn gestand man mir mehr Platz zu, und Frauen hielten meinem Blick nicht stand, um ja keinen Anlass zum Flirt zu geben. Später wiederholte ich das Experiment in einem theaterwissenschaftlichen Seminar der Freien Universität Berlins. Zusammen mit einer betont weiblich angezogenen Freundin nahm ich als Gast einer Kollegin an der Schlusspräsentation der Projektarbeiten teil. Kaum jemand zweifelte an der männlichen Identität Christians. Als er verschwand und nach einiger Zeit als Christina im Sommerröckchen wieder auftauchte, war die Überraschung gross: Die Inszenierung hatte gewirkt, wobei vermutlich insbesondere die Konstruktion eines heterosexuellen Paars zum Durchgehen beigetragen hatte.

In dieser Szene wird die Darstellung, die zu Beginn von den Betrachterinnen nicht als solche wahrgenommen wird, im Verlauf der Interaktion als solche entlarvt. Damit werden elementare Regeln der geschlechtlichen Interaktion verletzt. Die alltäglichen Erwartungen von Interaktionspartnern werden in Frage gestellt: Was, wenn noch andere Menschen "nur vorgeben, das Geschlecht zu sein, das sie darstellen?". Die Möglichkeit, einer Person zu begegnen, die ihr Geschlecht im alltagssprachlichen Sinn "nur spielt", ohne dass dies den Betrachtern von vornherein bewusst ist, verunsichert die Wahrnehmungskompetenzen der andern Interaktionsteilnehmerinnen. Diese Möglichkeit schult sie, die Ungewissheit auszuhalten und trotzdem in Interaktion mit der andern Person zu treten, ohne Sicherheit, dass die über das Geschlecht getroffenen Vorannahmen richtig sind.

Werden Interaktionserwartungen massiv verletzt, kann dies laut Hirschauer zu einer Änderung der Interaktionsregeln führen. Ob Drag Kings zum Umbau des Klassifikationssystems "Zweigeschlechtlichkeit" beitragen - sprich, die perfekteren Männer und die besseren Feministinnen sind - kann hier nicht abschliessend beantwortet werden. Ich habe allerdings zu zeigen versucht, dass sie in gewissen Kontexten beträchtliche Irritationen in der alltäglichen geschlechtlichen Interaktion bewirken können.

Christina Caprez studiert Soziologie, Ethnologie und Geschichte an der Universität Zürich. Sie war im Sommersemester 2002 Austauschstudentin in Gender Studies an der Humboldt Universität zu Berlin. Grundlage für den Artikel bildet ihre Seminararbeit "Drag Kingdom: Königreich der Subversion oder Reproduktion? Crossdressing aus diskurstheoretischer und interaktionistischer Perspektive".

Literaturauswahl

Butler, Judith. 1991 (1990). Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main, Edition Suhrkamp.
Hark, Sabine. 1998. "Parodistischer Ernst und politisches Spiel. Zur Politik der Geschlechterpolitik." In: Antje Hornscheidt, Gabriele Jähnert und Anette Schlichter. Kritische Differenzen - geteilte Perspektiven. Zum Verhältnis von Feminismus und Postmoderne. Opladen, Westdeutscher Verlag: S. 115 - 139.
Hirschauer, Stefan. 1989. "Die interaktive Konstruktion von Geschlechtszugehörigkeit." In: Zeitschrift für Soziologie Jg. 18, Heft 2: S. 100 - 118.
Landweer, Hilge. 1994. "Jenseits des Geschlechts? Zum Phänomen der theoretischen und politischen Fehleinschätzung von Travestie und Transsexualität." In: Institut für Sozialforschung (Hg.). Geschlechterverhältnisse und Politik. Frankfurt am Main.

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«Das Gesellschaftssystem wird demnach nicht durch ein bestimmtes Wesen, geschweige denn durch eine bestimmte Moral (...) charakterisiert, sondern allein durch die Operation, die Gesellschaft produziert und reproduziert. Das ist Kommunikation.»

Luhmann, Niklas (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 70.