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soziologie.ch soz:mag#1 soziale ungleichheit und gewalt ergründen

soziale ungleichheit und gewalt ergründen

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Ein Einblick in aktuelle Forschungsprojekte der Uni Basel

Das Institut für Soziologie der Universität Basel untersucht zurzeit die Situation von so genannten "Working poor" in der Schweiz. Eine weitere Studie befasst sich mit gewalttätigen Jugendlichen. Die Projekte widmen sich verschiedenen Aspekten der Konflikt- und Kooperationsforschung. Im Vordergrund steht dabei die Frage nach der sozialen Ungleichheit, die sich derzeit weiter zu verschärfen scheint, sowie die Analyse sozialen Wandels und seiner Auswirkung auf die Entwicklung rechtsextremer Gewalt.

SOZ:MAG Beitrag von Ueli Mäder

Working poor – Wege aus der Sozialhilfe

Nach gängiger Meinung ist Armut mit Erwerbslosigkeit verbunden. Dementsprechend gilt: wer arbeitet, kann eigentlich nicht arm sein. Neuere Befunde der Armutsforschung zeigen jedoch: Armut ist nicht zwangsläufig mit Erwerbslosigkeit gekoppelt. Working poor sind erwerbstätig und arm. Rund sieben Prozent der Erwerbstätigen zählen dazu. Über eine halbe Million Personen gehören in der Schweiz einem Haushalt an, in dem nicht das politisch festgelegte Existenzminimum erwirtschaft wird, obwohl mindestens eine Person einer festen Erwerbsarbeit nachgeht. Working poor stehen zwar Hilfeleistungen zu, aber eigentlich ist für diesen Personenkreis keine Sozialhilfe vorgesehen. Die Sozialhilfe soll subsidiär Personen unterstützen, die in vorübergehende Not geraten. Ausgesteuerte Arbeitslose, sozial Ausgegrenzte und Personen, die nicht erwerbsfähig sind, bilden die vorgesehene Klientel. Working poor befinden sich weder in einer vorübergehenden Notlage, noch bedürfen sie einer herkömmlichen Integrationshilfe. Damit sind Sozialpolitik und Sozialhilfe gefordert, spezielle, auf die working poor zugeschnittene Hilfen zu entwickeln.

Von November 2000 bis Herbst 2002 führt das Basler Institut für Soziologie im Auftrag des Schweizerischen Nationalfonds eine Untersuchung über "Working poor und Sozialhilfe" durch, zusammen mit dem Lehrstuhl Sozialarbeit und Sozialpolitik der Universität Fribourg, der Caritas Schweiz und der Fachhochschule für Soziale Arbeit beider Basel. Stefan Kutzner, Carlo Knoepfel und ich bilden das Leitungsteam. Die wesentliche Frage, die wir beantworten wollen, lautet: Was kann die Sozialhilfe in der Schweiz tun, damit working poor Haushalte keine Sozialhilfe mehr benötigen? Die Studie soll biographische (subjektive) und sozio-ökonomische (objektive) Faktoren ergründen, die in die Armut führen oder dazu beitragen, die working poor Existenz zu überwinden. Die standardisierte Befragung erfasst in den Kantonen Basel-Stadt und Fribourg 400 aktuelle working poor Haushalte, die Sozialhilfe beziehen und 200 Haushalte, die keine mehr beziehen.. Eine anschliessende vertiefende Befragung von 50 working poor Haushalten soll anhand offener Interviews darüber Aufschluss geben, wie diese die Armut erleben und bewältigen bzw. welche persönlichen Ressourcen mobilisierbar sind. Gespräche werden auch mit zahlreichen Sozialtätigen und weiteren Schlüsselpersonen geführt. Die erhobenen Fakten sollen als Basis für sozialpolitische Strategien dienen, die aus der Armutssituation hinaus führen. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf das andere Ende der sozialen Ungleichheit.

Dem Reichtum auf der Spur

Die Frage nach der sozialen Ungleichheit wird, sofern in der Soziologie noch thematisiert, vorwiegend auf den Aspekt der Armut fokussiert. Wie aber steht es mit dem Reichtum? Die Soziologin Elisa Streuli und ich sind dieser Frage nachgegangen (Reichtum in der Schweiz, rpv, Zürich 2002). Für ein umfassendes Verständnis sozialer Ungleichheit ist die Fokussierung der ganzen Bandbreite der Verteilung von Geld und Lebenschancen wichtig. Der quantitative Teil unserer Vorstudie thematisiert, was wir unter Reichtum verstehen und wie die Einkommen und Vermögen in der Schweiz verteilt sind. Was das Streben nach Geld motiviert, interessierte Georg Simmel bereits vor hundert Jahren. Darauf geht ein kurzer Exkurs zu den Klassikern der Soziologie ein. Die Leitfaden-Gespräche mit Reichen werfen im qualitativ orientierten Teil ein Licht darauf, wie sie ihre Situation reflektieren und die Frage nach der sozialen Verträglichkeit des Reichtums beurteilen. Der Ausblick skizziert mögliche Perspektiven. Wichtig wäre mehr Transparenz über Reichtum zu schaffen und einen geschärfter Blick für vertikale Ungleichheiten zu entwickeln. Diese werden von gängigen Betrachtungen meist vernachlässigt, die sich auf horizontale Ungleichheiten konzentrieren.

Reiche spenden viel Geld für soziale Projekte. Sie bevorzugen tendenziell die private Umverteilung und lehnen staatliche Massnahmen wie eine Kapitalgewinnsteuer ab. Was einst als Grundwiderspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung diskutiert wurde, wird heute selten thematisiert. Michael Schefczyk (NZZ, 3.12.01) stellt eine Entpolitisierung der Frage fest, nach welchen Regeln gesellschaftlicher Reichtum zu verteilen sei. In der Sozialstrukturforschung verlagert sich der Blick von der vertikalen auf die horizontale Ebene. Die Klassenmodelle des 19. Jahrhunderts unterschieden die Werktätigen noch recht kategorisch vom Bürgertum nach dem Kriterium der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel. Analysen sozialer Schichten und Klassen (von Theodor Geiger u.a.) definierten ab den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts Menschen(gruppen) etwas differenzierter nach ihren äusseren Lebensbedingungen (Beruf, Qualifikationen, Einkommen, Besitz) sowie nach inneren psychischen Merkmalen. Der Blick galt dabei nach wie vor primär den vertikalen Ungleichheiten. Das änderte sich im Verlaufe des 20. Jahrhunderts. Seit den 1980er Jahren beziehen verschiedene Theorien sozialer Lagen - nebst materiellen Ressourcen - das subjektive Wohl (Lebenszufriedenheit) stärker ein. Die horizontalen Ungleichheiten stehen auch bei den Modellen sozialer Milieus im Vordergrund, die sich seit den 1990er Jahren verbreiten und auf Menschen beziehen, die sich in der Lebensauffassung und Lebensweise ähneln und subkulturelle Einheiten innerhalb der Gesellschaft bilden. Grosse Bedeutung kommen hierbei der gemeinsamen Wertorientierung und dem Lebensstil zu. Die Lagen- und Milieuanalysen weisen gewiss auf wichtige Differenzierungen hin, laufen aber Gefahr, trotz krasser gesellschaftlicher Gegensätze die Frage sozialer Klassen zu vernachlässigen und eine Entwicklung zu suggerieren, die "von Klassen und Schichten zu Lagen und Milieus" (Stefan Hradil) führe.

Gerhard Schulze kommt in seiner Studie über "Die Erlebnisgesellschaft" (1992) zum Schluss, dass die Suche nach Glück die Sorge um das materielle Überleben abgelöst hat und die horizontal strukturierten Erlebnismilieus eine immer grössere Bedeutung erlangen. Das erlebnisorientierte Denken ersetzt laut Schulze das produktorientierte. Beim erlebnisorientierten geht es mehr um den subjektiven Nutzen, beim produktorientierten um den materiellen. Der Hobbygärtner löst mit seinem Ziergarten die Bäuerin mit ihren Kartoffeln ab. Dem Reich der Notwendigkeit folgt das Reich der Freiheit, der Leistungs- die Personenorientierung, dem Haben das Sein. Der Alltag wird zur Lebensbühne und zur Verlängerung der Innenwelt. Symbolwelten scheinen frei wählbar zu sein. Gesellschaft scheint bei ihm zur Episode zu verkommen.

Gemäss dem kürzlich verstorbenen französischen Soziologen Pierre Bourdieu beeinflussen vielmehr die äusseren Faktoren die Denk- und Handlungsmuster bzw. den Habitus eines Menschen, wobei die sozialen Klassen nicht einfach ökonomisch determinieren. Es gibt feine Unterschiede, die sich über Titel, Kleidung, Sprache, Manieren und den Geschmack manifestieren. Der Lebensstil ist weder frei wählbar noch beliebig; er folgt vielmehr dem sozialen Rang. Die feinen Unterschiede äussern sich darin, wie man grilliert oder den Tisch schmückt. Bourdieu orientiert sich an der Marx’schen Tradition, nach welcher das Sein auch das Bewusstsein bestimmt. Schulze hält sich mehr an Ulrich Beck, der die selbstreflexive Moderne u.a. dadurch kennzeichnet, dass das Bewusstsein das Sein prägt.

Auch wenn reiche Menschen ihre Spendenfreudigkeit weiter ausbauen, ändert das wenig an der strukturellen sozialen Ungleichheit. Die Kluft zwischen den untersten und obersten 10 Prozent der Einkommens- und Vermögensverteilung hat zugenommen. Der Soziologie kommt nun die Aufgabe zu, differenziert zu aufzuzeigen, was das bedeutet. Dabei stellt sich die Frage, ob die Existenzsicherung vom Goodwill einzelner Reichen abhängen soll oder mehr gesellschaftliche Verbindlichkeit erfordert.

Die Frage nach gesellschaftlicher Verbindlichkeit ist auch beim Umgang mit dem Thema Gewalt von zentraler Bedeutung.

Jugend und Gewalt

Wie entsteht Gewalt? Diese Frage rückt immer stärker ins Blickfeld der öffentlichen Diskussion. Fremdenfeindliche und rechtsextreme Gewalt werden als wichtige Phänomene erkannt. Sie verletzen eine Norm, die moderne Gesellschaften kennzeichnet: das staatliche Monopol der Gewalt. Doch was wissen wir über gewalttätige Jugendliche und Gruppen? Unter welchen Bedingungen konstituieren sie sich? Welcher Zusammenhang besteht zum gesamtgesellschaftlichen Wandel? Diese komplexen Fragen entziehen sich dem Zugriff einzelner Wissenschaften. Sie werden zur Zeit interdisziplinär im Rahmen eines Makro-Schwerpunkts der Universität Basel behandelt. Im Vordergrund stehen dabei zentrale Sozialisationsfelder wie Familie, Schule, Nachbarschaft sowie der besondere Verlauf der rechtsextremen und rassistisch motivierten Gewalt. Hinzu kommen die gesellschaftlichen Integrationsbedingungen für zugewanderte Heranwachsende sowie die latente und manifeste Gewalt, die sich aus Kontakten mit dem "Fremden" ergeben. Ferner interessieren der professionelle psychotherapeutische und psychiatrische Umgang mit Gewalttätern.

Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung gelten als wesentliche Kennzeichen des sozialen Wandels. Sie führen zu einer Verunsicherung, die autoritäre Verhaltensweisen verstärken kann. Ob sie auch die Bereitschaft fördern, verbindlichere soziale Beziehungen einzugehen, wird kontrovers diskutiert. Analysen der sozialen Differenzierung müssen sich auf konkretisierbare Lebenslagen beziehen. Ansätze liegen in Bezug auf die Schweiz und Deutschland vor. Verknüpfungen mit der Situation rechtsextremer Jugendlicher finden nur vereinzelt statt. Hier besteht also ein grosser Forschungsbedarf. Matthias Drilling und ich versuchen in einem gemeinsamen Projekt der Fachhochschule für Soziale Arbeit beider Basel und des Instituts für Soziologie der Universität Basel einzelne Lücken zu schliessen. Wir tun dies im Rahmen des erwähnten Makro-Schwerpunktprogrammes, das vom erziehungswissenschaftlichen Institut koordiniert wird.

Aber was heisst eigentlich "rechtsextrem"? Wir verstehen darunter zunächst die Gesamtheit von Einstellungen, Verhaltensweisen und Aktionen, die, ob organisiert oder nicht, von der rassisch oder ethnisch bedingten sozialen Ungleichheit der Menschen ausgehen. Sie postulieren die ethnische Homogenität von Völkern, lehnen das Gleichheitsgebot der Menschenrechts-Deklarationen ab, betonen häufig den Vorrang der Gemeinschaft und kritisieren den Wertepluralismus und die Demokratisierung. Dabei interessieren uns folgende Fragen: Welche geschlechtshierarchischen Gewaltmuster lassen sich bei rechtsextremen Jugendlichen erkennen? Wie hängen diese Gewaltmuster mit spezifischen Bedingungen der Sozialisation und der sozialen Differenzierung zusammen? Welche Möglichkeiten der Prävention und Intervention bieten sich an? Wir wollen bei diesem interdisziplinären Projekt auch herausfinden, welche Bezüge zwischen rechtsextremen Haltungen, den Lebenslagen (insbesondere der Einbindung in soziale Netzwerke sowie der Familien- und Schulsozialisation), der kulturellen Zugehörigkeit und der religiösen Prägung der Jugendlichen bestehen. Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen geschieht in Zusammenarbeit mit den VertreterInnen der Erziehungswissenschaften, der Ethnologie, der Theologie und der Psychotherapie. Ein wichtiges Ziel unserer Studie besteht darin, mit einer Mehrebenen-Analyse konkrete Konsequenzen für eine differenzierte Präventions- und Interventionsstrategie gegen rechtsextreme Gewalt zu entwickeln. Zur Zeit wertet die Projektgruppe die Akten und Dossiers von Jugendlichen aus, die während den vergangenen zwei Jahren im Kanton Basel-Stadt delinquiert haben. Auf dieser Grundlage erstellt sie bis im Herbst 2002 eine Typologie, die als Grundlage für die Auswahl jener Jugendlichen dient, mit denen wir bis im Sommer 2003 vertiefende Gespräche führen. Danach folgt der Präventions- und Interventionsteil. Der Schlussbericht liegt im Herbst 2004 vor.

Ueli Mäder ist Soziologe und – nebst seiner a.o.Professur an der Universität Fribourg – interimistischer Leiter des Instituts für Soziologie der Universität Basel. Er ist u.a.Verfasser folgender Fachliteratur: "Für eine solidarische Gesellschaft" (rpv, Zürich 1999) und (mit Elisa Streuli zusammen) "Reichtum in der Schweiz" (rpv, Zürich 2002).

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«Ich habe natürlich nie völlig unrecht.»

Michel Foucault (2006): Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Suhrkamp, S. 78.