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protestscheue jugend

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Zum politischen Engagement der Jugend 1981 und 1997

Die Einstellung und Bereitschaft zum Protest der Jugendlichen ist immer wieder ein Thema, v.a. auch in historischer Perspektive. Der Begriff der "Jugendunruhen" ist gängig, aber hat er für die heutige Zeit noch irgend eine konkrete Relevanz? Denn: Der Jugend wird in Medien und zum Teil auch in der Wissenschaft immer wieder politische Apathie, Egozentrismus, Orintierungslosigkeit usw. vorgerworfen.
Anja Fliege und Barbara Keller haben sich diesem Phänomen angenommen und geschaut, was dahinter steckt. Will die Jugend von heute im Vergleich zu der von gestern wirklich nichts mehr von den Problemen der Welt wissen?

SOZ:MAG-Beitrag von Anja Fliege und Barbara Keller

Die Jugend von heute wird insbesondere in den Medien und auch von einigen Sozialwissenschaftlern als unpolitisch und unengagiert dargestellt. Die "Generation X" der 90er Jahre wird verdächtigt, egozentrisch, wohlstandsverwöhnt, orientierungslos, apathisch und politikverdrossen zu sein und sich bestenfalls zu kommerziellen Happenings motivieren zu lassen. HipHop, Techno und Love-Parade seien das, was die Jugend von heute bewege. Behauptungen wie diese veranlassten uns dazu, in unserer Forschungs- und Lizentiatsarbeit zu untersuchen, wie sich Engagement und Protestverhalten der Jugendlichen zwischen 1981 und 1997 geändert haben – nicht nur in der Hoffnung, denjenigen etwas entgegenhalten zu können, die die politische Beteiligung der Jugendlichen bemäkeln (v.a. die Generation der 68er), sondern auch, um weitere Kenntnisse darüber zu gewinnen, ob und wie sich die politischen Ausdrucksformen der Jugendlichen inzwischen geändert haben und wenn ja, welche Faktoren diese Veränderung beeinflussten. Gearbeitet haben wir hauptsächlich mit den Datensätzen der Jugendstudien der Deutschen Shell von 1981 und 1997. Wo die Daten für unsere Interessen nur unzureichend waren, griffen wir wenn möglich auf andere Untersuchungen zurück.

Seit den 60er Jahren hat sich in Deutschland ein struktureller und kultureller Wandel vollzogen. Wir haben es heute mit tendenziell individualisierten Existenzformen zu tun – der Mensch ist das Zentrum seiner eigenen Lebensplanung und Lebensführung geworden. Traditionelle Familienformen sind aufgebrochen worden und die Anzahl alleinlebender Menschen hat zugenommen. Der Erwerbsverlauf ist nicht mehr vorgegeben, sondern muss von jedem/r selbst gestaltet werden, was zu Lebensunsicherheiten führen kann. Ausserdem hat bereits in den 50er Jahren eine Bildungsexpansion eingesetzt, die unter anderem dazu geführt hat, dass immer mehr junge Menschen im Bildungssystem verweilen und erst relativ spät ins Berufsleben einsteigen. Zwischen dem Status als Jugendlicher und Erwachsener hat sich sozusagen eine neue Lebensphase – die Postadoleszenz – eingeschoben. Die durch die Bildungsexpansion vorangetriebenen Individualisierungstendenzen begünstigen eine Erosion traditioneller Normen und Werte und ein Mehr an Pluralismus im Wertebereich und in den Lebensformen und Lebensstilen.

Trends des Wertwandels

Um Trends des Wertwandels zu erfassen, werden insbesondere Einstellungen der Jugend untersucht. Wir konnten zwischen 1981 und 1997 bei den 15-24jährigen westdeutschen Jugendlichen einen bedeutenden Wertwandel feststellen. Traditionelle Pflicht- und Akzeptanzwerte (z.B. Pflichtbewusstsein, auf Sicherheit bedacht sein, sich anpassen) waren für die breite Masse der Jugendlichen 1981 noch am wichtigsten. Selbstentfaltungswerte wurden damals vor allem von den höher gebildeten Jugendlichen entwickelt, waren aber unter den Jugendlichen insgesamt noch nicht besonders verbreitet. Bis 1997 nahmen die Selbstentfaltungswerte sehr stark zu (nach unseren Berechnungen etwa um 30% auf 65%), während die Pflicht- und Akzeptanzwerte in ihrer Bedeutung abnahmen. Auch die sozialen Werte, die 1981 noch einen sehr hohen Stellenwert bei der Jugend hatten, haben um etwa 30% abgenommen und sind 1997 mit 46% immerhin noch wichtiger als die Pflicht- und Akzeptanzwerte. Allerdings handelt es sich bei der Bedeutungsabnahme der sozialen Werte um einen gesamtgesellschaftlichen Trend. Das Streben nach einem hohen Einkommen hat seit 1981 um ca. 10% auf 49% zugenommen und befindet sich 1997 auf dem zweiten Rangplatz der Wertegruppenhierarchie nach den Selbstentfaltungswerten und vor den sozialen und Pflicht- und Akzeptanzwerten. Die Jugend 1997 legt also grössten Wert auf Selbstverwirklichung, will aber trotzdem materiell abgesichert sein. Die Zunahme der Selbstentfaltungswerte ist vor allem für die Engagement- und Protestbereitschaft der Jugendlichen von Bedeutung. Zum einen konstatierte Inglehart einen deutlichen Zusammenhang zwischen postmaterieller Orientierung und Protestbereitschaft, den wir auch anhand unserer Daten bestätigen konnten. Zum anderen haben die wichtiger gewordenen Selbstentfaltungswerte die Bereitschaft der Jugendlichen zu konventionellem Engagement vermindert.

Ungenügendes politisches Interesse?

Auch wenn die Jugend oft als unpolitisch hingestellt wird, hat das politische Interesse besonders zwischen 1952 und 1983 enorm zugenommen und stagniert seitdem mehr oder weniger auf dem gleichen Niveau – mit Ausnahme eines Zwischenhochs zur Zeit der Wiedervereinigung in Deutschland, als die Menschen allgemein politisch mobilisierter waren. Nach den Daten der Shellstudien hat das politische Interesse von 55% 1984 (für 1981 sind keine Daten verfügbar) auf 46.4% 1997 doch etwas abgenommen, es kann aber nicht von einer dramatischen Abnahme die Rede sein. Das Interesse, sich an Wahlen zu beteiligen, scheint bei den Jugendlichen schon 1981 nicht besonders ausgeprägt gewesen zu sein. Bereits damals wurde auf den grossen Nichtwähleranteil der Jugendlichen hingewiesen, und seit spätestens Mitte der 80er Jahre ist das Absinken der Wahlbeteiligung ein unbestrittenes Phänomen. Während der Nichtwähleranteil der Jugendlichen bei den Landtagswahlen 1978-80 bei 33.2% lag, gaben 34.43% der wahlberechtigten westdeutschen Jugendlichen in der Shellstudie ’97 an, nicht bei den letzten Wahlen gewesen zu sein. Diesen Angaben nach hätte der Nichtwähleranteil nur geringfügig zugenommen, allerdings stammen die Angaben von 1997 eben nicht aus einer Wahlstatistik, sondern von den Jugendlichen selbst. Die abnehmende Wahlbeteiligung wird auf eine einstellungsmässige Zurückhaltung der jungen Generation dem politischen System gegenüber interpretiert. Diese Zurückhaltung geht auf die Skepsis gegenüber den PolitikerInnen zurück, ob diese die politischen Herausforderungen der Zeit erkennen und bewältigen können.

Arbeitslosigkeit und Drogenprobleme, persönliche Probleme, Lehrstellenmangel, Ausbildungsprobleme und Zukunftsangst waren die am häufigsten wahrgenommenen Probleme der Jugendlichen von 1997. Bei der Frage nach der Eintretenswahrscheinlichkeit gesellschaftlicher Probleme waren die Antworten der Jugendlichen durchwegs pessimistisch – Ausnahme ist die Frage danach, ob sich die wirtschaftliche Krise verschärfen wird. Ansonsten äussert sich auch hier am stärksten die Angst vor der Arbeitslosigkeit, ausserdem die Angst vor zunehmender Gewalt und Umweltproblemen. Insgesamt sehen 50.8% der Jugendlichen 1997 die Zukunft der Gesellschaft pessimistisch. Und vor allem glaubt fast niemand daran, dass die PolitikerInnen diese Probleme in den Griff bekommen und bewältigen können.
1981 waren die Jugendlichen mit 57.5% bezüglich der gesellschaftlichen Zukunft noch etwas pessimistischer eingestellt – damals sahen nur 42.3% der Jugendlichen der Zukunft "eher zuversichtlich" entgegen. Auch die wahrgenommenen gesellschaftlichen Probleme weichen von denen der Jugend ’97 ab: Probleme der Umweltzerstörung und Ressourcenausbeutung, Angst vor der Umweltzerstörung durch Technik und Chemie und auch Angst vor zunehmender Isolation und Egoismus der Menschen stehen an vorderster Stelle. Drogenkonsum und Gewalt scheinen damals weniger dominierende Themen für die Jugendlichen gewesen zu sein.
Auch wenn die Jugendlichen 1997 schon etwas optimistischer als noch 1981 in die Zukunft blicken, sehen sie sich mit immensen gesellschaftlichen Problemen konfrontiert und haben gleichzeitig keine grosse Hoffnung, dass sich diese Situation verbessern wird. 1992 waren 74% (IBM-Jugendstudie) der westdeutschen Jugendlichen der Ansicht, dass PolitikerInnen und Parteien mehr an ihrer eigenen Macht interessiert sind als am Wohl der Bürger, und 1995 gaben 67% der Befragten an, keine(n) fähige(n) PolitikerIn zu kennen. Auch haben 1997 mehr als die Hälfte der Jugendlichen nur wenig Vertrauen in politische Institutionen wie Bundesregierung, Bundestag und politische Parteien, während 92.8% Greenpeace viel Vertrauen entgegenbringen. Da erstaunt es eigentlich, dass die Jugendlichen überhaupt wählen gehen. 1981 und auch 1997 gaben jeweils etwa 30% der Befragten an, keiner Partei nahe zu stehen, wobei man davon ausgeht, dass etwa drei Fünftel von ihnen eine Parteiorientierung bewusst ablehnen. Die übrigen Jugendlichen stehen vor allem den Grünen (1981:20.3%/ 1997:33.6%) und der SPD nahe (1981:23.7%/ 1997:21.6%), und auch die CDU gehört noch mit zu den favorisierten Parteien (1981:17.8%/ 1997:16.6%). Gegenüber radikalen Parteien auf der linken und rechten Seite sind die Jugendlichen bemerkenswert resistent.

Neue Formen des Engagements

Dass die Mehrheit der Jugendlichen einer Partei nahe steht, sagt noch nichts über ihre Mitgliedschaft in Parteien aus, welche über Mitgliederrückgänge besonders bei den Jugendlichen klagen. Seit 1983 haben die grossen Parteien 90.000 (Jusos) bzw. 100.000 (Junge Union) Mitglieder in ihren Jugendorganisationen verloren. 1997 gaben in der Shellstudie nur 1.7% der Jugendlichen an, Mitglied in einer politischen Partei zu sein. Diese Zahlen und auch jene der Wahlbeteiligung weisen auf einen drastischen Rückgang des politischen Engagements im konventionellen Bereich hin. Aber auch in anderen Verbänden wie Umweltschutz- und Menschrechtsorganisationen ist die Partizipation Jugendlicher zurückgegangen, was jedoch nicht auf einen allgemeinen Rückzug der Jugendlichen hindeutet. Diese halten es nach wie vor für wichtig, sich für Umweltbelange einzusetzen, allerdings werden flexible, situationale und freiwillige Engagementformen wichtiger als feste Mitgliedschaften. Es zeigt sich also eine Abnahme des sozialen und politischen Engagements in herkömmlichen Kanälen. In den übrigen Bereichen des Engagements – wie im Bereich der Rettungsdienste, der freiwilligen Feuerwehr, im schulischen, kulturellen und kirchlichen Bereich sowie im Bereich von Sport und Geselligkeit – stellen die Jugendlichen eine besonders aktive Gruppe dar.
Wie eingangs schon angesprochen, ist die Abnahme des politischen und sozialen Engagements im konventionellen Bereich darauf zurückzuführen, dass sich in der Gesellschaft ein Wertwandel vollzogen hat, an den die Institutionen sich noch nicht angepasst haben. Die Engagementangebote widersprechen den neu entwickelten Werten vor allem in dem Sinne, dass sie noch immer einen "selbstlosen Diener" erwarten, der sich opfert und bedingungslos einer sozialen Aufgabe hingibt und auf die Befriedigung seiner eigenen Interessen verzichtet. Inzwischen hat sich aber – nicht nur bei den Jugendlichen – der Wunsch nach einem Engagement entwickelt, das es erlaubt, eigene Bedürfnisse nach interessanten Erfahrungen zu befriedigen, Spass zu haben, Kenntnisse einzubringen, Mitsprachemöglichkeiten zu haben und das sich auch anderen Interessen flexibel anpassen lässt. Wenn also verschiedene Institutionen und Organisationen über mangelndes Engagement klagen, wären sie als erstes darin gefordert, ihre Strukturen so zu ändern, dass das Engagement wieder attraktiver wird, und den Wünschen der Engagierten, aber auch der Engagementbereiten und doch nicht Engagierten, entgegenkommt. Die Kluft zwischen tatsächlichem Engagement und der Bereitschaft dazu ist immens – attraktivere Angebote könnten also ein erhebliches Potential an Engagement ausschöpfen.

Protestbereitschaft 1981 und 1997

Die Abnahme des konventionellen Engagements lässt vermuten, dass sich die Aktivitäten der Jugendlichen eher in den Bereich der unkonventionellen politischen Beteiligung verlagert haben. Unser nächstes Ziel war deshalb, herauszufinden, wie sich die Protestbereitschaft zwischen 1981 und 1997 quantitativ verändert hat; Es stellte sich jedoch als nicht ganz einfach heraus, vergleichbare empirische Daten zu finden. In den beiden Shell-Studien hatte man sich der Protestbereitschaft der Jugendlichen auf sehr unterschiedliche Weise angenähert, so dass aufgrund dieser Daten nicht festgestellt werden kann, ob es im Untersuchungszeitraum von sechzehn Jahren zu quantitativen Veränderungen gekommen ist. Andere Studien zu Jugend und Protest wurden häufig qualitativ durchgeführt und waren somit für unsere Zwecke ebenfalls nicht geeignet. Ausserdem stellten wir fest, dass die meisten Jugendforscher, welche die Protestmüdigkeit der heutigen Jugend beklagen, selbst keinerlei Daten erhoben haben, um ihre Vermutungen, die meistens aus der Individualisierungsthese abgeleitet wurden, zu stützen. Wir sind deshalb nicht in der Lage, eindeutige Ergebnisse zu liefern, die beweisen würden, wie sich die Protestbereitschaft der Jugend effektiv verändert hat und welche Trends sich beobachten lassen. Wir können anhand unserer Daten allerdings einige Vermutungen aufstellen, die das – vor allem durch die Massenmedien transportierte – Bild der hedonistischen Jugend um den Jahrtausendwechsel etwas relativieren.
Bei der Literaturrecherche ist uns als erstes aufgefallen, dass das Bild der Jugend als revolutionäre Kraft und als Speerspitze des sozialen Wandels schon sehr alt ist und bis zu den ersten Konzeptionen einer eigenständigen Lebensphase Jugend zurück reicht. Die gesellschaftliche Wahrnehmung der Jugend bewegte sich seither ständig im Spannungsfeld zwischen romantisiertem Jugend-Mythos und einer funktional-integrativen Konzeption von Jugend. Daher erstaunt es nicht, dass sich aktuelle Beschreibungen und Analysen der Jugend immer noch an diesen beiden Richtungen orientieren und je nach subjektivem Standpunkt der Forscher zu anderen Ergebnissen und Beobachtungen kommen. Dabei wird aber meistens vergessen, dass die Jugend keine homogene Gruppe darstellt und dass dies auch bei den Unruhen Anfang 80er oder Ende 60er Jahre nicht anders gewesen ist. Die protestierenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen stellten schon immer nur eine Minderheit dar, während politisch Uninteressierte und Unengagierte die Mehrheit ausmachten. Hinzu kommt, dass jugendkultureller Protest nicht immer progressiv und linksgerichtet sein muss, sondern – wie im Fall der rechten Skinheads oder der Faschos und Neonazis – auch reaktionär sein kann.

1981 stimmte ungefähr ein Drittel aller befragten Jugendlichen Sprüchen aus dem linken Protestmilieu wie "Legal – illegal – scheissegal!" oder "Macht kaputt, was euch kaputt macht!" zu, die anderen zwei Drittel lehnten solche Sprüche ab. Dem gegenüber stand ein anderes Drittel, das rechtsextremen und ausländerfeindlichen Sprüchen wie "Kanaken raus!" oder "Todesstrafe für Terroristen, Rauschgifthändler und Sexualmörder!" zustimmte. Angesichts dieser Zahlen lässt sich das Bild einer revolutionären, progressiven Jugend bereits für 1981 falsifizieren; die progressiven Jugendlichen hielten sich mit den regressiven die Waage, während die gemässigte Mehrheit keiner Seite zustimmte. Ökologische Belange scheinen hingegen bei einem grösseren Teil der Jugendlichen Anklang zu finden: 65.9% identifizierten sich mit dem Spruch "Auto fahren – nein danke!" und immerhin 48.3% mit dem Spruch "Atomkraft – pfui Deibel!". Aufgrund dieser Zahlen lässt sich allerdings nur auf ein latentes Protestpotential, nicht jedoch auf die effektive Protestbeteiligung schliessen. Einige Anhaltspunkte dazu geben folgende Zahlen: 31% der befragten Jugendlichen bezeichneten sich selbst als Umweltschützer, 19.7% als Kernkraftgegner und nur 2% als Hausbesetzer, obwohl die Besetzerbewegung 1981 in Deutschland ihr absolutes Hoch gefeiert hatte.

1997 wurde die Protestbereitschaft konkreter erhoben, nämlich indem nach der eigenen Beteiligung an verschiedenen Aktionen gefragt wurde. Dabei stellte sich heraus, dass sich 66.3% der befragten Jugendlichen schon einmal an einer Unterschriftenaktion beteiligt hatten, und 42.5% nahmen schon mindestens einmal an einer bewilligten Demonstration teil. 25.6% hatten an einem Boykott mitgemacht, rund 18% schrieben bereits Briefe an Politiker und an die Medien, 9.1% arbeiteten in einer Bürgerinitiative mit und 8.1% beteiligten sich an einem wilden Streik. 14.8% der Jugendlichen hatten sich notfalls schon mit Gewalt gegen falsche Ansichten gewehrt und 9% vertraten die eigenen Interessen auch bei Aktionen, die zu Sachschaden führten. 15.6% bezeichneten sich selbst als Tierschützer, 13.3% gehörten der Öko-Bewegung an, 6% waren Gentechgegner und nur noch 5.6% bezeichneten sich als Kernkraftgegner (1981: 19.7%). 3.4% rechneten sich den 3.Welt-Initiativen zu und 4.8% waren Teil der Menschenrechtsbewegung; die Hausbesetzer sanken auf 0.6% und als Fascho oder Neonazi wollte sich niemand selbst bezeichnen. Wir denken, dass diese Zahlen dafür sprechen, dass die Jugend von 1997 nicht als apathisch, entpolitisiert oder protestscheu bezeichnet werden kann, denn immerhin beteiligte sich fast jeder zweite schon mindestens einmal an einer bewilligten Demo, und auch sonst erscheint uns die Mobilisierung zu den einzelnen Aktionen recht hoch.

Angesichts der vielen neuen Jugendanalysen, in denen immer wieder die Konsumfreudigkeit, die Politikabstinenz und die Gleichgültigkeit der jungen Generation festgestellt wird, drängt sich der Verdacht auf, dass die Jugendforschung selbst Opfer der Medienmanipulation geworden ist und in den 90er Jahren durch den Techno-Boom geblendet wurde. Die meisten Beschreibungen der Jugend in den 90er Jahren gleichen einer Studie der Techno-Kids, wobei sogar diese Ausführungen in der diagnostizierten Oberflächlichkeit steckenbleiben. Während der Verlust der politischen Protestbereitschaft zugunsten eines abgeschwächten kulturellen, dafür aber sehr medienwirksamen Protests beklagt wird, bleiben die diversen sozialen Gruppierungen, Subkulturen und Bewegungen, die nicht in dieses Bild passen, unbeachtet. Heute fällt es schwer, zu glauben, dass man der Jugend 1980 schon einmal eine ähnliche Diagnose gestellt hatte; auch damals glaubte man nicht daran, dass diese Jugend jemals auf die Barrikaden gehen würde, da sie viel zu konsumfreudig und verwöhnt sei. Wenige Monate später brachen in ganz Europa die wohl heftigsten Jugendunruhen aus, die man je gesehen hatte. Die meisten Proteste entstehen eben zyklisch und können nur schwer vorausgesagt werden. Auch wir können nicht erklären, unter welchen Umständen es zu einer Aktivierung des Protestpotentials kommt und unter welchen nicht. Wir können auch keine Zukunftsprognose erstellen, doch wir vermuten, dass die Protestbereitschaft der Jugend auch heute noch lebendig ist und jederzeit wieder hervorbrechen kann, wie sich in letzter Zeit besonders bei der weltumspannenden Anti-Globalisierungsbewegung zeigte.

Wie gedeiht Protestbereitschaft?

Wir untersuchten deshalb in einem letzten Schritt, welche gesellschaftlichen und politischen Einstellungen der Jugendlichen die Bildung von Protestpotential begünstigen und welche Rolle dabei die Nähe zu gewissen Jugendkulturen spielt. Dabei stellten wir fest, dass zum Beispiel zwischen der Parteipräferenz der Jugendlichen und ihrer Protestbereitschaft ein starker Zusammenhang besteht. Wähler der Grünen oder der PDS setzen sich häufiger für ein Anliegen ein als Anhänger von SPD und CDU. Auch das Vertrauen, welches die Jugendlichen verschiedenen staatlichen und unabhängigen Institutionen und Organisationen entgegenbringen, wirkt sich auf die Protestbereitschaft aus: Jene, die den staatlichen Institutionen oder den Medien wenig Vertrauen entgegenbringen, sind tendenziell häufiger an Protesten beteiligt. Jugendliche hingegen, die politisch hoch entfremdet sind und dem politischen System nicht viel zutrauen, neigen weniger zu Protest, sondern ziehen sich eher passiv zurück. Weiter haben wir festgestellt, dass Jugendliche mit einer hohen Problemwahrnehmung und einer düsteren Zukunftseinschätzung stärker protestbereit sind als andere. Auch die Wertvorstellungen spielen eine Rolle: Jugendliche, denen postmaterielle und soziale Werte wichtig sind, sind häufiger an Protesten beteiligt, während Jugendliche, die materielle Werte oder Werte der Anpassung hochhalten, sich – wenn überhaupt – eher institutionalisiert engagieren. Bei der Sympathie, die die Jugendlichen verschiedenen Jugendkulturen und Bewegungen entgegenbringen, zeigte sich, dass sich die Nähe zu linksautonomen Kulturen und sozialen Bewegungen positiv auf die Protestbereitschaft auswirkt, während Anhänger unpolitischer Freizeitkulturen seltener an Protesten beteiligt sind.

Aufgrund unserer Ergebnisse halten wir fest, dass das konventionelle Engagement Jugendlicher im Untersuchungszeitraum von 1981 bis 1997 eine Abwertung erfahren hat und dass politische Einstellungen, Zukunfts- und Problemwahrnehmungen, sowie Werthaltungen einen Einfluss auf deren Protestbereitschaft ausüben. Der effektive Protest ist jedoch aufgrund der Medien- und Konjunkturabhängigkeit und fehlender quantitativer Daten über einen längeren Zeitraum hinweg empirisch nur schwer erfass- und nachweisbar.

Die Autorinnen studieren an der Uni Zürich im Hauptfach Soziologie und im zweiten Nebenfach Pädagogik. Im ersten Nebenfach studiert Anja Fliege Ethnologie, Barbara Keller Geschichte der Neuzeit.

Literaturauswahl

Breyvogel, Wilfried (Hrsg.): Autonomie und Widerstand. Zur Theorie und Geschichte des Jugendprotestes. Essen: Rigodon Verlag, 1983.
Heitmeyer, Wilhelm und Jacobi, Juliane (Hrsg.): Politische Sozialisation und Individualisierung. Perspektiven und Chancen politischer Bildung.Weinheim/München: Juventa Verlag, 1991.
Manrique, Matthias: Marginalisierung und Militanz: Jugendliche Bewegungsmilieus im Aufruhr. Frankfurt a.Main: Campus Verlag, 1992.
Mansel, Jürgen; Schweins, Wolfgang; Ulbrich-Herrmann, Matthias (Hrsg.): Zukunftsperspektiven Jugendlicher. Weinheim und München: Juventa Verlag, 2001.
Palentien, Christian; Hurrelmann, Klaus (Hrsg.): Jugend und Politik. Neuwied; Kiftel; Berlin: Luchterhand Verlag, 1997.
Roth, Roland und Rucht, Dieter (Hrsg.): Jugendkulturen, Politik und Protest - Vom Widerstand zum Kommerz? Opladen: Leske + Budrich, 2000.

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Auguste Comte, Leitsatz positivistischer Soziologie