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soziologie.ch soz:mag#5 kriegskost und konsumfreude

kriegskost und konsumfreude

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Über den Wandel der KonsummentalitĂ€t im Baselbiet der 1950er Jahre

Ein unspektakulĂ€res StĂŒck Schweizer Geschichte liegt dem folgenden Beitrag zu Grunde: das Essen wĂ€hrend der 1950er Jahre, als die kriegsbedingte Lebensmittelrationierung zu Ende ging und ein prosperierender Zeitabschnitt neue Konsummuster und ErnĂ€hrungsgewohnheiten einleitete. Die Autorin geht der Frage nach, wie sich im lĂ€ndlichen Baselbiet diese KonsummentalitĂ€t im Lebensmittelbereich entwickelte und zieht hierfĂŒr ein Interview mit einem ehemaligen Metzgerehepaar des Waldenburgertals bei. Der Methodenansatz der ‚Oral history‘ nach Vierhaus (1995) ermöglicht einen Zugang, der Gewöhnliches aus dem Alltag zu nicht nur historisch, sondern auch kultursoziologisch Wertvollem macht. Zur Illustration – ohne direkten Textbezug – werden einige Abbildungen aus einem Schweizer Kochbuch von 1948 eingefĂŒgt. Bon appetit!

SOZ-MAG Beitrag von Muriel Degen

WĂ€hrend des Zweiten Weltkrieges wurde die Schweiz, was die Lebensmittelversorgung betrifft, in die Enge getrieben: Als rohstoffarmes Binnenland bedurfte es grosser Anstrengungen, um die ErnĂ€hrung der Bevölkerung auf einem minimalen Stand zu gewĂ€hrleisten. Weite Bevölkerungskreise wurden deshalb auf Sparsamkeit getrimmt, die nun als Voraussetzung des Fortbestehens des Vaterlandes galt. Verschwenderisches Umgehen mit Nahrungsmitteln wurde quasi zum Landesverrat. Dazu das eidgenössische KriegsernĂ€hrungsamt 1936: „Jede Verderbnis, Vergeudung oder unzweckmĂ€ssige Verwendung von Nahrungsmitteln ist eine SchmĂ€lerung dessen, was dem Volksganzen zur Erhaltung dienen muss. Wenn in jeder der eine Million Haushaltungen unseres Landes auch nur ein Kilogramm Kartoffeln verloren geht, so macht dies 100 Wagenladungen zu zehn Tonnen aus!“ Nicht zu unterschĂ€tzen ist die soziale Wirkung dieser damals aufkommenden ‚Spar- und VorratsmentalitĂ€t‘: es entwickelte sich ein ausgesprochener Sinn fĂŒr die kollektive Verantwortung einer ökonomischen Verwendung der Lebensmittel.

Erfindergeist und Durchhaltewille: Die Rolle der Hausfrauen

Das eidgenössische KriegsernĂ€hrungsamt erkannte, dass die Zusammenarbeit mit Frauenorganisationen unerlĂ€sslich war, um einschrĂ€nkende Massnahmen in praktischen ErnĂ€hrungs- und Kochfragen mittels AufklĂ€rungsschriften bis in die einzelnen Haushalte vermitteln zu können. Ausserdem ernannte das KriegsernĂ€hrungsamt vier hauswirtschaftliche Expertinnen, die sich an der Ausarbeitung von MerkblĂ€ttern beteiligten. Dazu wurde eigens eine VersuchskĂŒche eingerichtet, in der rege Kochversuche durchgefĂŒhrt wurden, um verschiedene Ersatzstoffe auf ihre Brauchbarkeit in privaten Haushalten zu prĂŒfen. Die SparmentalitĂ€t setzte voraus, dass man opferbereit und den UmstĂ€nden entsprechende Anpassungen vornahm, die Essgewohnheiten und -kultur beschnitten. Die knappen Zuteilungen an Eiern, Reis und Milch sowie die kleinen Fleischrationen bedingten einschneidende Änderungen im MenĂŒplan. In der oben erwĂ€hnten BroschĂŒre wurden unter anderem konkrete Rezepte aufgefĂŒhrt, die der sparsamen Hausfrau Hand boten, alternative Zutaten zu verwerten, z.B. wie sich FleischstĂŒcken der billigsten Preisklasse in schmackhafte Ragouts verwandeln lassen.

Schliesslich, im Schlussbericht zur schweizerischen Kriegswirtschaft 1950, werden die Hausfrauen aufs höchste gelobt: „Ihrer AnpassungsfĂ€higkeit, ihrem fachlichen Können und ihrer VirtuositĂ€t, die EinschrĂ€nkungen durch ihre hauswirtschaftliche Findigkeit zu mildern, ist es weitgehend zuzuschreiben, dass die Mangelwirtschaft wĂ€hrend des Krieges erfolgreich gemeistert werden konnte.“

Konsumfreude: Aufschwung und steigender Lebensstandard

WĂ€hrend der 1950er Jahre erlebte die Schweiz eine anhaltende Phase materiellen Aufschwungs. Nach wenigen Jahren war aus dem Wiederaufbau des kriegszerrĂŒtteten Europa eine ProsperitĂ€tskonstellation hervorgegangen, welche auch die ökonomischen Möglichkeiten der Schweizer Familien erweiterte und deren Kaufkraft steigerte. Folglich fanden Konsum- und LuxusgĂŒter, die bis in die 1950er Jahre als unerschwinglich und unerreichbar galten, den Weg in die einzelnen Haushalte.

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Die 1950er Jahre kamen damit einer ZĂ€sur in der alltĂ€glichen LebensfĂŒhrung gleich. Propagiert wurde ein Lebensstil, der sich am ‚American way of life‘ orientierte. Alles Neue wurde als gut empfunden, wer dem Tempo neuer Entwicklungen und Angebote im Bereich ErnĂ€hrung, Wohnen, MobilitĂ€t und Freizeit nicht folgte wurde als ‚unmodern‘ deklassiert.

Neues auf den Tellern

In diesem Zeitraum revolutionierte sich auch die Nahrungsmittelproduktion und -distribution fast vollstĂ€ndig. Was das Essen betrifft, bildeten sich nach den mageren Jahren ein NachholbedĂŒrfnis sowie teilweise demonstrativer Konsum heraus. Lebensmittel wurden zum erschwinglichen Luxus, fast jedeR vermochte sich etwas ÜberflĂŒssiges zu leisten oder nach den Jahren der Ersatzprodukte wie ChicorĂ©ekaffee, falschem Honig etc. wieder ‚alte‘ QualitĂ€ten bekannter Marken zu kaufen. Jedoch sind dem Essen Grenzen gesetzt: Mehr als Sattessen geht nicht. Deshalb konnte nur ĂŒber die Ausdifferenzierung des Lebensmittelangebotes das leibliche Wohl weiter gesteigert werden. Neben Produkten des regionalen Marktes etablierte sich das Angebot des gesamten Globus, das einen ersten Hauch von Exotik in den Alltag brachte.

Auf dem Lande: Ein Metzgerehepaar erzÀhlt

Das Obere Baselbiet, rÀumlich geteilt durch seine verschiedenen TÀler, war wÀhrend der 1950er Jahre eine bÀuerlich geprÀgte Region. Im Waldenburgertal etwa bestand die Bevölkerung grösstenteils aus LandwirtInnen und ArbeiterInnen, die meist im selben Dorf lebten und arbeiteten. Durch die KleinrÀumigkeit und eine eher geringe MobilitÀt bildeten die DorflÀden die zentralen Einkaufsorte. Anders als in der Stadt funktionierte die Kundenbindung noch sehr persönlich und die QualitÀt der Nahrungsmittel wurde direkt mit den lokalen ProduzentInnen oder VerkÀuferInnen in Verbindung gebracht. Folgende Ausschnitte eines Interviews mit einem ehemaligen Metzgerehepaar veranschaulichen die Konsumgewohnheiten und die Eigenheiten der Kundenbindung in dieser Zeit.

Wandel der ErnÀhrungsgewohnheiten

Die Dorfmetzgerei im Waldenburgertal, die im Folgenden exemplarisch beschrieben wird, konnte wĂ€hrend der 1950er und 1960er Jahre auf der Konsumwelle mitreiten und profitierte vom Nachholbedarf der dörflichen Bevölkerung, die nach dem Krieg gerne in Nahrungsmittel – und insbesondere in Fleisch – investierte. („M“ ist die Interviewerin, „K“ die ehemalige Metzgerfrau und „E“ der ehemalige Metzger)

K: Als wir nach Niederdorf gekommen sind, am ersten Dezember 1949, hat man dann keine MĂ€rkli mehr gehabt und da haben dann die Leute recht eingekauft, da hat es dann nicht geheissen, schneiden sie das Fett ab, im Gegenteil, die haben gern das Fett gehabt.

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Mit der Absetzung der Lebensmittelrationierung und der zaghaften ökonomischen Besserstellung der lĂ€ndlichen Bevölkerung bildete sich ein GefĂŒhl des Sich-etwas-leisten-Könnens heraus, das sich gerade im Fleischkonsum Ă€usserte. Fleisch gehörte zu einem wĂ€hrschaften Essen immer selbstverstĂ€ndlicher dazu.

M: Aber was habt ihr dann fĂŒr Produkte konkret gehabt? K: Also einfach afĂ€ das und nachher hat man Klöpfer gehabt und hat SchĂŒblig gehabt und SchweinswĂŒrstchen, das ist eine SpezialitĂ€t gewesen vom Ätti, wunderbare, wunderschöne. Und nachher hat man noch [E: Speck] Speck gehabt, das ist klar, und nachher hat man Aufschnitt gehabt. Aber zuerst hat man nur so Lyoner und FleischkĂ€se haben wir von Anfang an ziemlich viel gebraucht, so ein paar Sorten weisst du, und nachher... M: Und das habt ihr selber gemacht? K: Alles selber gemacht, jaja. Ja den Salami haben wir dann allwĂ€g auch schon ein bisschen gehabt, aber man hat damals noch nicht so viel solche Sachen gebraucht. Und spĂ€ter haben wir dann viel mehr gebraucht, auf Weihnachten hin haben wir dann manchmal 70 Kilo Salami verkauft. M: Ja? E: Stell du dir das vor.

Die Nachfrage nach Fleisch hat sich in den ersten Nachkriegsjahren vervielfacht. Verkauft wurden insbesondere ganze FleischstĂŒcke, die von Hausfrauen selbst weiterverarbeitet wurden. Durch die intensive Hauswirtschaftslehre und das frĂŒhe Einbinden junger Frauen in die KĂŒchenarbeiten war das Kochen auf dem Lande eine selbstverstĂ€ndliche FĂ€higkeit der Hausfrauen.

AllmĂ€hlich hat man sich in der Metzgerei den neuen KundenbedĂŒrfnissen angepasst und neue Angebote lanciert:

M: Aber grundsĂ€tzlich ist das Sortiment Ă€hnlich geblieben? Oder hat es auch neue Sachen? K: Ja, das hat man natĂŒrlich schon gemacht. Und man hat ja doch auch schon Fertigprodukte gemacht: Cordon bleu, Fleischvögel, Hackbeefsteak. Da haben wir ein Maschindli gehabt, mit dem man Beefsteak hat machen können. Und nachher haben wir einen Grill gehabt, auf dem man Poulets grillieren konnte. E: Man hat sich einfach bewegt, man hat etwas gemacht! K: Wir sind im Tal die einzigen gewesen, die eine KĂŒhltruhe besassen und Fische verkauft haben. Der GrĂŒndonnerstag, das ist mein liebster Tag gewesen, da habe ich nur Fische verkauft. SchĂ€chteli da, vier, drei... Die Bauern, die haben am Karfreitag dann eben Fisch gemacht – ja und jetzt könnte man in jedem LĂ€deli Fisch kaufen.

Auch die italienischen GastarbeiterInnen im Tal inspirierten die Metzgerin, das Sortiment zu erweitern:

K: Und dann haben wir noch so BĂŒchsli gehabt, weisst du, mit so Fleisch drin, was die Italiener gekauft haben. Aber ich weiss nicht mehr, wie das hiess. Ich habe auch nie davon gegessen.

Neuerungen auf dem Speisezettel wurden auf dem Lande scheinbar eher zurĂŒckhaltend aufgenommen. Das Metzgerehepaar erklĂ€rt jedoch, dass man gewisse Innovationen ins Ladenangebot integriert habe und sich von wandelnden BedĂŒrfnissen habe beeinflussen lassen: beispielsweise in Form von saisonalen SpezialitĂ€ten (mit BrĂ€t gefĂŒllte ‚Saublaatern‘ in Ostereierform) oder Experimenten in der Einkaufsform (ein ‚NĂŒelchörbli‘, bei dem die KundInnen die Waren anfassen konnten).

Im Interview wird deutlich, dass man trotz des wirtschaftlichen Booms von der Hand in den Mund lebte. Es gab nur wenige Ersparnisse, von denen man zehren und sich etwas Luxuriöses hĂ€tte leisten können. Man orientierte sich hĂ€ufig an sorgfĂ€ltig aufgestellten Haushaltsbudgets, das saisonalen Schwankungen unterlag. Beispielsweise war die Haushaltskasse der Metzgersfamilie erst nach den WeihnachtsverkĂ€ufen wieder gefĂŒllt, so dass grössere Weihnachtsgeschenke fĂŒr die Kinder mit einer gewissen VerspĂ€tung erstanden wurden.

Kundenbindung

Die persönliche Kundenbindung war ein ganz wesentliches Kapital der kleinen dörflichen GeschÀfte. Die Zufriedenheit der Kundschaft war oberstes Gebot, weil man in einer grossen AbhÀngigkeit zu ihr stand: Die Grösse der Kundschaft und deren Kaufwille beeinflusste den GeschÀftserfolg der SelbstÀndigen sehr direkt. Oft opferte man dem GeschÀft zuliebe die eigene PrivatsphÀre und wurde quasi zur öffentlichen Person des Dorfes. Als Ausdruck der Dankbarkeit um Kundentreue, zu Zeiten, als der Konkurrenzdruck auf die kleine Metzgerei zunahm, legte man auf kleine Aufmerksamkeiten grossen Wert:

K: Die Frau Matter von da oben, das ist unsere allererste Kundin gewesen, der haben wir dann immer die Blumen getrĂ€nkt auf dem Friedhof (lacht). E: Ich erinnere mich an eine Kundin, die hat ein Buscheli [Baby; MD] bekommen und dann ist sie in den Laden gekommen und KlĂ€rli hat ihr ein bisschen Schinken gegeben und ihr gratuliert und gefragt wie es geht. Das ist doch der Kontakt gewesen. K: Ja, man hat allen Leuten ein Geschenkli gegeben. Wenn sie fĂŒr ĂŒber 50 Franken eingekauft haben, hat man ihnen ein PÀÀrli Wienerli gegeben. Mei, wenn man es vergessen hat! Einmal hab ich es vergessen und nachher, (lacht) die Kundin hat nichts getraut zu sagen und dann ist dann die Schwiegermutter gekommen und hat es mir gesagt. Die haben halt schon mit dem gerechnet gehabt, mit einem PÀÀrli Wienerli, wenn du dir das ĂŒberlegst!

Durch die enge Kundenbindung entwickelten sich DorflĂ€den wie die Metzgerei zur Drehscheibe sozialer Kontakte. Das beratende GesprĂ€ch beim Einkauf wird sich oftmals ĂŒber den Einkauf hinweg fortgesetzt haben, wie es Luise Zwahlen, SekretĂ€rin des Verbandes der Lebensmittel-Detaillisten ausdrĂŒckte: „Das Teilnehmen an den Geschicken der Konsumentin – der Hausfrau und Mutter – liegt niemandem besser als der Detaillistenfrau. Sie bildet die geistige BrĂŒcke von Detaillistenfamilie und Kundenfamilie, von GeschĂ€ft zu KĂŒche und Haushalt.“

Das Ende des Dorfladens

GrundsĂ€tzlich lĂ€sst sich feststellen, dass gegen Ende der 1960er Jahre die Bedeutung der Lebensmittel merklich abnahm. Die Pluralisierung und Ausdifferenzierung war bei Nahrungsmitteln schneller erschöpft als in den Bereichen Wohnen, Kleidung, MobilitĂ€t, Reisen. FĂŒr den kleinen Metzgereibetrieb hatte die stets wachsende Konkurrenz substanzielle Folgen:

E: Das ist das, was mir dann plötzlich etwas zu Denken gegeben hat. Ich bin einer gewesen von gestern, weisst du, und jetzt kommt die neue Zeit. Ich habe Angst gehabt und dann hat man eben dann die Metzgerei nach 25 Jahren aufgegeben, weisst du. M: Aber was hat dir denn genau Angst gemacht, das Neue oder Moderne? E: Eh, die neue Zeit. Da als plötzlich die schlanke Linie aufgekommen ist, dann hast du nicht gewusst, wenn du ein StĂŒckchen Fleisch hast wollen abschneiden und du alles Feisse hast wegschneiden mĂŒssen, da hast du manchmal nicht gewusst, kommst du auf deine Rechnung?

Schluss

WĂ€hrend die historische Literatur die 1950er und 1960er Jahre fast durchgĂ€ngig mit der glitzernden und schier unerschöpflichen Warenwelt in Verbindung bringt, zeigt das Interview mit dem ehemaligen Metzgerehepaar ein anderes Bild: von Massenkonsum kann im dörflichen Kontext von Niederdorf keine Rede sein. Auf dem Land gab es keinen ersichtlichen Grund, sich vom bewĂ€hrten Versorgungssystem zu lösen, das die lokale und regionale Lebensmittelproduktion förderte und zwischen VerkĂ€uferInnen und Kundschaft Vertrauen schuf. WĂ€hrend man in der Stadt vermehrt auf die Arbeitsteilung vertraute und die Nahrungsmittel nicht selbst produzierte und verarbeitete, blieben die BĂ€uerInnen und ArbeiterInnen des Waldenburgertals eher bei konventionellen, wo möglich subsistenzwirtschaftlichen Versorgungsformen, die kostengĂŒnstiger und dadurch fĂŒr grössere Familien adĂ€quater waren.

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Seit Bourdieus Darstellung in „Die feinen Unterschiede“ (1982) wissen wir, dass Lebensstile an soziale Positionen geknĂŒpft sind. Milieuspezifische Dispositionen entwerfen fĂŒr das lĂ€ndliche Arbeiter- und Bauernmilieu eine bestimmte Vorstellung ‚guter‘ ErnĂ€hrung, ein bestimmtes Körperbild, eine bestimmte Art des gemeinsam Essens. Diesen die ErnĂ€hrung und den Konsum betreffende Habitus lĂ€sst uns auch das Konsummuster verstehen, das die lĂ€ndliche Bevölkerung wĂ€hrend der 1950er Jahre geprĂ€gt haben muss: ErnĂ€hrung ist dazu da, dem funktionalen Körper zu geben, was er braucht; ein ungezwungenes, gemeinsames Essen, bei dem alle genug bekommen, wird einem formvollendeten vorgezogen; am liebsten bereitet man die Speisen selber zu, weil es sich bewĂ€hrt hat und keiner Änderung bedarf – es besteht wenig Anspruch, modern zu sein. Bourdieu schreibt diesbezĂŒglich, dass der Bauer den Essgewohnheiten der oberen Schichten nicht zuletzt seine ‚Moral des guten Lebens‘ gegenĂŒberstellt. Einer der gut zu leben vermag sei in dessen Augen nicht nur, wer gut essen und trinken mag, sondern dem es gegeben sei, in eine generöse und familiĂ€re, will heissen schlichte und freie Beziehung zu treten, die durch gemeinschaftliches Essen und Trinken begĂŒnstigt und zugleich symbolisiert wird.

Diese Aussagen Bourdieus zum Klassengeschmack geben Hinweise darauf, welche Ursachen den Konsumstil der 1950er Jahre in der lĂ€ndlichen Schweiz geprĂ€gt haben mögen. Milieuspezifische Aspekte können womöglich die deutliche Verzögerung des zaghaften ‚American way of life‘ auf dem Lande erklĂ€ren. Jedenfalls verdeutlicht der Metzgermeister im Interview, dass die ‚neue Zeit‘ erst in den 70er Jahren im Waldenburgertal angekommen zu sein scheint.

Muriel Degen (25) studiert Soziologie und Geschichte an der Uni Bern und arbeitet in der Abteilung fĂŒr erziehungs- und sozialwissenschaftliche Studien am Institut fĂŒr Lehrerinnen- und Lehrerbildung Bern. Der Artikel geht auf eine kulturhistorische Seminararbeit zurĂŒck.

Literaturauswahl:

Andersen, Arne (1998): „‘...und so sparsam!‘ Der Massenkonsum und seine Auswirkungen: VerĂ€nderungen und MentalitĂ€tswandel dargestellt am ‚Schweizerischen Beobachter‘“, ZĂŒrich.
Bourdieu, Pierre (1982): „Die feinen Unterschiede“, Frankfurt am Main.
Tanner, Jakob (1999): „Lebensstandard, Konsumkultur und American Way of Life seit 1945“, in:
Leimgruber, Walter; Fischer, Werner (Hg.): Goldene Jahre. Zur Geschichte der Schweiz seit 1945, ZĂŒrich.
Vierhaus, Rudolf (1995): „Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme moderner Kulturgeschichtsschreibung“, in: Lehmann, Hartmut (Hg.), Wege zu einer neuen Kulturgeschichte, Göttingen.

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«Wovon man nicht sprechen kann, darĂŒber muss man schweigen.»

Ludwig Wittgenstein (1980 [1921]): Tractatus logico-philosophicus. In: Wittgenstein, Ludwig: Schriften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 83.