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gesellschaftliche evolution

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Der Beitrag einer soziologischen Evolutionstheorie zur Erklärung sozialen Wandels

Eine Laune der Natur verlängert einem Tier die Ohren oder zeichnet ihm Punkte aufs Fell - eine Variation, die sich als Überlebensvorteil erweisen und zur neuen Norm werden kann: die darwinistische Evolutionstheorie ist weitherum bekannt. Auch gesellschaftliche Veränderungen lassen sich in Begriffen der Evolutionstheorie beschreiben: Ausgelöst werden kann eine Variation durch eine Erfindung, einen Konflikt oder durch irgendein anderes spontanes inner- oder aussergesellschaftliches Ereignis. Nachdem eine solche Änderung die Filter Selektion und Restabilisierung durchlaufen hat, kann sie sich etablieren und wird Bestandteil der sozialen Struktur. Entwicklung ist damit grundsätzlich ungerichtet, die Zukunft offen. Im luhmannschen Sinne wird im folgenden Beitrag die Sprache, bzw. Kommunikation, als Variationseinheit und der Einbau in stabile Erwartungsstrukturen als erfolgreiche Restabilisierung postuliert.Eine Laune der Natur verlängert einem Tier die Ohren oder zeichnet ihm Punkte aufs Fell - eine Variation, die sich als Überlebensvorteil erweisen und zur neuen Norm werden kann: die darwinistische Evolutionstheorie ist weitherum bekannt. Auch gesellschaftliche Veränderungen lassen sich in Begriffen der Evolutionstheorie beschreiben: Ausgelöst werden kann eine Variation durch eine Erfindung, einen Konflikt oder durch irgendein anderes spontanes inner- oder aussergesellschaftliches Ereignis. Nachdem eine solche Änderung die Filter Selektion und Restabilisierung durchlaufen hat, kann sie sich etablieren und wird Bestandteil der sozialen Struktur. Entwicklung ist damit grundsätzlich ungerichtet, die Zukunft offen. Im luhmannschen Sinne wird im folgenden Beitrag die Sprache, bzw. Kommunikation, als Variationseinheit und der Einbau in stabile Erwartungsstrukturen als erfolgreiche Restabilisierung postuliert.

SOZ-MAG Beitrag von Martin Bühler

Seit den Anfängen der Soziologie existieren Theorien, welche sozialen Wandel zu erklären versuchen. Schon die beiden grossen Überfiguren der entstehenden Soziologie im 19. Jahrhundert – Max Weber und Emile Durkheim – versuchten herauszufinden, wie sich die moderne Gesellschaft herausgebildet hatte. Sie erfassten die „Modernisierung“ einerseits als Prozess der Rationalisierung und andererseits als eine Unterscheidung von archaischer und moderner Gesellschaft, respektive als eine Änderung der Differenzierungsform. Zur gleichen Zeit bemühte sich der Biologe Charles Darwin um eine Theorie, welche die Entstehung und Entwicklung des Lebens auf unserem Planeten in überzeugender Weise erklären konnte. Das Resultat seiner Überlegungen ist die gegenwärtig wohl bekannteste Evolutionstheorie. Sie gilt heutzutage als einzig plausible wissenschaftliche Theorie zur Entwicklung des Lebens auf der Erde und hat dadurch eine öffentliche Bekanntheit erreicht, welche vielleicht nur von Einsteins Relativitätstheorie übertroffen wird. In den Sozialwissenschaften war die Rezeption der Evolutionstheorie besonders durch die tragischen Auswüchse des Sozialdarwinismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts blockiert. In den letzten Jahrzehnten nehmen aber die Auseinandersetzung und das Interesse an einer soziokulturellen Evolutionstheorie wieder stetig zu. In der Biologie ist durch die Synthese von moderner Genetik und Darwinismus die sogenannte neodarwinistische Evolutionstheorie entstanden.

Was macht eine Evolutionstheorie aus?

Unter „Evolutionstheorie“ werden zunächst alle Theorien subsumiert, die „Evolution“ behandeln. Allerdings wurden gewisse Theorien als Evolutionstheorie formuliert, die man aus darwinistischer Sicht kaum als solche bezeichnen kann. Als prominentes Beispiel sei etwa die Sozialtheorie von Herbert Spencer erwähnt, welche als eine der ersten „Evolutionstheorien“ der Soziologie gilt. Im Gegensatz zu Darwin macht Spencer unübersehbare teleologische Annahmen. So spricht er etwa vom Trend zum immer stärker Differenzierten. Es geht ihm um die Annahme, dass alles auf der Welt demselben Gesetz, einem „change from an incoherent homogeneity to a coherent heterogeneity“ gehorcht. Wenn im Folgenden von Evolutionstheorie die Rede ist, ist immer die darwinistische Spielart gemeint, die auf Gerichtetheit, allgemeine Trends und Teleologie verzichtet.

Da die Evolutionstheorie zunächst in der Biologie differenziert ausgearbeitet wurde, setzten erste Generalisierungsversuche dort an. Donald T. Campbell (1965) hat als einer der Ersten versucht, aus dem Neodarwinismus gewisse allgemeine Grundsätze der Evolutionstheorie herauszuarbeiten und sie auf die Sozialwissenschaften anzuwenden. Im Folgenden möchte ich an Beispielen aus der Biologie und den Sozialwissenschaften die Evolutionstheorie in ihren Grundzügen erläutern.

Grundsätzlich geht es bei den meisten Evolutionstheorien um langfristigen Strukturwandel. Also um die Erklärung der Veränderung dessen, was als Grundgerüst für den Aufbau von jeglicher Komplexität verantwortlich ist. Mit Evolution ist somit nicht die Entwicklung einzelner Organismen oder Individuen in ihrer Lebenszeit, sondern die Artentstehung und Artveränderung über eine grosse Zeitspanne gemeint. Beim Menschen würde man beispielsweise dann von Evolution sprechen, wenn man die Geschichte der Hominiden (der verschiedenen Vorfahren des homo sapiens) beschreiben möchte und nicht die Entwicklung vom Embryo zum ausgewachsenen Menschen.

In der theoretischen Beschreibung der Evolution gehen die Meinungen allerdings weit auseinander. Einen viel versprechenden Versuch machte Campbell, indem er drei evolutionäre Mechanismen identifizierte: Die Variation, die Selektion und die Restabilisierung (auch Retention). So simpel es klingen mag: Primär geht es darum, dass sich etwas spontan verändert. Diese Modifikation wird in der Folge akzeptiert und schliesslich in die grundlegenden Strukturen des Systems eingebaut. Man könnte auch von drei aufeinander folgenden „Filtern“ sprechen. Von unzähligen Variationen werden nur gewisse selegiert, wobei bloss einzelne Veränderungen schliesslich in der Struktur stabilisiert werden. Die drei Mechanismen sind üblicherweise strikte voneinander getrennt. So ist zum Zeitpunkt der Variation keinesfalls klar, ob sie positiv oder negativ selegiert wird. Es wird deutlich, dass hierbei der Zufall eine gewisse Rolle spielen kann. Im klassischen Darwinismus treten die Variationen spontan auf und erweisen sich erst in der Folge als Vor- oder Nachteile im „Kampf ums Überleben“. Konsequenterweise muss man sich von teleologischem Denken oder von traditionellen Vorstellungen von zugrunde liegenden vorbestimmenden Trends lösen. Wenn es Entwicklungsgesetze gäbe, so würde die Variation immer mit Blick auf die Selektion stattfinden und nur bestimmte Variationen wären erlaubt. Spontaneität wäre also ausgeschlossen. Oftmals sind zudem die Ursachen, welche zum zufälligen Ereignis geführt haben, kaum identifizier- und mitnichten überblickbar. Die Evolutionstheorie kann nur im Rückblick versuchen, Gründe für Veränderungen zu erkennen. Das impliziert gleichzeitig, dass sich keine Ursache-Wirkungsketten als Prognose in die Zukunft verlängern lassen, denn der Zufall lässt sich nicht voraussagen. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Ein Tier könnte aufgrund eines spontanen Austauschs von Genen zwischen zwei Chromosomen mit etwas grösseren Ohren als seine Artgenossen geboren werden (Variation). Durch diese Abweichung könnte es ihm gelingen, seinen natürlichen Feind früher wahrzunehmen und als Resultat sein eigenes Überleben erfolgreicher zu sichern. Es wird also als „überlebensfähiger“ ausgewählt (Selektion). Gelingt es dem Tier, Nachkommen mit derselben Modifikation zu zeugen, wird der ursprüngliche Gentausch im „Bauplan“ dieser Art gespeichert (Restabilisierung). Alle weiteren Nachfahren profitieren von dieser Situation, bis zum Beispiel Veränderungen im Jagdverhalten des Feindes auftreten. Man kann auch Beispiele aus dem soziokulturellen Bereich anfügen: Durch die Erfindung des Ackerbaus und der Viehzucht waren gewisse menschliche Populationen in der Lage, eine grössere Anzahl Lebewesen zu ernähren, was sich auf das Überleben der gesamten Gruppe positiv auswirkte. In der Folge starb die vergleichsweise ineffektive Jäger- und Sammler-Kultur aus. Evolutionstheoretisch reformuliert könnte das folgendermassen tönen: Durch die Erfindung des Ackerbaus und der Viehzucht veränderte sich die Nahrungsbeschaffung (Variation), was durch die Steigerung der Überlebenschancen zu Nachahmung geführt haben könnte (Selektion). Andere Arten der Nahrungsmittelbeschaffung sind ausgestorben und der Ackerbau sowie die Viehzucht haben sich in die kulturellen Strukturen eingepasst (Restabilisierung).

Frischmilch oder Käse? Das Verhältnis sozialer zu biologischer Evolution

In den Sozialwissenschaften gibt es mittlerweile ein gewisses Theorieangebot, welches mit neodarwinistischen Begriffen arbeitet. Eine spezifisch soziologische Evolutionstheorie steht jedoch noch aus. Das Label „Theorien soziokultureller Evolution“ fungiert als Sammelbegriff für Denkrichtungen, welche mit neodarwinistischer Terminologie versuchen, Sozialität, respektive Kultur, in ihrer jeweiligen Entstehung zu erklären. Abgesehen von der zu Grunde liegenden Begrifflichkeit unterscheiden sich die bisher vorgebrachten Vorschläge allerdings in grundlegenden Aspekten. Es besteht etwa keine Einigkeit über den Status einer soziokulturellen Evolutionstheorie. Dies zeigt sich daran, dass das Verhältnis von biologischer und soziokultureller Evolution kaum geklärt ist. Manche Theorien gehen von einer so genannten Koevolution aus. Dabei sind die biologische und die soziokulturelle Evolution grundsätzlich getrennt, können sich aber gegenseitig mehr oder weniger direkt beeinflussen.

Bei Durham (1991) findet sich eine Fallstudie zur Verbreitung des Frischmilchgenusses sowie der Milchverarbeitung. Bei den Säugetieren wird der Nachwuchs in der Regel durch Muttermilch aufgezogen. Alle Säuger entwöhnen sich aber im Laufe ihrer Entwicklung von der Milch, mit einer Ausnahme: dem Menschen. In gewissen Regionen der Erde verfügen erwachsene Menschen über ein Gen, welches Laktose (Milchzucker) abbauen kann. Daneben ist eine ebenfalls regional unterschiedlich intensive Milchverarbeitung zu beobachten. In seinem Beispiel versucht Durham für diesen Sachverhalt eine Antwort zu finden. In der Zeit, als sich die Menschen als Jäger und Sammler ihre Nahrung beschaffen mussten, konnte dieses „Laktoseabbau-Gen“ kaum eine Relevanz besitzen, da die Milch als Nahrungsquelle nicht erschlossen war. Gleichzeitig mit dem Aufkommen der Viehhaltung wurde jedoch die Milchwirtschaft möglich und so konnte die Frischmilch als bequeme Quelle für Kalzium nutzbar gemacht werden. Kalzium wird vom Organismus für den Aufbau der Knochen benötigt und wird insbesondere durch den Abbau von Milchzucker gewonnen. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte es nur mit erheblich höherem Aufwand, beispielsweise durch ausreichenden Fischverzehr, zugeführt werden. Mit der Gewinnung von Frischmilch wurde das „Laktoseabbau-Gen“ zum evolutionären Vorteil des Trägers. Dieser konnte sich nun mit geringem Aufwand genügende Mengen an Kalzium zuführen, ohne die Mühsal des Fischens auf sich zu nehmen. Menschen ohne dieses Gen konnten die Laktose nur in viel geringerem Masse abbauen, was die Wirkung der Milch als Kalziumquelle stark verminderte. Zudem war der übermässige Konsum von Frischmilch für diese Menschen nicht verträglich. In der Folge vermehrten sich die Träger des „Laktoseabbau-Gens“ überproportional und es bildeten sich so regional Menschenpopulationen heraus, welche sich nahezu zu 100% aus Besitzerinnen und Besitzern des „Laktoseabbau-Gens“ zusammensetzen. Kulturell wurde die Tendenz zum Frischmilchkonsum durch entsprechende mythologische Ermutigungen gefördert. Die Personen, welche in diesem Klima des kulturell bevorzugten Frischmilchkonsums an Laktoseunverträglichkeit litten, wurden durch die natürliche Auslese aussortiert. Die kulturellen Veränderungen der Milchproduktion, der Nahrungsmittelauswahl und der Mythologie hatten so wiederum Rückwirkungen auf die biologische Verbreitung der Laktoseverträglichkeit.

In Populationen, welche sich vermehrt der Sonne ausgesetzt sahen, konnte eine andere Form der Kalziumgewinnung verwendet werden. Durch die Säuerung der Milch und die Weiterverarbeitung zu Käse oder Joghurt konnte der Milchzuckeranteil reduziert und so die Milch auch für Menschen geniessbar gemacht werden, welche über kein „Laktoseabbau-Gen“ verfügen. Die Kalziumquelle erschliesst sich allerdings nicht direkt, sondern mit Hilfe von Vitamin D, welches in der Haut durch UV-B-Bestrahlung produziert wird. Daher wird in Gebieten mit hoher Sonneneinstrahlung kein „Laktoseabbau-Gen“ benötigt. Auch hier ist eine kulturelle Erfindung – die Milchverarbeitung – letztlich entscheidend an der Gestaltung der Gen-Ausstattung beteiligt. Durham sieht in beiden Methoden zum Kalziumgewinn einen Beweis für die „Partnerschaft von Gen und Kultur“. Die kulturelle Ermutigung zur Milchproduktion respektive zum Frischmilchverzehr nimmt auf den biologischen Sachverhalt Rücksicht, dass in den entsprechenden Gebieten das Gen zum Laktoseabbau unterschiedlich verteilt ist und wirkt dadurch wiederum auf die Verteilung des Gens zurück. Wenn in Gebieten mit mangelnder Sonneneinstrahlung das „Laktoseabbau-Gen“ kulturell nicht bevorzugt worden wäre, hätten diese Populationen kaum ihren Bedarf an Kalzium decken können und umgekehrt hätte der Verzicht auf die Milchwirtschaft in Populationen ohne genügende Verbreitung des „Laktoseabbau-Gens“ verheerende Folgen. Durch das Zusammenspiel von Kultur und Biologie wurden die Überlebenschancen beider Populationen schliesslich erhöht.

Während Durhams Theorie von einer Beeinflussbar- und Gleichzeitigkeit der beiden Evolutionen ausgeht, sehen andere Theorien in der soziokulturellen Evolution eine Fortsetzung der biologischen Evolution und stehen damit für eine strikte Nichtbeeinflussbarkeit von biologischer und soziokultureller Evolution ein.

Unterschiedliche Bezugspunkte der Evolution innerhalb und zwischen den Disziplinen

Dadurch, dass die Evolutionstheorie stark interdisziplinär angelegt ist, ergeben sich weitere Einschränkungen, welche die Entwicklung einer universellen Evolutionstheorie erschweren. Bedingt durch den jeweiligen Fachbereich behandeln die Theorien meist nur einen sehr ausgewählten Aspekt der Evolution. Beispielsweise konzentriert sich die psychologische Evolutionstheorie vornehmlich auf die Entstehung der zeitgenössischen Denkstrukturen und nur in zweiter Linie auf deren soziokulturellen Auswirkungen. So gibt es Untersuchungen, welche dem menschlichen Gehirn eine Schwäche im Umgang mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung attestieren. Dies deshalb, weil sich das Bewusstsein im Laufe seiner Evolution an das Rechnen mit Häufigkeiten gewöhnt hat und daher in der modernen Umwelt der Wahrscheinlichkeiten miserabel angepasst ist. Als soziale Folge werden beispielsweise ungeeignete Lehrpläne oder ärztliche Fehldiagnosen im Umgang mit Krebspatienten genannt. Zudem passen die jeweiligen Disziplinen die darwinsche Terminologie ihren spezifischen Bedürfnissen an. Dabei kann man grundlegende Unterscheidungsmerkmale, insbesondere in der vorgeschlagenen Variationseinheit und in der Art und Weise, wie die evolutionären Errungenschaften an die nächste Generation weitergegeben werden, erkennen.

Die soziokulturelle Evolutionstheorie von Boyd und Richerson (1985) geht beispielsweise von individuellem Lernen aus, welches erlaubt, Informationen durch „soziale Vererbung“ an Andere weiterzugeben und so das verfügbare kulturelle Wissen zu verändern. Damit kommt ein weiterer, in der vorläufigen Theorie soziokultureller Evolution sehr umstrittener Aspekt hinzu. In Anlehnung an Jean Baptiste de Lamarck, einem geistigen Vorgänger Darwins, wird hier von einer problemlosen Weitergabe erworbener (in diesem Fall erlernter) Eigenschaften ausgegangen. Ein biologischer Lamarckismus würde, überspitzt formuliert, beispielsweise die Vererbung einer Verletzung zulassen. In der Biologie wird der Lamarckismus allerdings seit Mendels Vererbungsgesetzen als überholt betrachtet. Mendels Gesetz postuliert die Unmöglichkeit der Weitergabe von erworbenen Eigenschaften. In der Theorie soziokultureller Evolution hält sich der Lamarckismus jedoch ziemlich hartnäckig. Oft wird das Argument vorgebracht, dass die Gesellschaft über spezielle Eigenschaften verfügt, welche eine Beschreibung durch diese Denkfigur nahelegt. Ein Beispiel zur Illustration: Wenn ich beispielsweise eine neue, bis anhin unbekannte Sprache (nennen wir sie „Lamarckisch“) entwickelt habe, kann ich diese Sprache durch ihren Gebrauch anderen Individuen lehren. Dadurch, dass ich „Lamarckisch“ erfunden habe, ist in dieser Perspektive das verfügbare soziokulturelle Wissen um eine neue Sprache erweitert und damit verändert worden. In sozialen Situationen, beispielsweise in einer Schulstunde, kann ich weitere Individuen in „Lamarckisch“ unterrichten. Stichweh (2002) unterstellt dieser Theorie – meiner Ansicht nach zu Recht – eine Ebenenverwechslung. Ob andere Individuen „Lamarckisch“ lernen, hängt nicht unbedingt von der gesellschaftlichen Verfügbarkeit dieser Sprache ab, sondern viel mehr von der persönlichen Motivation und Lernbereitschaft der Schüler. Im individuellen Lernen können sich wiederum Variationen ereignen, welche aber keine Rückwirkung auf das „Lamarckisch“ haben müssen. Eher isoliert sich das Individuum durch seine private „Lamarckischanwendung“. Es wird deutlich, dass sich eine erklärungsmächtige Evolutionstheorie unterschiedlicher Ebenen bedienen muss, was wiederum für eine konzeptionelle Trennung von soziokultureller, psychischer und biologischer Evolution spricht. Damit ist jedoch eine wechselseitige Irritation, im Sinne einer Koevolution keineswegs ausgeschlossen.

Was hat die Soziologie mit Evolution am Hut?

Die Soziologie sollte in Abgrenzung zur Psychologie und Biologie eine eigene Evolutionstheorie entwickeln, um sozialen Wandel adäquat beschreiben zu können. Aufgrund der schon vorhandenen Theorien sozialen Wandels (zum Beispiel Modernisierungstheorien, Entwicklungs- und Differenzierungstheorien, Transformations- und Prozesstheorien) ist es aber nicht einsichtig, weshalb noch eine weitere soziologische Evolutionstheorie nötig sein soll. Dies wird aber klar, wenn man versucht, sozialen Wandel in seinen Ursachen zu erklären. Jede der genannten Theorien, so gut und exakt sie den Sachverhalt auch beschreiben kann, muss die Suche nach den Ursachen der behandelten Phänomene an einem Punkt abbrechen oder den letzten Grund „verschleiern“. Als Beispiel könnte man Emile Durkheims Anstrengungen nennen, die Entstehung der spezifisch modernen, arbeitsteiligen Gesellschaft zu ergründen. Seine Erklärung basiert, grob gesagt, auf der Annahme, dass Bevölkerungswachstum und die Zunahme der Kommunikations- und Transportmöglichkeiten zu einer arbeitsteiligen Struktur geführt haben. Bei genauerer Betrachtung fällt aber auf, dass Durkheim das Bevölkerungswachstum wiederum durch die entstandene Arbeitsteilung erklärt. Seine Argumentation ist zirkulär und erlaubt keine Unterbrechung.

An diesem Punkt kann der Soziologie meiner Meinung nach die Evolutionstheorie weiterhelfen. Mit Hilfe einer soziologischen Evolutionstheorie hätte es Durkheim nämlich gelingen können, die Entstehung des beschriebenen Zirkels zu erklären. Die zirkuläre Kausalkette, welche immer auf sich selbst zurückverweist, ein logisch unlösbares Problem, kann durch eine evolutionistische Beschreibung in eine zeitliche Abfolge gebracht und damit „Verzeitlicht“ werden. Durch diese Problemtransformation kann der Versuch gestartet werden, die Entstehung des Zirkels zu erklären, statt nach seiner Durchbrechung zu suchen. Demnach wird nicht mehr der Zirkel als Problem betrachtet, sondern sein Zustandekommen in der Zeit. Es handelt sich also nun um ein historisches Problem, welches mit der Evolutionstheorie behandelt werden kann. Das bedeutet, der Zirkel wird akzeptiert, da man sonst in eine unendliche Kausalkette hineingeraten würde, welche nur durch metaphysische Gründe und Trends abgebrochen werden kann. Als deutliches Beispiel dient wieder Herbert Spencer, welcher als Erklärung für den Übergang von der vormodernen Gesellschaft zur industriell-ökonomischen Gesellschaftsform einen Trend zur zunehmenden Differenzierung postuliert. Die gesamte Erklärungslast liegt dann auf der stetigen Differenzierung, welche nicht mehr weiter hinterfragt werden darf, da man sonst wieder einen neuen Grund finden muss. Eine der Hauptaufgaben der soziologischen Evolutionstheorie sollte denn auch die Erklärung von langfristigem sozialem Wandel sein. Dies kann meiner Ansicht nach aber nur gelingen, wenn sie, analog zum biologischen Pendant, im Theoriedesign auf jegliche Teleologie und gerichtete Entwicklungsgedanken verzichtet.

Wie könnte eine soziologische Evolutionstheorie aussehen?

Auf dem Weg zu einer spezifisch soziologischen Evolutionstheorie erachte ich den systemtheoretischen Vorschlag von Niklas Luhmann (1997) als erfolgversprechend. Damit eine soziologische Evolutionstheorie ihr Erklärungspotential ausschöpfen kann und als echte Ursachenerklärung dient, darf sie – wie gesagt – nicht auf einzelne externe Faktoren und allgemeine Trends abgestützt werden. Die Evolutionstheorie muss also, um von Teleologie, Geschichtsgesetzen und äusseren Prozessen unabhängig zu sein, zwangsweise zirkulär gebaut sein. Diese Zirkularität muss sie konsequenterweise wiederum in ihrer eigenen Terminologie reflexiv miterklären, ansonsten verfällt auch sie dem Zwang, gewisse Trends und Gründe angeben zu müssen, welche ausserhalb ihrer selbst stehen. Da dies durch eine „Verzeitlichung“ geschieht, muss eine evolutionstheoretische Erklärung sich selbst als Ausgangspunkt nehmen und ihr eigenes Entstehen gleichzeitig miterklären. Niklas Luhmann schlägt eine autopoietische, selbstorganisierte Evolution vor, welche auf jeder „Filterstufe“ (Variation, Selektion, Stabilisierung) autonom entscheidet, welche Elemente ausgewählt und für weitere Operationen zur Verfügung gestellt werden.

Aufgrund Luhmanns Theorieanlage wird die Kommunikation von basalen Erwartungsstrukturen als evolutionäre Grundeinheit gewählt. Auf die Evolution von gesellschaftlichen Strukturen angewandt bedeutet dies, dass durch die Sprache solche Variation ermöglicht wird. Einerseits kann im Medium der Sprache eine Unmenge von Lauten, Wörtern und Aussprachen vielfältig kombiniert werden, was die Bildung von unendlich vielen Sätzen und Ausdrucksformen zulässt. Die Sprache ist dadurch die Voraussetzung für unzählbare Abweichungen. Andererseits besitzt die Sprache das so genannte „Negationspotential“. Dieses ermöglicht, „Nein“ oder „Nicht“ sagen zu können. Dazu ein Beispiel zur Illustration: Wenn man nur durch Gesten auf die umgebende Welt aufmerksam machen kann, hat man keine Handhabe, sich auf etwas zu beziehen, das nicht anwesend ist. Es besteht keine Möglichkeit, jemandem tagsüber „Nacht“ mitzuteilen. Durch die Sprache wird es jedoch möglich „Nicht-Tag“ (also Nacht) auszusprechen und zu beschreiben. In der Sprache als unerschöpfliche Ressource für neue Kombinationen und der Möglichkeit für Negation erkennt Luhmann demnach das Potential für Abweichung. Durch die Schrift und den Buchdruck wird dieses Potential in der Folge noch weiter gesteigert, da Negation auch in räumlicher und zeitlicher Distanz möglich wird. Um die Erklärungslast nicht auf die Sprache, die Schrift oder den Buchdruck abzuschieben, muss die Evolutionstheorie die Entstehung dieser Medien wiederum durch eigene Begriffe erklären können. Gemäss der Forderung, dass die Evolutionstheorie sich selbst miterklären muss, kann man demnach die Entstehung der Sprache als spontane Variation eines vormals sprachlosen Zustands erklären. Dass jemand einen Laut geäussert hat und dieser von einer anderen Person als Kommunikation erkannt wurde, kann schliesslich am ehesten als Zufall charakterisiert werden. Nachdem dies allerdings geschehen war, kann man davon ausgehen, dass Kommunikation in weiteren Situationen erwartbar wurde.

Schon unsere eigene Erfahrung zeigt jedoch, dass kaum ein kategorisches „Nein“ oder eine spontane Wortschöpfung von unserer sozialen Umgebung akzeptiert wird. Kaum jemand würde mich unterstützen, wenn ich eine Kuh plötzlich als „Muh“ bezeichnen würde. Es werden also nur gewisse Variationen toleriert. Der grösste Teil aller Variationen wird vermutlich kaum von jemandem bemerkt, geschweige denn akzeptiert. Eine verschwindend geringe Menge von ausgewählten Variationen wird aber auf Kompatibilität getestet. Es wird geprüft, ob die Neuerung zu schon Bestehendem passt. Wenn die Variation diesen letzten Filter hinter sich gelassen hat, wird sie in das bereits existierende Erwartungsrepertoire eingebaut und somit zur Regel.

Wie eine evolutionstheoretische Analyse in dieser Form konkret aussehen könnte, zeigt ein Beispiel von Schimank (2000): Lange Zeit bestand die Vorstellung, dass gewisse Leistungsrollen nur Männern vorbehalten seien. Insbesondere in der Wissenschaft wurde Frauen mit dem Argument, sie seinen keine „Forschernaturen“ der Zugang verwehrt. Frauen durften bloss bewährtes wissenschaftliches Wissen beispielsweise als Lehrerin vermitteln, oder als Ärztin anwenden. Diese Einstellung wurde eines Tages kommunikativ problematisiert und eine Gegenerwartung formuliert: Auch Frauen sollen forschen dürfen. Diese Formulierung einer bis anhin unbekannten Erwartung kann als Variation zum Bestehenden betrachtet werden. Wie viele andere Variationen hätte sie für die Gesellschaft folgenlos bleiben können, doch durch Rekurs auf schon bestehende wissenschaftliche Wahrheit (zum Beispiel, dass Frauen trotz biologischen Unterschieden genauso gut Forscherinnen sein können) und die Unterstützung durch etablierte Wissenschaftler wurde die Variation positiv ausgewählt. In unserem Beispiel würde dies etwa bedeuten, dass an einzelnen Universitäten Frauen als Forscherinnen zugelassen wurden. Die Variation erlebte damit einen situativen Kommunikationserfolg, welcher aber noch durch den dritten „Filter“ passen musste. Positiv selegierte Variationen werden auf Kompatibilität mit den bestehenden Systemstrukturen geprüft. Sind sie kontextkompatibel, wird die Variation restabilisiert und dauerhaft reproduziert. Im Beispiel würde das bedeuten, dass immer wieder Frauen auf Forschungspositionen berufen werden, weil sich die Variation positiv bewährt hat und sich als kompatibel mit den Strukturen der Wissenschaft herausstellt.

Abschliessend bleibt festzuhalten, dass mit Niklas Luhmanns Evolutionstheorie im Moment ein viel versprechender Vorschlag vorliegt, welcher jedoch eher den Status einer provisorischen Skizze, denn einer abgeschlossenen Theorie geniesst. Dies macht es im Gegenzug faszinierend, sich auf den Gegenstand einzulassen und lässt Raum für weiterführende Ideen. Wie eine soziologische Evolutionstheorie allerdings in konkreter Formulierung auszusehen hat, wird Gegenstand zukünftiger Forschung sein müssen.

Martin Bühler studiert an der Universität Luzern Soziologie im Hauptfach und an der Universität Zürich Geschichte sowie Betriebswirtschaft in den Nebenfächern. Der vorliegende Aufsatz wurde im Anschluss an das Seminar "Soziokulturelle Evolution" bei Prof. Dr. R. Stichweh an der Uni Luzern verfasst.

Literaturauswahl:

Boyd, R. und Richerson, P. (1985): Culture and the Evolutionary Process. Chicago und London.
Campbell, D. (1965): Variation and Selective Retention in Socio-Cultural Evolution. In: Barringer, Herbert R./ Blankstein, George I./ Mack, Raymond W. (Hrsg.): Social Change in Developing Areas. A Re-Interpretation of Evolutionary Theor. Cambridge, MA, S. 19-49.
Darwin, Ch. (1985): The Origin of Species by Means of Natural Selection. London [erstmals 1859 erschienen].
Durham, W. (1991): Coevolution. Genes, Culture, and Human Diversity. Stanford.
Durkheim, E. (1999): Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. 3. Aufl. Frankfurt am Main [erstmals 1893 erschienen].
Engels, E.-M. (Hrsg.) (1995): Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main.
Luhmann, N. (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main.
Schimank, U. (2000): Theorien gesellschaftlicher Differenzierung. 2. Aufl. Opladen.
Spencer, H. (1914). First Principles. New York [erstmals 1862 erschienen].
Stichweh, R. (2002): Funktionalismus und Evolutionstheorie. Ms. Luzern. http://www.unilu.ch/dokumente/dokus_gf/STWfunkevo.pdf .

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«Kommunikation ist unwahrscheinlich.»

Niklas Luhmann (2001): Aufsätze und Reden, Hrsg: Oliver Jahraus, Stuttgart, S.78