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soziologie.ch soz:mag#7 die logik der gefühle

die logik der gefühle

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Mit Simmel auf den Spuren der Emotionssoziologie

Gefühle tragen einen doppelten Sinn. Als persönliche Erfahrungen formen sie einen Teil unserer individuellen Identität, zugleich binden sie uns aneinander und schaffen so eine existenzielle Voraussetzung für Gesellschaft. Gestützt auf Georg Simmel, einen Pionier der Emotionssoziologie, wird dieser Text sich vor allem mit der letztgenannten Funktion von Gefühlen auseinandersetzen. Dazu soll der emotionale Mikrokosmos eines besonderen Strukturtypus sozialer Beziehungen ausgeleuchtet werden: die Liebesbeziehung.

SOZ-MAG Beitrag von Christoph Urwyler

Aufgrund ihres unsichtbaren und irrationalen Wesens entzogen sich Gefühle für lange Zeit einer objektiven Analyse. Sie fristeten in allen Disziplinen – namentlich auch in der Psychologie – ein wissenschaftliches Schattendasein. Gemeinhin werden Gefühle als persönliche wie auch natürliche Erscheinungen verstanden und es ist – neben Max Weber und Emile Durkheim – das besondere Verdienst Simmels, aufzuzeigen, dass Gefühle und Gesellschaft einander wechselseitig bedingen und von einander abhängig sind. Die zahlreichen Analysen zu den Ursachen und Wirkungen von Gefühlen sind allerdings über sein gesamtes Werk verstreut und nirgendwo systematisch gebündelt. Als Quelle dienen diesem Artikel ins-besondere Simmels Schriften „Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“ (1908) bzw. „Grundfragen der Soziologie“ (1907).

Simmels besonderes soziologisches Interesse richtete sich massgeblich auf die feinen und flüchtigen Wechselwirkungen zwischen den Menschen. In den „mikroskopisch-molekularen“ Gefühlsberührungen, welche sich zwischen zwei oder mehr Menschen abspielen, erkannte er die Ursachen, welche die „wunderbare Unzerreissbarkeit der Gesellschaft“ stiften. Mit der Behauptung, die „wissenschaftliche Behandlung seelischer Tatsachen“ brauche „noch keineswegs Psychologie zu sein“, widerspricht er der üblichen Lehrmeinung. Indem er ihre historische und gesellschaftliche Bedingtheit und Auswirkungen analysiert, stellt er die Gefühle in einen sozialen Raum, worin sie der sozialen Gestaltbarkeit und zeitlichen Veränderbarkeit unterworfen sind. Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Entstehung sowie den Inhalten und Funktionen von Gefühlen. Dabei soll der in der Emotionssoziologie vorhandenen, theoretischen Zweiteilung entsprochen werden. Zum einen muss erklärt werden, inwiefern Gefühle als unabhängige Variablen zur Strukturierung des sozialen Raumes beitragen. Zum anderen geht es darum, zu zeigen, inwiefern Gefühle als abhängige Variablen wiederum von diesem Raum gestaltet werden. Hierbei werden sie als Ergebnisse sozialer Beziehungen oder kultureller Konstrukte erscheinen. Beide Wege stehen dabei nicht in einem sich ausschliessenden, sondern komplementären Verhältnis zueinander. Schliesslich sollen unterschiedliche Gefühlsinhalte soziologisch gehaltvoll und konkret am Beispiel der Liebesbeziehung erläutert werden. Es geht dabei um Liebe, Treue, Dankbarkeit und Taktgefühl.

Gefühle als Bindemittel

Georg Simmel unterscheidet zwischen primären und sekundären Gefühlen: Liebe beispielsweise begründet eine Interaktion, Eifersucht resultiert aus ihr. Daneben grenzt Simmel positive Gefühle von negativen ab. Positive, wie Treue oder Dankbarkeit, tragen zur gesellschaftlichen Integration bei, weil sie über die eigentliche Interaktion hinaus deren „ideelles Fortleben“ garantieren. Schliesslich beruht „alle Vergesellschaftung jenseits ihres ersten Ursprungs auf der Weiter-wirkung der Beziehungen über den Moment ihres Entstehens hinaus“. Negative Gefühle, wie Hass oder Neid, können Bindungen destabilisieren oder sogar zerstören. Allgemein gehören Gefühle für den Soziologen Simmel zu „jenen gleichsam mikroskopischen, aber unendlich zähen Fäden, die ein Element der Gesellschaft an das andere und dadurch schliesslich alle zu einem formfesten Gesamtleben aneinanderhalten“. Positive Gefühle dienen als „unentbehrlicher Kitt jeder Gruppe“. Simmel erkannte darüber hinaus, dass auch negative Gefühle wie Hass oder Neid, sofern in normierten Konfliktverfahren wie z.B. Wettbewerb kanalisiert, zur sozialen Integration beitragen, indem die Konfliktparteien eine „antagonistische Einheit“ bilden. Die Trennlinie zwischen positiven und negativen Gefühlen ist nicht strikt. Würde Gesellschaft allein auf Arbeitsteilung, Moral oder Recht basieren, müsste „ein sozialisierter Zustand zur Hölle werden“. Erst Gefühle als „lindernde Gesinnung“ helfen die Verhältnisse der Menschen zu stabilisieren.

Gefühle als Wegweiser

Anthropologisch betrachtet sind Menschen instinktreduzierte Wesen, deren genetischer Code ihr Verhältnis zur Welt nicht hinreichend zu bestimmen vermag. Im Vergleich zu Tieren verfügen Menschen zwar über besonders ausgeprägte kognitive Fähigkeiten, die sie mit der Aussenwelt in eine Beziehung setzen und durch welche sie diese strukturieren. Der intellektuell vermittelte Zugang bietet aber allein noch keine ausreichende Handlungsanleitung, sondern schafft vielmehr ein Übermass an Handlungsmöglichkeiten. Der Mensch sieht sich mit einer nicht zu bewältigenden Flut von Reizen konfrontiert. Gefühle stellen für Simmel eine vom Intellekt grundsätzlich verschiedene Form von Weltaneignung dar. Sie grenzen den weiten Raum an potentiellen Handlungsmöglichkeiten durch deren selektive, affektive Besetzung ein und ordnen so die kognitiv vermittelten Strukturen entsprechend einer gewissen Wertigkeit. Kurz gesagt: Gefühle teilen die Welt in Eigenes und Fremdes, in Nah und Fern, in Gut und Böse und verleihen ihr so eine für uns durchschaubare Ordnung.

Wie entstehen eigentlich Gefühle?

Bis anhin beschäftigten wir uns vor allem mit den allgemeinen Funktionen von Gefühlen. Es soll nun einiges zur Klärung ihrer Entstehung gesagt werden. Die Ausführungen dazu stützen sich auf Jürgen Gerhard, der mit seinem Buch „Soziologie der Emotionen“ (1988) Simmels Betrachtungen über Gefühle auf einen systematischen Nenner gebracht und ihn somit massgeblich als Klassiker der Emotionssoziologie verankert hat. Was wir in unterschiedlichen Situationen mit welcher Intensität fühlen, ist nicht durch unsere charakterlichen Eigenschaften bestimmt, sondern hängt mit den strukturellen Merkmalen einer Situation zusammen. Entscheidend sind die Macht- und/oder Statusveränderungen, welche in einer sozialen Interaktion offenbar werden. Ferner kommt es darauf an, wem die Verantwortung für diese Veränderungen zugeschrieben wird. Dazu ein Beispiel: Wer ein Geschenk erhält, empfindet Dankbarkeit. Warum? Der Beschenkte betrachtet die Gabe als eine „exzessive“ Zuwendung von Status, d.h. als eine mehr oder weniger nicht verdiente Anerkennung seiner Person. Entspricht das Geschenk nicht den Erwartungen und erscheint die Statuszuwendung als unzureichend, können andere Gefühle relevant werden – abhängig davon, wer als Ursache für den veränderten Status angesehen wird: Ärger über die Gedankenlosigkeit des anderen, oder Bedauern, seinen Wunsch nicht klar ausgedrückt zu haben, aber auch Nachsicht, wenn die alltägliche Hektik mit dem Fehlgriff in Zusammenhang gebracht wird.

Derartige Macht- und Statusverhältnisse scheinen bei der Entstehung von Gefühlen eine zentrale Rolle zu spielen. Diesem Ansatz stehen durchaus kritische Stimmen gegenüber. Ihnen zufolge sind Gefühle nicht objektiv durch Merkmale wie Status und Macht bestimmt, sondern abhängig von der Situationsdefinition der Interaktionspartner. Diese orientiert sich dabei an bewährten und deshalb relativ stabilen kulturellen Deutungsmustern. Als sogenannte „Gefühlsregeln“ geben sie Auskunft darüber, welche Gefühle man in welchen Momenten in welchem Masse darzustellen oder zu empfinden hat. Ohne kulturelles Orientierungswissen blieben Gefühle im Stadium diffuser physiologischer Erregungen – oder kämen gar nicht zustande. Trotz der relativ schematischen Darstellung, sollte ersichtlich geworden sein, dass Gefühle aus der Verschränkung von strukturellen Bedingungen (Macht/Status), subjektiven Interpretationen und kulturellen Vorgaben entstehen.

Die Liebesbeziehung unter dem Aspekt der Zahl

Mit Beginn der Postmoderne vollzieht sich eine zunehmende Lockerung der von Norbert Elias diagnostizierten „Affektkontrolle“. Gefühle dürfen und müssen nun ausgelebt und dargestellt werden. Insbesondere das kulturelle Ideal der romantischen Liebe gewinnt an Bedeutung dergestalt, dass Liebe als neuer Ort der Sinnstiftung oder gar als „irdische Religion“ erfahren wird. Allein die formale Tatsache, dass eine Beziehung nur aus zwei Menschen besteht, gibt ihrem Verhältnis einen besonderen Charakter. Zu zweit fehlt die „überindividuelle Einheit“ der grösseren Gruppe, man steht sich als ganze Personen gegenüber. Die Erwartung und Chance in Liebesbeziehungen als solche wahrgenommen zu werden, bedeuten auch, dass man die gegenseitigen Stärken und Schwächen stärker empfindet. Mit dem „Austritt“ einer Person hört die ganze Beziehung auf zu existieren, weshalb ihr Ende, anders als in grösseren Gruppen, stets viel näher über den Köpfen der Beteiligten schwebt. Dies gibt ihrem Gefühl einen „Ton von Gefährdung und von Unersetzlichkeit“, aber eben auch ein Wissen um die Besonderheit und Einzigartigkeit der Verbindung. Insbesondere vor dem Hintergrund der romantischen Liebe stellt jedes Paar sich vor, dass es eine Beziehung wie die seine auf der Welt noch nie gegeben hat. Mit diesem Anspruch auf Exklusivität wird ein besonderes Mass an Intimität erreicht. Gleichzeitig droht die gewollte Nähe zueinander in Routine und Trivialität umzukippen. Nur differenzierte Persönlichkeiten können die konstitutive Intimität und Exklusivität über längere Zeit bewahren. Differenziertheit hängt wiederum ab von der Fähigkeit der Liebesbeziehung zur „Nicht-Exklusivität“. Hierin liegt ihr typisch modernes Merkmal, da nur heutige Gesellschaften es den Menschen ermöglichen, sich zwischen unterschiedlichen sozialen Kreisen relativ frei hin- und herzubewegen und sich so zu differenzierten Persönlichkeiten zu entwickeln.

Romantische Liebe

Liebe ist eine „unbegründete primäre Kategorie“, welche in den Augen Simmels nicht erst aus dem Kontakt zu anderen Menschen entsteht. Denn „die Seele hat sie als eine letzte Tatsache oder hat sie nicht“. Simmel spricht zwar von der modernen erotischen Liebe, ihre kulturelle Bedingtheit indes thematisiert er nicht. Dies tut seiner Analyse aber keinen Abbruch. Als letzte Tatsache der Seele kann ein anderer Mensch nicht die eigentliche Ursache der Liebe sein, eher ein Anlass, sie „aus dem latenten in den aktuellen Zustand“ zu heben. Der Grund für die Liebe liegt in der Liebe selbst. Als gleichsam objektloser Affekt scheitert die Liebe auch nicht im Falle ihrer Unerwidertheit – im Gegenteil. Oftmals entfaltet sie sogar eine besondere Dynamik und Intensität. „Die Leiden des jungen Werther“ veranschaulichen diesen Zusammenhang: Bedeutete die unbeantwortete Liebe zu Lotte, seiner Angebeteten, für Werther nur Schmerzen, hätte er sie bald einmal verlassen. Seinem romantischen Liebesleid haftet aber etwas Selbstgenüssliches an, d.h. es findet bis zu einem gewissen Grad seine Erfüllung in sich selbst. Werthers Liebe zu Lotte bleibt wohl unerwidert, in gewisser Hinsicht aber nicht unerfüllt.

Die Liebe richtet sich auf einen Menschen als ein einmaliges und ganzes Wesen und kann nicht mit dessen konkreten Eigenschaften gerechtfertigt werden. Als eine ganz und gar subjektive Erfahrung überlebt die Liebe auch den Wegfall ihres auslösenden Momentes. Sie ist ferner eine reine Emotion in dem Sinne, dass sie sich nicht aus anderen herleitet. Eifersucht etwa formt sich aus Liebe, Hass und Verzweiflung. Liebe gehört zu den „grossen Gestaltungskategorien des Daseienden“, sie ist eine produktive Kraft. Immer schon ergänzt man sein Gegenüber in Gedanken zu einem einheitlichen Wesen, aber nur die Liebe verwandelt dieses in ein „völlig genuines Gebilde“. Der Gegenstand der Liebe ist also „nicht vor ihr da, sondern erst durch sie“. Als „subjektives Ereignis“ ist sie deshalb enger als andere Emotionen an die wechselhaften Stimmungen der Liebenden geknüpft. Dies verleiht ihr eine besondere Dynamik und Unbeständigkeit. Zu ihrer Stabilisierung empfiehlt Simmel „institutionelle Stützen“ oder „emotionale Ergänzungen“.

Treue

Treue stellt eine solche emotionale Ergänzung dar. Für Sim-mel meint sie kein äusseres Verhalten, sondern eine seelische Verfassung. Er nennt sie eine „apriorische Bedingung der Gesellschaft“, eine Erscheinung also, ohne die Gesellschaft nicht bestehen könnte. Im Gegensatz zur Liebe ist die Treue nicht auf das Gegenüber, sondern auf Beziehung selbst gerichtet. Als „soziologisch orientierter Affekt“ ist sie sanktionierbar (im Gegensatz zur Liebe) und somit gesellschaftlichen Normen zugänglich, z.B. bestraft man jemanden für seine Untreue. Ihr Entstehen verdankt sich aber laut Simmel nicht normativen Orientierungen, sondern dem Bestand des Verhältnisses als solchem, d.h. der blossen „Gewöhnung des Zusammenseins“. Sie ist „das im Gefühl reflektierte Eigenleben der Beziehung“. Von der Tatsache, dass zu einer gewissen Zeit eine Beziehung existiert hat, schliesst die Treue, dass sie auch weiterhin bestehen wird. Aus diesem Grund nennt Simmel sie auch einen „Induktionsschluss des Gefühls“. Treue ist das „Beharrungsvermögen der Seele“, welches eine eingeschlagene Bahn weiterverfolgt, auch wenn ihr auslösendes Moment, die Liebe, für kürzere oder längere Zeit „abwesend“ ist. Dank ihr entsteht in der Beziehung eine gewisse Gleichmässigkeit, sie glättet sozusagen die Wogen der Liebe. Treue verwandelt das erwähnte Gefühl der Gefährdung und Tragik in „Berechenbarkeit, Gewissheit und Alltäglichkeit“. Dies verschafft einer Beziehung Zeit und Raum, damit primäre Emotionen wie Liebe wieder erwachen können: „Aus Treue entsteht wieder Liebe, ohne dass Treue die eigentliche Ursache von Liebe ist“.

Taktgefühl

Im menschlichen Verkehr spielen Grenzen eine wichtige Rolle. Um das Gegenüber zu einem einheitlichen Wesen ergänzen zu können, ist es unausweichlich, die Grenze dessen, was uns dieses von sich offenbart, zu überschreiten und die gegebenen Bruchstücke mittels „Schlüssen, Deutungen und Interpolationen“ soweit zusammenzufügen, bis ein „ganzer Mensch herauskommt, wie wir ihn innerlich und für die Lebenspraxis brauchen“. Nun stösst dieses Recht auf Eindringen in die Privatsphäre des anderen zugleich an dessen Anspruch auf Diskretion. Jeder hat ein soziales Recht auf eine „unverletzte Persönlichkeitssphäre“. Aus dieser Konstellation ergibt sich ein Grenzziehungsproblem. Es kann nämlich nicht generell entschieden werden, wie weit diese widersprüchlichen Ansprüche gehen dürfen. Die Liebesbeziehung hat einen diffusen Charakter, man füllt keine Rollen aus, sondern steht sich als ganze Menschen gegenüber. Hinzu kommt die kulturelle Norm, sich einander möglichst vorbehaltlos mitzuteilen. Man soll keine Geheimnisse voreinander haben. Dies birgt eben die Gefahr, mehr von sich preis zu geben, als man eigentlich möchte und folglich verletzt zu werden. In Beziehungen, die nicht von sachlichen Zwecken bestimmt sind, ist es besonders schwierig, solche Grenzen richtig einzuschätzen.

Diese Schwierigkeit bei der „Abmessung des Sich-Offenbarens und Sich-Zurückhaltens“ löst das Taktgefühl. Simmel bezeichnet es als den „Respekt vor dem Geheimnis des Anderen“. Dies bedeutet einerseits Respekt vor dem Willen des anderen, nicht alles von sich zu offenbaren und meint andererseits aber auch den eigenen Willen, eine gewisse Distanz zum Offenbarten zu wahren. Mit den Worten der deutschen Soziologin Helena Flam, welche sich ausgiebig mit der Rolle von Emotionen in Simmels Werken befasst, ist Taktgefühl die „Sensibilität für die Distanz, welche dem Anderen am liebsten wäre“. Da die Liebesbeziehung inhaltlich nicht eindeutig bestimmt ist, kommt dieser Sensibilität eine wichtige Funktion zu.

Hinter diesen Gedanken verbirgt sich die nicht unproblematische Annahme, dass Sensibilität automatisch zu einem respektvollen Verhalten führt. Der Zusammenhang zwischen Gefühl und sozial erwünschtem Verhalten scheint aber damit noch nicht wirklich erklärt.

Simmel fragt sich, ob eine Beziehung eher gelingt, wenn die Beteiligten „ihr Fürsichsein gänzlich aneinander aufgeben oder gerade umgekehrt durch ein Zurückbehalten – ob sie sich nicht etwa qualitativ mehr gehören, wenn sie sich quantitativ weniger gehören“. Weil kaum jemand eine „Unerschöpflichkeit latenter seelischer Reichtümer“ besitzt, so schliesst er nüchtern, droht die Beziehung bei völligem Verzicht auf Reserve reizlos zu werden. Denn: „Ohne Gefahr können nur diejenigen Menschen sich ganz geben, die sich überhaupt nicht ganz geben können, weil der Reichtum ihrer Seele in fortwährender Weiterentwicklung beruht, die jeder Hingabe sogleich neue Schätze nachwachsen lässt“. Verhältnisse zwischen „Wahrheit und Irrtum“, zwischen „Deutlichkeit und Undeutlichkeit“ haben somit eine grössere Überlebenschance. Wer über Taktgefühl verfügt, dem gelingt es, das widersprüchliche Verhältnis von erwarteter Hingabe und notwendiger Zurückhaltung zu meistern und beschert der Beziehung auf diese Weise eine lange und glückliche Dauer.

Christoph Urwyler studiert Soziologie, Kunstgeschichte und Betriebswirtschaft an der Universität Bern. Der Artikel geht auf seine Seminararbeit "Georg Simmel - über Emotionen in Liebesbeziehungen" zurück.

Literatur

Flam, Helena 2002: Soziologie der Emotionen, Konstanz.
Gerhards, Jürgen 1988: Soziologie der Emotionen. Fragestellung, Systematik und Perspektiven, Weinheim und München.
Simmel, Georg 1992 [1908]: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe Band 11, Frankfurt am Main.
Simmel, Georg 1999 [1907]: Grundfragen der Soziologie (Individuum und Gesellschaft), Gesamtausgabe Band 16, Frankfurt am Main.
Terpe, Silvia 1999: Die Schaffung sozialer Wirklichkeit durch emotionale Mechanismen, in: Forschungsberichte des Instituts für Soziologie, Martin-Luther-Universität.

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«Deshalb ist er [der Arme] im sozialen Sinn erst arm, wenn er unterstützt wird. (…) Soziologisch angesehen ist nicht die Armut zuerst gegeben und daraufhin erfolgt Unterstützung (…), sondern derjenige, der Unterstützung geniesst (…), dieser heisst der Arme»

Simmel, Georg (1992 [1908]): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 551.