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soziologie.ch soz:mag#6 "ausbildung, erfahrung und reife"

"ausbildung, erfahrung und reife"

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Eine Inspektion der Zulassungskommission für den Zivildienst

Der Zulassungsprozess für den schweizerischen Zivildienst sieht vor, dass jeder Gesuchsteller in einer persönlichen Anhörung den Gewissenskonflikt darlegen muss, der ihm das Leisten des Militärdienstes verunmöglicht. Die Glaubhaftigkeit dieses Konflikts wird von einer zivilen Zulassungskommission beurteilt. Nach welchen Kriterien aber werden diese Gewissensprüfer ausgewählt? Weshalb erhalten gerade sie die Kompetenz, auf das sittliche Empfinden der Dienstpflichtigen zugreifen zu dürfen? Ausgehend von der Analyse des Inserats, mit dem neue Kommissionsmitglieder gesucht werden, und nach Einsicht in die Dossiers der Bewerber macht der Autor des vorliegenden Beitrags verschiedene Typen von Kommissionsmitgliedern aus.

SOZ-MAG Beitrag von Lukas Neuhaus

Wer in der Schweiz aus Gewissensgründen keinen Militärdienst leisten kann oder will, muss ein Gesuch um Zulassung zum Zivildienst einreichen. Mit der Abwicklung des Zulassungsprozesses ist die Vollzugsstelle für den Zivildienst betraut, die dem Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement (EVD) zugeordnet ist. Die Zulassungskommission ist formell von der Vollzugsstelle unabhängig, arbeitet aber in der Erfüllung ihrer Aufgabe eng mit ihr zusammen.

Wer sind die amtlichen Gewissensprüfer?

Aus soziologischer Perspektive interessant ist der Umstand, dass der Bund als Vertreter des Gemeinwesens berechtigt ist, das Gewissen der Gesuchsteller zu durchleuchten und zu diesem Zweck Anhörungen durchzuführen. So kann die Anhörungssituation als Schnittstelle zwischen Individuum und Staat betrachtet werden, als staatlicher Zugriff auf das Intime und mithin Diffuse. Was nämlich unter dem "Gewissen" genau zu verstehen ist, darüber besteht keine Einigkeit - weder in der entsprechenden Literatur noch in der Kommission selbst. Das innere Empfinden des Gesuchstellers soll während der Anhörung soweit objektiviert werden, dass es diskursiv zugänglich wird. Da es sich um einen äusserst diffusen und hoch sensiblen Bereich handelt - letztlich um den Zugriff des Staatswesens auf das innere sittliche Empfinden seiner Subjekte - besteht ein grosser Legitimationsbedarf bei der Besetzung der Kommission. Es stellt sich daher die Frage, was die Legitimität eines Kommissionsmitglieds ausmacht.

Expertentum, Reife, Weisheit

Um die Arbeit der Verwaltungseinheiten theoretisch zu verorten, bietet sich ein Rückgriff auf Max Weber an. Der von Weber beschriebene Herrschaftstypus der "legalen Herrschaft mit bureaukratischem Verwaltungsstab" kommt mit dem für ihn typischen "kontinuierliche[n], regel-gebundene[n] Betrieb innerhalb einer Kompetenz" (Weber) dem hier vorliegenden Fall von Verwaltungshandeln sehr nahe. Im Unterschied zu den Angestellten der Vollzugsstelle (im Weberschen Sinne also den "Beamten") werden die Kommissionsmitglieder in ihr Amt gewählt. Sie rücken in die Nähe der "Honoratioren", also der zur Herrschaft Berufenen. Gerade diese Honoratiorenherrschaft entwickelt sich - Weber zufolge - "besonders oft in der Form des Entstehens vorberatender Gremien, welche die Beschlüsse der Genossen vorwegnehmen oder tatsächlich ausschalten" (Weber). Die Kommissionsarbeit steht bis zu einem gewissen Grad in der Tradition dieser Herrschaft der Honoratioren, geht es doch auch hier um Expertentum, Reife und Weisheit.

Neuhaus2004

Gesucht: für das Amt als Gewissensprüfer/in...

Eine empirische Grundlage für die Charakterisierung des idealen Kommissionsmitglieds bietet das Inserat, mit dem Mitglieder der Zulassungskommission angeworben werden. Basierend auf einer objektiv hermeneutischen Analyse des Inserates können die suggerierten Eigenschaften eines geeigneten Kommissionsmitglieds herausgeschält werden:

Als Erstes fällt dem Betrachter das Logo der Verwaltung auf. Die Rahmung des ganzen Inserates ist auf den ersten Blick gegeben und aktiviert bereits die Einstellung, welche die betrachtende Person dem Staatswesen generell und dem eidgenössischen im Speziellen entgegenbringt.

Die Zeile "Mitglieder der Zulassungskommission" wird - durch Zentrierung und Fettsetzung - typografisch als Einstiegssequenz intendiert. Diese begriffliche Konstruktion überrascht erst einmal im Kontext von Stelleninseraten, werden doch auf den einschlägigen Seiten im Stellenmarkt normalerweise nicht Mitglieder, sondern Mitarbeitende gesucht. Das Inserat besitzt einen Appellcharakter, da zunächst nicht klar ist, worum es sich bei der Tätigkeit der Kommission handelt und daher die Termini "Mitgliedschaft" und "Kommission" im Rahmen der obrigkeitlichen Ansprache auf Ehrenamtlichkeit verweisen könnten.

Der links fett gesetzte Titel "Zivildienst" lässt als Überschrift eine Definition erwarten, er wirkt im typografischen Kontext lexikonhaft. Der symmetrisch komplementäre Titel rechts ("Bewerbung") irritiert die Erwartung einer weiteren Definition, da vernünftigerweise nicht anzunehmen ist, die rechte Spalte würde nun eine begriffliche Definition einer Bewerbung liefern. Die Symmetrie ist also rein gestalterischer und nicht inhaltlicher Natur. Erst mit dem Titel "Bewerbung" jedoch wird klar, dass es sich beim Inserat auch wirklich um ein Stelleninserat handelt und nicht um einen Aufruf.

...eine unabhängige Persönlichkeit mit Schweizer Bürgerrecht

Bei genauerer Hinwendung zum Text erfährt man nun, dass das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement "Persönlichkeiten mit Schweizerbürgerrecht" sucht. Eine "Persönlichkeit" lässt sich kaum mit harten Kriterien fassen, vieles hängt bei der Zuschreibung dieses Status von symbolischem Kapital ab. Es handelt sich daher auch nicht um eine rein subjektive Kategorie, welche ausschliesslich aufgrund von Selbsteinschätzungen zustande käme. Für den Status der Persönlichkeit existieren durchaus gängige äusserlich feststellbare Indizien, wobei jedoch ein grosser Spielraum besteht. Die zweite Bedingung, welche die gesuchte Persönlichkeit erfüllen muss, ist dagegen eine objektiv beweisbare und "harte": das Schweizerbürgerrecht.

Der unter der zentralen Zeile platzierte Zwischentitel "Ihr Profil" lässt eine Spezifizierung der Anforderungen erwarten. Mediumstypisch ist hier der undistanzierte Sprachgebrauch: Anstatt ein "gewünschtes Profil" zu präsentieren, suggeriert die Wendung "Ihr Profil", die lesende Person sei bereits ein solches Mitglied. Dieser Sprachgebrauch wird in der Folge weitergeführt. Die Genauigkeit der Spezifizierungen "Ausbildung", "Erfahrung" und "Reife" nehmen in der genannten Reihenfolge ab. Während der Grad und die Richtung der Ausbildung noch beleg- und daher greifbar sind und die Erfahrung aus der Dauer einer spezifischen Tätigkeit zumindest erahnt werden kann, verweigert sich die "Reife" diesbezüglich jeglichem Zugriff. Sie kann nur behauptet werden. Da keines der drei Selektionskriterien inhaltlich spezifiziert wird, also weder beispielsweise eine technische Ausbildung noch eine langjährige berufliche Erfahrung und noch nicht einmal hohe Reife ausdrücklich verlangt wird, fallen die Kriterien völlig der interpretativen Leistung der lesenden Person anheim (und dasselbe kann von der Wendung "ausgeprägte kommunikative Fähigkeiten" gesagt werden).

Das "zielorientiert[e]" Führen der Gespräche legt den Schluss nahe, dass ein Gesprächsziel besteht und dass dieses Ziel erreicht werden kann und sogar erreicht werden muss. Und "zuzuhören" bedingt zwar passives Tun, die Betonung liegt jedoch ausdrücklich auf der Aktivität dieses passiven Tuns, wenn im Inserat von "aktivem Zuhören" die Rede ist. Die Forderung, sich nicht "von Vorurteilen leiten zu lassen", rundet den Katalog der erwarteten Virtuoseneigenschaften ab und komplettiert den etwas hilflos formulierten und hoch redundanten ersten Satz des Profils.

"Sie vertreten in Ihrer Arbeit als Kommissionsmitglied keine ideologischen Ziele und keine Interessen" klingt wiederum im genretypischen Sprachgebrauch plausibel. In diesem Satz wird zum ersten Mal explizit von Arbeit gesprochen. Bisher war im Grunde unklar, worum es beim Inserat eigentlich geht. Der zweite Teil des Satzes lässt vermuten, dass es sich bei der Arbeit um eine Tätigkeit handeln wird, bei welcher diffus und mystifizierend angesprochene "bestimmte Kreise" ein Wort mitreden könnten bzw. möchten, man sich aber hüte, dem Einfluss dieser Kreise zu erliegen. "Bestimmte Kreise" sind im täglichen Sprachgebrauch ja stets verschwörerisch, übelgesinnt oder gar böswillig-subversiv.

Zur "Aufgabe" gehört die Verantwortung "für die Gesprächsführung". Der Ausdruck "Gespräch" mit seiner Konnotation als Dialog zwischen gleichberechtigten Gesprächspartnern wird ausserdem massiv relativiert durch den kurz darauf für die offenbar selbe Situation verwendeten Begriff der "Anhörung". Bei einer Anhörung handelt es sich ja üblicherweise um eine durch ein hohes Machtgefälle geprägte Kommunikationssituation.

Aufschlussreich ist die "Hinterfragung des Gewissenskonfliktes". Eine Hinterfragung wird gemeinhin erst dann notwendig, wenn begründeter Anlass zu Misstrauen besteht. Nicht von ungefähr wird vom künftigen Kommissionsmitglied also nicht Interesse oder gar Neugier am Gewissenskonflikt des Gesuchstellers erwartet, sondern die Hinterfragung dieses Konfliktes. Das Satzglied "zur" lüftet darüber hinaus das Geheimnis um das "Ziel" des Gesprächs. Die oben verlangte Zielorientierung bezieht sich letztlich auf die Hinterfragung des Gewissenskonfliktes.

Der folgende Satz ("[i]m Anschluss an die individuellen Anhörungen tragen Sie zur Entscheidungsfindung [...] bei") lässt vermuten, dass es ein klar geregeltes Verfahren gibt. Der Begriff "Entscheidungsfindung" impliziert, dass es keine rein technische Lösung des Problems geben kann, sondern dass es sich um einen Entscheid handelt, der erst einmal gefunden werden muss. Die Wendung "formulieren sowie begründen" verweist darauf, dass für die Tätigkeit in der Kommission ein Willkürverbot herrscht, weil die gefundenen Entscheide auch einer argumentativen Legitimation bedürfen.

Der Idealbewerber

Das Inserat ist durchtränkt von Allgemeinplätzen und sprachlich ungenauen, weil inhaltlich diffusen Formulierungen. Es fällt aber genau dadurch im Kontext von Stelleninseraten nicht weiter auf und passt sich diesen weitgehend an. Mit dem interpretierten Inserat kann nun auf die ideale Bewerberin und den idealen Bewerber geschlossen werden.

Personen, die sich unter die Kategorie "Persönlichkeit" subsumieren, deuten ihren eigenen Status als in gewisser Hinsicht distinkt. Da der Terminus jedoch (insbesondere auf den einschlägigen Stellenseiten) inflationär verwendet wird und für viele lediglich zu einem Synonym für die schlichte Person geworden ist, lässt eine allfällige Bewerbung noch nicht automatisch auf ein bewusstes Bedürfnis zur Distinktion oder eine aktive Selbstwahrnehmung als Persönlichkeit schliessen.

Für eine allfällige Bewerbung ist es zentral, dass man sich zum Staat und dessen Institutionen bekennt. Hinweise darauf sind schon durch die formale Aufmachung des Inserates gegeben. Der Sprachgebrauch macht das potenzielle Kommissionsmitglied zu einem ausführenden Organ der Behörden (z. B. "versetzen Sie in die Lage"). Das explizite oder implizite Einverständnis mit der gesetzlichen Regelung der Zulassungspraxis wird erwartet und vorausgesetzt. Offensichtlich wurde es trotzdem für notwendig erachtet, die Lesenden in der linken Spalte über das Wesen des Zivildienstes aufzuklären. Im Alltag wird dieser zwar oft noch mit dem Zivilschutz verwechselt, allfälligen Mitgliedern der Zulassungskommission sollte der Unterschied jedoch bekannt sein, weil man von ihnen erwarten dürfte, dass sie sich gerade durch ihre "Ausbildung, Erfahrung und Reife" vom profanen Alltagsmenschen abgrenzen. Gebrochen wird das Bekenntnis zum Staat einzig durch die Autonomie suggerierende Wendung, es handle sich bei der Kommission um eine "verwaltungsexterne". Es wird ausserdem eine Tätigkeit "im Dienste der Sache" beschrieben, was sich durch die Nähe der Formulierungen am Ehrenamtlichkeitsjargon zeigt ("Mitglied", "Kommission", "Reife", "Verfügbarkeit"). Wer sich bewirbt, fühlt sich idealerweise dazu berufen.

Zusammenfassend können folgende Charakteristika des idealen Bewerbers und der idealen Bewerberin genannt werden. Es handelt sich um (1) sich als distinkt wahrnehmende und also statusbewusste, (2) sich für die Prozedur der Zulassung interessierende und also staatsbewusste, (3) ideell dazu berufene, (4) sich als ideologisch unabhängig wahrnehmende und (5) zeitlich unabhängige Personen.

Typologie der Kommissionsmitglieder

Zum Untersuchungszeitpunkt anfangs 2004 bestand die Zulassungskommission des Zivildienstes aus 116 Personen. Der Frauenanteil lag bei lediglich rund 30%. Auch sind die jüngeren Kommissionsmitglieder im Vergleich zu den älteren deutlich untervertreten. Obwohl zwar bezüglich Alter laut Verordnung Ausgewogenheit gewährleistet sein sollte, besteht gleichzeitig der (offensichtlich konkurrierende) Grundsatz, dass besonders Persönlichkeiten, "aufgrund ihrer Ausbildung, Erfahrung und Reife" die Aufgaben eines Kommissionsmitgliedes erfüllen können.

Die Mitglieder der Zulassungskommission verfügen über ein ausgesprochen hohes Bildungskapital. Fast 80% können einen Hochschulabschluss vorweisen, weitere 17% geben als höchsten Abschluss immerhin noch eine Mittelschule an. Im Vergleich zum gesamtschweizerischen Durchschnitt sind die technischen bzw. die gleichrangigen nichttechnischen Berufe und vor allen Dingen die kaufmännischen und handwerklichen Berufe deutlich untervertreten.

Durch die Anwendung von qualitativen Methoden der Kategorienbildung konnten verschiedene idealtypische Kommissionsmitglieder konstruiert werden.

"Karrieristen auf der Suche"

Die Fälle der statistisch dominanten Kategorie konnten zum Typus des "Karrieristen-auf-der-Suche" zusammengefasst werden. Beide exemplarisch ausgewählten Fälle sind langjährige Mitarbeiter in einem grossen Unternehmen bzw. in einer kommunalen Verwaltung. Innerhalb dieser Institutionen haben sie mehrfach die Position gewechselt und eine Karriere im klassischen Sinn durchlaufen. Mit rund 45 Jahren haben sie sich für die Tätigkeit in der Zulassungskommission beworben. Die Vermutung liegt nahe, dass beide nach jahrzehntelanger relativ stabiler beruflicher Tätigkeit eine Herausforderung suchen, welche ausserhalb dieses Berufsfeldes angesiedelt ist. Sie sind berufsbiografisch arriviert und in ihren jeweiligen Betrieben in genügend gefestigter Stellung, um sich "mindestens 15 Arbeitstage pro Jahr" anderweitig betätigen zu können. Beide Bewerber zeichnen sich aus durch den Willen zur Ehrenamtlichkeit und durch die Selbsteinschätzung als Persönlichkeit, "welche die geforderten Qualitäten aufweist". Beide sind bereit, sich in den Dienst einer höheren Aufgabe zu stellen. Die wichtigste Motivation ist die Suche nach einer neuen Herausforderung. Ihr Interesse gilt zu einem nicht unwesentlichen Grad dem Verfahren; zudem reizt es sie, in einer Kommission mitzuarbeiten.

"Berufsmässige und vermittelte Mütter"

Zwei weitere Typen werden ausgehend von den beiden zum ersten Typus maximal kontrastierenden Fällen gebildet. Beide zur Illustration der berufsmässigen Mutter herbeigezogenen Fälle können als mehr oder weniger typische Vertreterinnen einer Frauenrolle angesehen werden, in welcher der Frau eine fürsorgerische und nicht zuletzt pflegende Funktion zugewiesen wird. Zur selben Kategorie geschlagen werden können jedoch auch männliche Kommissionsmitglieder in sozialpädagogischen und pflegerischen Berufen. Auch diese sind berufsmässige Mütter im hier vorliegenden Sinn. Wie im umgekehrten Fall der Karrieristen-auf-der-Suche gilt aber auch hier, dass ein "typisches" Geschlecht existiert. Im vorliegenden Fall der Mütter sind es nun die Frauen.

Im Gegensatz zum Typus "berufsmässige Mutter" existiert auch eine Kategorie von Frauen ohne fürsorgerische Ausbildung, die jedoch nicht zu den Karrieristinnen gezählt werden können, weil sich ihre beruflichen Biografien von den männlich geprägten Normalkarrieren unterscheiden. Da in der Normalbiografie von Frauen die Konfrontation mit den Fragen der Landesverteidigung nicht zwingend erfolgt und die Karriere für die Bewerbung nicht ausschlaggebend zu sein schien, muss die Erklärung der Motivation an anderer Stelle gesucht werden. Ohne den unterstellten Sohn im kritischen Alter wäre die vermittelte Mutter nun mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht mit dem Problemkomplex Militär- bzw. Zivildienst in Berührung gekommen. Die grosse Zahl von Müttern unter den Kommissionsmitgliedern vermag die Vermutung zu stützen, dass das Interesse am Zivildienst durch eine männliche Bezugsperson - hier durch einen Sohn - vermittelt ist. Im Unterschied zu den Männern in der Kommission nimmt die Auseinandersetzung mit dem Militärdienst in der Normalbiografie von Frauen keinen zentralen Stellenwert ein. Im Extremfall erlebt die Mutter die einsetzende Militärdienstpflicht des Sohnes als Transgression des Staatswesens in das innere Gefüge der Familie.

"Kommissionsmitglieder-trotz-allem"

Die ausgewählten "Kommissionsmitglieder-trotz-allem" stellen einmalige Beispiele dar, weil sie in einer jeweils spezifischen Kategorie eine erklärungsbedürftige Ausprägung aufweisen. Unterscheiden lassen sich bei den Kommissionsmitgliedern-trotz-allem die Untergruppen "Feigenblätter" (für einzelne VertreterInnen einer Kategorie, die sonst nicht vertreten wäre), "Experten" (für Kommissionsmitglieder, welche ein offensichtliches Manko durch ihren Expertenstatus wettzumachen vermögen) und "Virtuosen" (für Personen, deren Mitgliedschaft einer Kommission gut ansteht).

Synthese

Ordnet man die durch die objektiv hermeneutische Interpretation des Inserates gewonnenen Kriterien den skizzierten Fällen zu, lässt sich folgendes Bild zeichnen: Bei den "Karrieristen auf der Suche" dominiert idealtypisch die Orientierung am Statusbewusstsein und das Interesse an der Teilnahme am Prozess der Zulassung, was mit einiger Vorsicht auch als Dominanz des "Staats"bewusstseins gedeutet werden kann. Die berufsmässigen Mütter bzw. Sozialpädagogen dürften idealistische Motive der Berufung in den Vordergrund stellen. An dieser Stelle kann zwischen den beiden Typen von "Müttern" - berufsmässigen und vermittelten - eine leichte Differenzierung eingeführt werden: Die beruflich als Mütter Tätigen dürften stärker an der Berufung orientiert sein als die via Einfluss von Drittpersonen interessierten Kommissionsmitglieder. Jene geben wiederum dem Prozess und ihrem eigenen Status eine höhere Bedeutung.

Für die "Kommissionsmitglieder-trotz-allem" lässt sich keine generell dominierende Orientierung feststellen, da sie selbst nicht einen Typus im eigentlichen Sinne darstellen. Es ist plausibel, dass in allen drei übrigen Ausprägungen Feigenblätter, Experten und Virtuosen vorkommen.

Offene Frage: wer sorgt für Kompetenz?

Die Tätigkeit der Zulassungskommission verlangt ein hohes Mass an unverschriftetem und implizitem Regelwissen. Dieses Wissen kann nur bedingt vermittelt werden. Die bei der Schulung der Kommission herbeigezogenen Experten für Ethik und Philosophie sind sicherlich Ausdruck einer diesbezüglichen Absicht. Die hoch sensible Tätigkeit der Zulassungskommission entzieht sich indes dem Unterfangen, in objektiv messbare Qualitätskriterien geformt zu werden. Als Indizien für eine gute Qualität werden bisher lediglich die relative Problemlosigkeit der Praxis und die sinkenden Kosten pro Zulassung angeführt. Dass sich das Wirken der Zulassungskommission in diesen Daten nicht erschöpft, dürfte auf der Hand liegen. Es ist aber ebenso klar, dass es im Rahmen der geltenden gesetzlichen Grundlagen, also so lange die allgemeine Wehrdienstpflicht den Zivildienst explizit nur als Ausnahme vorsieht, kaum eine ernsthafte Alternative zur heutigen Praxis der Zulassungskommission geben kann. Mit diesem schalen Gefühl müssen Zivildienstwillige zwangsläufig weiterhin leben.

Lukas Neuhaus studiert Soziologie in Bern. Der vorliegende Beitrag basiert auf seiner Fachprogrammarbeit "Ausbildung, Erfahrung und Reife. Ein Portrait der Zulassungskommission für den schweizerischen Zivildienst".

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«Wer ernstlich über Sexualität zu sprechen beabsichtigt, kommt an der Gesellschaftsordnung nicht vorbei.»

Thomas Laqueur (1992): Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt am Main, S. 24.