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Telearbeit, eine Folge der modernen individualisierten Gesellschaft?

Telearbeit, das durch neue Kommunikations- und Informationstechnologien ermöglichte ortsunabhängige Arbeiten, ist fester Bestandteil aller berufsbezogenen Zukunftsszenarien. Obwohl sich die Telearbeit bis jetzt nur zögerlich entwickelt hat, werden mit ihr von allen Seiten grosse Hoffnungen verknüpft: Grössere Effizienz, mehr Freiheit für Arbeitnehmer und neue Kombinationsmöglichkeiten von Familie und Beruf. Im folgenden Artikel wird die Entwicklung der Telearbeit als Folge der Individualisierung gedeutet. Zudem wird auf die negativen Seiten der „neuen Freiheit“ eingegangen: Entwurzelung und Desorientierung, soziale Isolation und neue Formen der Kontrolle.

SOZ-MAG Beitrag von Stephan Philippi

Ambivalenzen der Individualisierung

Individualisierung hat Konjunktur und gehört unbestritten zu den Schlagwörtern der Moderne. Spätestens seit den 1980er Jahren hat sie sich eine zentrale Position in der Gegenwartssoziologie erobert. Doch der Begriff ist in der Soziologie keineswegs neu. Schon Klassiker der Soziologie wie etwa Tönnies, Durkheim, Weber, Simmel oder auch Elias sahen in der Individualisierung einen Wesenszug der Entwicklung zur Moderne, der diese von der traditionalen Gesellschaft unterscheidet. Und obwohl das Konzept der Individualisierung in seiner empirischen Reichweite nach wie vor umstritten ist, wird die prinzipielle Relevanz dieses Konzepts für eine hinlänglich angemessene Rekonstruktion unserer Gegenwartsgesellschaft nicht in Frage gestellt.

Das Konzept der Individualisierung gehört mit zu den fruchtbarsten Theorieansätze der Soziologie zum sozialen Wandel der Modernen. Unzählige Autoren griffen und greifen das Thema auf und leisten ihren Beitrag zu diesem Themenkomplex, auf theoretischer oder empirischer Ebene. Der Prozess der Individualisierung wird in der Soziologie dabei einerseits als positiver Prozess bewertet – etwa von Durkheim, Parsons oder Luhmann –, der dem Individuum neue Chancen ermöglicht, zu neuen Freiheiten führt und zu einer allgemeinen Steigerung der Individualität führt. Andererseits wird er auch negativ bewertet, wie von Weber, Adorno und Foucault, die von einer Gefährdung des Individuums ausgehen, das durch Standardisierungs- und Uniformierungsprozesse in seiner Wahl- und Entscheidungsfreiheit rigoros eingeschränkt wird und einen Verlust der eigenen Individualität hinnehmen muss.

Individualisierung in ihrer ambivalenten Form verstanden – wie bei Simmel, Elias und Beck -, bedeutet in der Gegenwartsgesellschaft zum einen die Freisetzung des Individuums aus den traditionellen Sozialgebilden der Industriegesellschaft. Damit einhergehend kommt es zu einer Steigerung der persönlichen Autonomie und einem Anwachsen der Handlungs- und Entscheidungsfreiheiten. Das Individuum wird zudem unabhängiger von sozialen Gruppen, verselbständigt sich zusehends und wird nicht mehr durch soziale Bindungen an seiner Entfaltung gehindert. Die Möglichkeiten der Selbstbestimmung wachsen, wodurch es zu einer Entfaltung der eigenen Individualität kommt. Das einzelne Individuum stellt sich und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt seines Lebens. Doch weist der Individualisierungsprozess in seiner Ambivalenz auch negative Aspekte auf, die Neugewonnenen Freiheiten sogleich wieder einschränken. Denn Individualisierung heisst eben auch, dass das Individuum aufgrund der Freisetzung aus traditionellen Bindungen entwurzelt wird und zu einer gewissen Orientierungslosigkeit tendiert. Durch das Anwachsen der Handlungs- und Entscheidungsfreiheiten kann es zu einer Überforderung des Individuums angesichts der sich ihm bietenden Handlungsoptionen kommen, da das Individuum unter Wahlzwang steht und sich für eine der zahlreichen Optionen entscheiden muss. Wie Simmel gezeigt hat, kommt es zudem zu einer Versachlichung der sozialen Beziehungen, was zu einer gewissen Distanz zwischen den Individuen führt. Es kann ein Gefühl der Isolation seitens des Individuums aufkommen, auch wenn dieses objektiv gesehen ein umfangreiches Beziehungsnetzwerk besitzt, denn rationalisierte und versachlichte Beziehung werden oft als emotionslos und unbefriedigend empfunden.

Ursprünge und Entwicklung der „Telearbeit“

Diese Dimensionen des Individualisierungsprozesses lassen sich auch beim Übergang von der traditionellen Erwerbstätigkeit in die Telearbeit feststellen. Diese stellt in erster Line eine neu entdeckte Arbeitsform mit historischen Wurzeln dar, deren Ursprünge in der auf dem Verlagswesen (zu Hause ausgeführte Auftragsarbeit) basierenden Heimarbeit liegen, die im 14. und 15. Jahrhundert aufkam und ihren Höhepunkt in der Protoindustrialisierung fand. Betrachtet man die historische Entwicklung der menschlichen Erwerbsarbeit, kann man beim Konzept der Telearbeit von einer Rückentwicklung – im positiven Sinn – zur ursprünglichen Form der menschlichen Arbeitsorganisation sprechen. Vor der industriellen Revolution war es durchaus normal, die Arbeit zu Hause oder in unmittelbarer Nähe des eigenen Wohnorts zu verrichten. Dies änderte sich jedoch mit dem Aufkommen der Grossindustrie, der Fabriken und etwas später der Fliessbandarbeit, indem es zu einer – wie Weber bemerkte – institutionellen Trennung von Betrieb und Haushalt kam. Seither kam nicht mehr die Arbeit zu den Menschen, sonder der Mensch ging zur Arbeit und bis heute werden oft erhebliche Distanzen überbrückt und damit einhergehend viel Zeit aufgewendet, um an die für den Verdienst des Lebensunterhalts wichtige Arbeitsstätte zu kommen. Eine erneute Dezentralisierung der Arbeitsplätze wurde erst durch die schnell voranschreitenden Entwicklungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien wieder aufgegriffen.

Obwohl sich die Telearbeit mit der traditionellen, historischen Heimarbeit vergleichen lässt, ist sie doch eine moderne Arbeitsform, mit grossen Unterschieden zu den traditionellen Wurzeln. Unter Telearbeit, deren erste Versuche in den 60er Jahren zu finden sind, ist dabei ganz allgemein informationstechnisch unterstützte Arbeit über räumliche Distanzen hinweg zu verstehen, die auf verschiedene Arten vorkommen kann, denen gemeinsam ist, dass die Beschäftigten hauptsächlich zu Hause, in Satelliten- oder Nachbarschaftsbüro oder an einem ortsungebundenen Arbeitsplatz arbeiten.

1999 erlebte die Telearbeit einen richtiggehenden Boom und wurde in einer Vielzahl von Schlagzeilen aufgegriffen, die den Durchbruch dieser Arbeitsform verkündeten. Nach Jahren der Ernüchterung darüber, dass die Telearbeit nur geringe Zuwachsraten verzeichnen konnte, wurde Ende des 20. Jahrhunderts aufgrund eines vergleichsweise starken Anstiegs von einem Siegeszug gesprochen, obwohl die Telearbeitenden nach wie vor einen geringen Prozentsatz der gesamten arbeitenden Bevölkerung darstellen. Auslöser dieser Zunahme sind vielfältiger Natur und umfassen technische, ökonomische und unternehmensorganisatorische Entwicklungslinien ebenso wie politische Förderinitiativen und vor allem veränderte Präferenzen in der Interessenlage von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die häufig mit dem Begriff der “Individualisierung” umschrieben werden.

In geradezu seltener Einheit erklären Forscher, Unternehmer und Gewerkschafter, dass das Arbeitsmodell Industriegesellschaft im Begriff ist sich aufzulösen, und die Telearbeit hilft bei diesem Auflösungsprozess tatkräftig mit. Obwohl sie als Arbeitsform nur von einem geringen Prozentsatz der arbeitenden Bevölkerung ausgeübt wird, ist sie als neue Form der Arbeitskultur zu einem festen Bestandteil in der öffentlichen Diskussion über die zukünftigen Formen der Erwerbsarbeit geworden.

Dank der Entwicklung neuer Technologien im Telekommunikationsbereich, der Verbreitung von Computern in nahezu allen Arbeitsbereichen wurden Voraussetzungen für eine stärkere Verbreitung der Telearbeit geschaffen, denn die Entstehung der Telearbeit ist eng mit der Entstehung der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft verknüpft. Erst der Übergang von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft und deren weitere Transformation zur Wissens- oder Informationsgesellschaft legte den Grundstein für die Entwicklung der Arbeitsform der Telearbeit.

Fluch und Segen der Telearbeit

Die Telearbeit als Sinnbild einer modernen Arbeitsform strahlt unübersehbar eine gewisse Faszination aus. Des Öfteren bildet sie einen zentralen Bestandteil von Zukunftsszenarien, die durch Wissenschaftler, Unternehmer und Politiker gezeichnet werden. Diese Faszination, ebenso wie die grosse Nachfrage der Beschäftigten in bisherigen Modellprojekten, besteht vor allem aus den Hoffnungen, die ihr von unterschiedlichster Seite entgegengebracht werden. Politiker erhoffen sich, dass die neuen flexiblen Beschäftigungsverhältnisse gegen steigende Erwerbslosigkeit anwirken, Unternehmen sehen in der Telearbeit die Möglichkeit Ressourcen einzusparen und Kosten zu minimieren, und die Arbeiter erhoffen sich ein freieres, selbständigeres und besseres Arbeits- und Privatleben.

Denn die Telearbeit vermag die gewohnten Raumstrukturen aufzulösen und macht somit unabhängig vom Ort und in beschränktem Masse auch von der Zeit. Was bisher statisch auf einen Ort, nämlich den Arbeitsplatz, beschränkt war, gewinnt an Mobilität. Dieser erwähnte Übergang von der traditionellen Erwerbsarbeit zur modernen Telearbeit, stellt an und für sich schon einen Prozess der Feisetzung der Arbeit aus ihren traditionellen Strukturen dar, wie er etwa von Ulrich Beck beschrieben wurde. Der Übergang zur Telearbeit reiht sich so nahtlos in die Freisetzungstendenzen des Individualisierungsprozesses ein und stellt selbst einen solchen Freisetzungsprozess dar. In diesem Zusammenhang kommt es für die Telearbeitenden ebenfalls zu einem Zugewinn an persönlicher Autonomie und Unabhängigkeit. Durch die Flexibilisierung der Arbeitszeit, des Arbeitsorts und des Arbeitsverhältnisses ist der Arbeitende nicht mehr so stark in das Unternehmen eingebunden.

Doch in Zusammenhang mit der Freisetzung des Arbeiters aus den traditionellen Arbeitsverhältnissen kann es, ebenso zu einer Entwurzelung und Orientierungslosigkeit des Telearbeitenden kommen. Denn mit dem Wegfallen der strukturierten Arbeit, kommt es auch zu einem Wegfallen einer gewissen Alltagsstruktur, die durch den Arbeitsalltag gegeben war. Telearbeit befreit den Arbeiter von Zwängen der Erwerbsarbeit, doch kommt es in Zusammenhang mit ihr auch wieder zu neuen Zwängen und Abhängigkeiten, so dass sich die gewonnene Freiheit als eine vermeintliche herausstellt. Wie Richard Sennett dargelegt hat, unterliegt der Arbeitende nach wie vor der Kontrolle seines Arbeitgebers. Dies kann zu einer erheblichen Einschränkung der persönlichen Freiheiten führen. Es darf zudem nicht vergessen werden, dass die Telearbeiter zu einem oftmals erheblichen Teil zu Hause arbeiten. Telearbeit vermag dabei die Distanz in den Sozialbeziehungen (zumindest auf betrieblicher Ebene) noch zu verstärken, da eine gewisse Nähe zu den Kollegen fehlt. Durch die Versachlichung der sozialen Beziehungen kann es daher zu einem subjektiven Gefühl der Isolation seitens der Telearbeitenden kommen.

Telearbeit als Konsequenz und Antwort auf die Individualisierung

Die Telearbeit reiht sich somit in den Individualisierungsprozess ein und kann diesbezüglich als Konsequenz dieser Entwicklung verstanden werden. Doch Telearbeit stellt nicht nur eine Konsequenz des Individualisierungsprozesses dar, sondern kann auch als Antwort auf diesen Prozess verstanden werden. Dem Phänomen des Singles, das immer wieder in der Individualisierungsdebatte aufgegriffen wird, kommt gerade in Zusammenhang mit der Telearbeit, erhöhte Bedeutung zu. Mit ein Grund für die wachsende Anzahl Single-Haushalten in der Bevölkerung ist das Problem der Zusammenführung der beiden Lebenswelten Erwerbs- und Familienleben, welche in der Gegenwartsgesellschaft äusserst schwierig zu bewerkstelligen ist. Das Singledasein ist gewissermassen die Konsequenz aus der Unmöglichkeit Familie, persönliche Interessen und das Erwerbsleben gleichzeitig miteinander in Einklang zu bringen. Zugunsten der Selbstentfaltung in Beruf und dem Ausleben persönlicher Interessen wird auf die Familie verzichtet. Telearbeit erscheint hier als Chance, das zusammenzuführen was im Zuge des Individualisierungsprozesses getrennt wurde. Sie bietet die Möglichkeit, Familienleben und Erwerbsarbeit miteinander zu koordinieren und aufeinander abzustimmen, so dass die Wahl beider Optionen zu einer vereinbarenden Möglichkeit wird. Umso notweniger wird dabei jedoch eine umfassende Strukturierung des Alltags, die von den Telearbeitenden und ihren Familien vorzunehmen ist.

Bisher wurde vor allem dargelegt, dass die Telearbeit zu einer Ausweitung persönlicher Freiheiten beitragen kann, der verbesserten Vereinbarkeit von Beruf und Familie dienlich ist.

Setzt sich Telearbeit durch?

Es sind jedoch auch Zweifel angebracht, ob Telearbeit überhaupt ein Aspekt der Individualisierung darstellt. Denn betrachtet man die Verbreitung der Telearbeit und deren Entwicklung über die vergangenen 30 Jahre, so lässt sich sagen, dass sich die Telearbeit bis anhin noch nicht wirklich durchgesetzt hat. Obwohl schon vor etlichen Jahren dieser Arbeitsform eine erdrutschartige Verbreitung vorausgesagt wurde, ist nichts dergleichen geschehen und die Verbreitung ging nur langsam, wenn auch stetig von statten.

Anhand der zur Verfügung stehenden Zahlen ist es nicht ohne weiteres möglich zu sagen, ob die Telearbeit ein Aspekt oder eine Folge des Individualisierungsprozesses darstellt. Eine voreilige Verneinung wäre jedoch ebenso unangebracht, wie ein unerschütterliches „Ja“. Der moderne Individualisierungsprozess wurde von Beck 1983 aufgegriffen. Als Prozess ist er weder abgeschlossen noch fertig, sondern geht stetig weiter. Konsequenzen dieses Prozesses und Folgeerscheinungen werden erst allmählich sichtbar oder befinden sich noch im Entstehen. Telearbeit, auch wenn noch nicht überaus verbreitet, kann also als Konsequenz in den ‚Startlöchern’ gesehen werden, und betrachtet man die Prognosen der Experten, so wird sich diese Arbeitsform zweifelsfrei weiter verbreiten. Es wird daher wohl noch etwas Zeit brauchen, bis das Ungewöhnliche, als das die Telearbeit aufgrund ihrer Irregularität noch immer wahrgenommen wird, zu etwas Gewöhnlichem und diese Form der Flexibilität Teil der gelebten Praxis wird. Denn Telearbeit stellt sozusagen implizit gesellschaftliche und kulturelle Gewohnheiten und Regeln in Frage. Sie führt zu einer Ablösung des traditionellen Arbeitsverhältnisses, reisst beruflich gewachsene Kontaktstrukturen auseinander und entbindet die Arbeit von ihrer Ortsgebundenheit.

Stefan Philippi hat Soziologie, Geschichte und Medienwissenschaften an der Universität Basel studiert. Seit März 2003 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt “Nachhaltigkeitsberichterstattung: Zur Ökonomisierung eines ökologischen Konzepts”, das von der Professur für Wissenschaftsforschung der Universität Basel und dem Institut für Nachhaltiges Management der Fachhochschule Aargau durchgeführt wird, tätig.

Literaturauswahl

Dostal, Werner (1999): Telearbeit in der Informationsgesellschaft. Göttingen
Jäckel, Michael und Christoph Rövekamp (2001): Alternierende Telearbeit. Akzeptanz und Perspektiven einer neuen Form der Arbeitsorganisation. Wiesbaden
Kippele, Flavia (1998): Was heisst Individualisierung? Die Antworten soziologischer Klassiker. Opladen und Wiesbaden
Schroer, Markus (2001): Das Individuum der Gesellschaft.Frankfurt am Main

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«Es waren fragmentarische Forschungen, von denen letztlich keine vollendet wurde, ja nicht einmal Folgen hatte, zugleich zerstreute [...]. All das schleppt sich hin, geht nicht vorwärts, wiederholt sich und bildet kein zusammenhängendes Ganzes; im Grunde sagt es beständig das Gleiche, doch sagt es vielleicht auch gar nichts aus. In zwei Worten: es ist nicht schlüssig.»

Michel Foucault (1977): Intervista a Michel Foucault, in: A. Fontana / P. Pasquino (Hg): Microfisica del Potere: Interventi plitici, Turin, S. 55f.