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die angst vor dem verbrechen

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Das Konzept der "Kriminalitätsfurcht" und verschiedene Erklärungsansätze

Der Begriff der Kriminalitätsfurcht hat eine verschwommene Bedeutung. Kriminalitätsfurcht kann eine Reaktion auf einen Wohnungseinbruch, ein Raubdelikt oder eine Vergewaltigung sein, aber auch einfach nur die Angst vor der prinzipiellem Möglichkeit, selbst Opfer zu werden. Sie ist so unterschiedlich in ihrer Ausprägung wie die Delikte selber. Weil es nur wenige oder keine allgemein akzeptierte Definition der Kriminalitätsfurcht gibt, kann davon ausgegangen werden, dass die Kriminalitätsfurcht kein fixer Charakterzug ist, den manche Personen haben und andere nicht. Vielmehr ist sie als vorübergehend und situationsbezogen zu verstehen. Mit anderen Worten, wir alle tauchen in einem gewissen Sinne ein in die Schatten der Furcht und aus ihnen wieder heraus, über das ganze Leben hinweg, beeinflusst von unseren eigenen Erfahrungen und unseren räumlich-zeitlichen und sozialen Situationen.

SOZ-MAG Beitrag von Wolfgang Galsterer

Das Konzept der Kriminalitätsfurcht

In den Augen vieler erscheint die Sicherheit heute prekärer als noch vor rund einer Dekade. Sicherheit - im Allgemeinen - muss immer wieder neu definiert und beurteilt werden. Dies geschieht in der Regel nur beschränkt nach objektiv messbaren Kriterien. Für die Sicherheit in Bezug auf eine allfällige Gefährdung durch Kriminalität gilt dies auch, möglicherweise gar in ausgeprägter Weise.

Die Schwierigkeit einer genauen Definition zeigt sich bereits beim Begriff Kriminalitätsfurcht. Angst und Furcht sind eine emotionale Reaktionen bei Erwartung eines bedrohlichen Ereignisses, vermeintlich oder real. In Abgrenzung zu Angst wird der Begriff der Furcht aber korrekterweise im Zusammenhang mit konkreten Ereignissen eingesetzt. Furcht entsteht also eigentlich erst nachdem jemand Opfer geworden ist. Eine solche Viktimisierung kann ein kritisches Lebensereignis sein, welches das persönlich wahrgenommene Sicherheitsgefühl massgeblich beeinflusst. Im Falle der kriminellen Viktimisierung können die einsetzenden Bewältigungsprozesse begleitet sein von Angst und Depression. Der Begriff Kriminalitätsfurcht bezeichnet heute im deutschen Sprachraum aber ganz allgemein die Angst davor, Opfer eines Delikts zu werden. Unabhängig davon, ob jemand schon konkrete Viktimisierungs-Erlebnisse hatte.

Wie mit dieser Angst emotional umgegangen wird, kann individuell sehr verschieden ausfallen. Die Reaktion einer Person wird nachhaltig von ihrer subjektiven Interpretation der Umwelt bestimmt. So besteht die Gefahr, dass was einem glaubwürdig als Bedrohung vor Augen geführt wird, auch zu fürchten. Dies können auch Abstrakta sein. So wird nicht selten 'die' Kriminalität (im Sinne einer Kategorie) als eine Gefährdung angesehen und gefürchtet. Hier wird demnach die diffuse Angst vor einer unbestimmten Bedrohung in die Angst vor einem bestimmten, wenn auch reichlich unpräzisen Begriff umgewandelt. Eine Variante der medialen und politischen Praxis völlig von realen Bedrohungen zu abstrahieren, besteht in der immer wieder zu beobachtenden Manier, nur scheinbar identifizierbare Gruppen von Menschen als Be-drohung anzusehen: 'die' Drogenabhängigen, 'die' Obdachlosen, 'die' herumhängenden Jugendlichen oder 'die' Betrunkenen. Man fürchtet hier nicht bestimmte bedrohliche Einzelne, man fürchtet nicht einmal eine klar definierte Gruppe von Menschen. Vielmehr fürchtet man eigentlich einen Begriff. Es mag abwegig klingen, dass sich jemand vor Abstraktionen fürchtet. Aber wenn es etwa einem Demagogen gelingt, die abstrakten Begriffe als konkrete Gefährdung darzustellen, ist gerade bei ängstlichen Personen die Furcht davor nicht mehr weit.

Mit der Kriminalitätsfurcht-Forschung befassen sich über-wiegend Rechtswissenschaftler und Soziologen. Die unterschiedlichen, sich aber ergänzenden Perspektiven widerspiegeln, dass die Kriminalitätsfurcht-Forschung ein interdisziplinäres Forschungsfeld ist, in dem beispielsweise auch Psychologen oder Geographen forschen. Die Beschäftigung mit der Kriminalitätsfurcht hat eine lange Tradition. Vor allem die Opferbefragungen in den allgemeinen Bevölkerungsumfragen der 60er Jahre zur Erfassung der Prävalenz krimineller Ereignisse in amerikanischen Grossstädten lieferten das Datenmaterial für erste Ergebnisse, die mit den offiziellen polizeilichen Kriminalstatistiken verglichen werden konnten. Einen Überblick zum Stand der kriminologischen Forschung zur Kriminalitätsfurcht geben Boers (1991) und Ditton/Farrall (2000).

In meinen Untersuchungen standen sich primär zwei Erklärungsansätze von "Kriminalitätsfurcht" gegenüber. Der eine versucht, die Kriminalitätsfurcht über das Umfeld in dem wir leben, den sozialen Nahbereich, zu erklären. Kriminalitätsfurcht entsteht hier durch "äussere" Einflüsse. Dabei bilden die Wahrnehmung der sozialen Organisation und die Wahrnehmung der Struktur innerhalb des eigenen Wohnquartiers den Kern der Überlegungen. Der zweite Ansatz versucht, die Kriminalitätsfurcht über soziodemographische Unterschiedsmerkmale, also über "innere" Einflüsse, zu erklären.

Äussere Einflüsse auf die Kriminalitätsfurcht

Es hat sich gezeigt, dass der soziale Nahbereich eine wesentliche Rolle bei der Erklärung der Kriminalitätsfurcht spielt. Die Wahrnehmung der Umwelt, hier innerhalb des Wohnquartiers, beeinflusst die Furcht vor Kriminalität in direkter Weise. Gleichzeitig wurde aber auch deutlich, dass nur ein Teil der Kriminalitätsfurcht über den sozialen Nahbereich erklärt werden kann. Im Laufe meiner Forschung zeigte sich, dass die wahrgenommenen sozialen wie auch physischen Anzeichen der Desorganisation die Kriminalitätsfurcht stark beeinflussen.

Gesellschaftliche Desorganisation beschreibt den Prozess der Auflösung von internen Strukturen eines sozialen Systems und geht einher mit dem Verlust der sozialen Kontrolle. Im vorliegenden Kontext ist die gesellschaftliche Desorganisation die mangelnde Befähigung der Bewohner eines Wohnquartiers, gemeinsame Werte zu erzeugen und die soziale Kontrolle über ihr Wohnquartier auszuüben. Dies bedeutet beispielsweise die Belästigung von Frauen auf der Strasse, Probleme mit Dealern oder die Anwesenheit von Obdachlosen oder betrunkenen Menschen. Die physische Desorganisation beinhaltet Probleme mit Abfall auf der Strasse, Schmierereien oder Graffitis im Wohnquartier. Wichtig ist in beiden Fällen, dass nicht die tatsächliche soziale und physische Desorganisation untersucht wird, sondern in welchem Ausmass sie wahrgenommen wird.

Dabei hat die wahrgenommene soziale Desorganisation grössere Auswirkungen als die wahrgenommene physische Desorganisation. Die Wahrnehmung der Umwelt und somit auch die Anzeichen der Desorganisation wirken sich tatsächlich auf die Furcht vor Kriminalität aus und dies unabhängig von der Kriminalitätsbelastung.

Die gesellschaftliche Desorganisation steht auch in einem deutlichen Zusammenhang mit dem Wohlbefinden. Die Ergebnisse zeigen auf, dass durch die Wahrnehmung der sozialen Desorganisation die Furcht vor Kriminalität steigt und das allgemeine Wohlbefinden sinkt. Furcht und Sorge können zu einer Verschlechterung der Situation im sozialen Nahbereich führen.

Ein überraschendes Ergebnis ist, dass die Integration ins soziale Netzwerk keinen Einfluss auf die Kriminalitätsfurcht ausübt. Schwach integrierte Personen fürchten sich nicht mehr vor Kriminalität als stark integrierte. Die gängige Vorstellung, dass nachbarschaftlicher Zusammenhalt und damit soziale Aktivitäten und soziale Unterstützung das Sicherheitsgefühl erhöhen, konnte damit nicht bestätigt werden.

Soziodemographische Unterschiedsmerkmale

Bei diesem Ansatz wird davon ausgegangen, dass soziodemographischen Merkmale und die individuelle Verletzbarkeit mit der Kriminalitätsfurcht korrespondieren. Beim Konzept der Verletzbarkeit wird versucht, die erhöhte Krimi-nalitätsfurcht bestimmter Personengruppen - vor allem Frauen, ältere Personen und soziale oder ethnische Minderheiten - zu erklären. Dabei wird zwischen einer physischen, psychischen und einer sozialen Dimension unterschieden. Unter der physischen Verletzbarkeit versteht man eine besondere Anfälligkeit bezüglich Kriminalität aufgrund einer biologisch bedingten schwächeren Konstitution. Bei der psychischen steht das subjektive Gefühl im Vordergrund, man könne sich im Falle eines Angriffes nicht selbst schützen. Die soziale Verletzbarkeit schliesslich untersucht den sozialen Status und die ethnische Zugehörigkeit bezüglich der Verletzbarkeit.

Es zeigt sich, dass Frauen aufgrund einer biologisch bedingten schwächeren Konstitution eine viel höhere Kriminalitäts-furcht als Männer äussern. Das Gefühl, über mangelnde Ressourcen zu verfügen, kann auch psychische Folgen haben. Junge Frauen und Frauen ab 55 Jahren fürchten sich besonders. Forscherinnen fragten die Frauen nach dem Delikt, vor dem sie sich am meisten fürchteten. Dabei gaben die Befragten durchwegs Vergewaltigung als erste Antwort an. Ein Teil der Differenz zwischen dem unterschiedlichen Furcht-Level der Frauen und den Männern ist wohl auf die ausserordentlich ernsthaften Konsequenzen der Vergewaltigung zurückzuführen. Wiederum andere Forscherinnen schliessen aufgrund der hohen Kriminalitätsfurcht der Frauen auf eine erlernte Hilflosigkeit, die auf die Rollensozialisation zurückzuführen sei.

Für ältere Personen gelten bezüglich der physischen Verletzbarkeit ähnliche Überlegungen wie für die Frauen. Ältere Personen haben einen hohen Furcht-Level resultierend aus der physischen Benachteiligung, was auch psychische und soziale Konsequenzen haben kann. Für viele ältere Personen ist das Vertrauen in die Fähigkeit, sich einem Angriff zu widersetzen, durch die Wahrnehmung eigener verminderter physischer Kraft stark vermindert. Die physischen Attacken auf ältere Personen führen oft zu dramatischen und langwierigen Konsequenzen.

Wenn wir den sozialen Status mit der Kriminalitätsfurcht in Verbindung bringen, wird deutlich, dass sich die am wenigsten Privilegierten am meisten fürchten, während sich privilegierte Personen am wenigsten fürchten. Tiefere soziale Positionierung geht mit höherer Kriminalitätsfurcht einher. Besonders verwundbar sind weiter ältere, sozial isolierte Personen, die keine grossen finanziellen Ressourcen besitzen. Im Falle einer Viktimisierung haben sie nur schlechte oder gar keine Möglichkeiten, Hilfe zu bekommen.

Kriminalitätsfurcht wird mitkonstruiert durch die Wahrnehmung und Bewertung des sozial-räumlichen Kontextes innerhalb des sozialen Nahbereichs. Die physische und soziale Desorganisation sowie das Wohlbefinden beeinflussen die Kriminalitätsfurcht der Stadtbewohner. Wie viele andere soziale Probleme ist die Kriminalitätsfurcht also raumgebunden.

Des Weiteren sind deutliche Unterschiede hinsichtlich der soziodemographischen Merkmale Geschlecht und Alter festzustellen. Vor allem die hohe Kriminalitätsfurcht der Frauen und der älteren Personen kann zumindest teilweise durch erhöhten Verletzbarkeit erklärt werden.

Wolfgang Galsterer studierte Soziologie an der Universität Zürich. Im Rahmen der Forschungs- und Lizentiatsarbeit im Bereich der Kriminologie befasste er sich mit theoretischen und empirischen Beiträgen der Kriminalitätsfurcht und deren Validität.

Literaturauswahl

Boers, Klaus (1991): Kriminalitätsfurcht. Über den Entstehungszusammenhang und die Folgen eines sozialen Problems, Pfaffenweiler.
Ditton, Jason / Farrall, Stephen (Hrsg.) (2000): The Fear of Crime. Aldershot.
Killias, Martin (1990): Vulnerability: Towards a Better Understanding of a Key Variable in the Genesis of Fear of Crime. Violence and Victims (5).

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« Unemployment does not mean lack of work, it means lack of paid work. Unemployment is an organizational problem, one with severe social consequences. It is a question of the distribution of the entrance ticket to what in these cultures is seen as a major symbol of full membership.»

Nils Christie (1994). Crime control as industry : towards GULAGS, Western style. London, New York: Routledge. S. 60.