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soziologie.ch soz:mag#10 jenseits der leistungsgesellschaft

jenseits der leistungsgesellschaft

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Zur sozialen Reproduktion von Reichtum in der Schweiz

Sie durchlaufen dieselben Bildungsinstitutionen, tanzen gemeinsam am Opernball, treffen sich im Businessclub, bei den Harvard-Alumni oder am Suvrettahügel in St. Moritz und verschwägern sich untereinander: Die Reichen in der Schweiz bleiben häufig unter sich und kultivieren ihren Wohlstand durch vielfältige Praktiken. So ist es heute das Bürgertum, das sich durch ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein auszeichnet. Eine ethnographische Feldstudie ermöglicht es, den Lebensstil und die soziale Reproduktion dieser meist sehr diskret auftretenden gesellschaftlichen Gruppe fassbar zu machen.

SOZ-MAG Beitrag von Sarah Schilliger

"Das Funktionieren von Macht kann meiner Ansicht nach immer nur an ganz präzisen Beispielen gezeigt werden, wo möglichst detailliert geschildert wird, wo der Ablauf der Machtentfaltung sinnlich fassbar ist, bestimmte Namen hat, Farben, bestimmte Gefühle, Gedanken auch, eine bestimmte Wut hervorruft.“
Niklaus Meienberg (1987)

Über vermögende Schweizerinnen und Schweizer wissen wir nur wenig – sie machen einen der „weissen Flecke“ in der Sozialtopologie der schweizerischen Gesellschaft aus. Angesichts des entscheidenden Einflusses, den die Vermögenden auf die Gesellschaft ausüben, mag es erstaunen, wie wenig über sie geforscht wird: Ist zum Verständnis der Funktionsweise einer Gesellschaft nicht gerade die Erforschung ihrer „Spitze“ von grosser Bedeutung? Um mehr zu erfahren über die Prozesse, die manchen erlauben, ein Leben im Luxus zu führen, während andere in Armut verharren, müsste sich die Ungleichheitsforschung vermehrt auch dem Reichtum und der Macht der gesellschaftlichen „Elite“ zuwenden – wie dies z.B. in Frankreich von Pierre Bourdieu oder in den USA von C. Wright Mills unternommen worden ist.

Das Funktionieren von Macht muss laut Meienberg (Zitat oben) „an ganz präzisen Beispielen gezeigt“ und „möglichst detailliert geschildert“ werden, wodurch „der Ablauf der Machtentfaltung sinnlich fassbar“ wird. Reichtum beschränkt sich nicht auf die ökonomische Dimension, sondern hat ganz unterschiedliche Facetten und manifestiert sich gerade in den „feinen Unterschieden“, wie dies Pierre Bourdieu für die französische Gesellschaft sehr eindrücklich aufgezeigt hat (Bourdieu 1982, 2004). Der gekonnte Gebrauch des Fischbestecks, ein spielerischer Umgang mit Wissen, ein selbstsicheres Auftreten, bestimmte Arten der Begrüssung – es sind diese weitgehend unbewusst ablaufenden Verhaltensweisen, durch die sich die herrschende Klasse die Distanz schaffende Distinktion verschafft. Die ‚wirklich distinguierten’ Leute sind nach Bourdieu gerade jene, die sich nicht darum kümmern, es zu sein. Diese Wirkung des Habitus verschafft ihnen in der Regel einen uneinholbaren Vorteil im Zugang zu gesellschaftlichen Machtpositionen.

Die Bedeutung der „Schulen der Macht“ und des „bürgerlichen Habitus“

Für Bourdieu ist der unterschiedliche Besitz von sozialem, kulturellem und ökonomischem Kapital entscheidend für die soziale Reproduktion, d.h. für die Weitergabe und Vererbung gesellschaftlicher Macht. Eine besonders wichtige Rolle spielt nach ihm das Bildungswesen, insbesondere exklusive Bildungstitel, die man in Frankreich an den sozial sehr selektiven „Grandes Écoles“ erwirbt. Diese „Schulen der Macht“ produzieren durch ihren äusserst exklusiven Charakter eine gesellschaftlich allgemein anerkannte Elite, welche die „Besten der Besten“ repräsentiert. Die Absolvierung einer solchen Eliteschule ist zunehmend unverzichtbar, um sich Zugang zu den Topetagen zu verschaffen: Von Bedeutung ist nicht mehr nur die „Macht der Familie“, die beim traditionellen System der Vererbung wirkte, sondern das durch Zertifikate abgesicherte kulturelle Kapital, das als eine Art Garantie für „Intelligenz“ und „Kompetenz“ gilt. Dabei verschafft der neue Reproduktionsmodus der herrschenden Klasse ein hohes Mass an Legitimität, indem er die realen Machtmechanismen verschleiert und soziale Privilegien in eigene Leistung umdeutet.

C. Wright Mills (1962) identifiziert für die US-amerikanische Gesellschaft eine „Machtelite“ (power elite), die ihre Entstehung und Stabilität nicht nur einer weitgehenden Identität ihrer Interessen verdankt, sondern auch den intensiven sozialen Kontakten, die beispielsweise in exklusiven Klubs, in privaten Bildungsinstitutionen oder in vornehmen Stadtteilen gepflegt werden. Auch Mills betont die wichtige Rolle der angesehenen Schulen und Hochschulen, die den Nachwuchs der besitzenden Klasse ausbilden und gemeinsame Verhaltensformen, Massstäbe und Werte vermitteln. Renommierte Eliteuniversitäten wie Harvard, Yale oder Princeton – allesamt private Universitäten mit Zulassungsquoten von ungefähr 10 Prozent und Studiengeldern von 40‘000-50‘000 Dollar pro Jahr – erfüllen eine wichtige Funktion in der Reproduktion der US-Upperclass: Vier Fünftel der Studierenden stammen aus den oberen 20 Prozent der US-Gesellschaft, während die untere Hälfte der Bevölkerung kaum vertreten ist.

In Deutschland gibt es bisher keine vergleichbaren exklusiven Bildungsinstitutionen und Zertifizierungen von Bildung. Michael Hartmann (2001) hat in einer Studie zur Rekrutierung der deutschen Wirtschaftselite nachgewiesen, dass in Deutschland vielmehr die persönlichkeitsgebundenen Merkmale entscheidend sind bei der Auswahl für gesellschaftliche Machtpositionen. In den Chefetagen der 400 grössten deutschen Unternehmen, an der Spitze der grossen Wirtschaftsverbände und an den Bundesgerichten sind die Söhne des (Gross-)Bürgertums äusserst stark vertreten. Als entscheidenden Grund für die wesentlich höhere Erfolgsquote der Kinder des Bürgertums identifiziert Hartmann ihren klassenspezifischen Habitus. Wer zu Spitzenpositionen kommen will, muss nämlich vor allem Eines besitzen: eine habituelle Ähnlichkeit mit den Personen, die dort schon sitzen. Hartmann nennt dies den „gleichen Stallgeruch“ oder die „richtige Chemie“ und macht den gewünschten Habitus an vier zentralen Persönlichkeitsmerkmalen fest: intime Kenntnis der Dress- und Benimmcodes, eine breite Allgemeinbildung („Blick über den Tellerrand“), unternehmerisches Denken und persönliche Souveränität in Auftreten und Verhalten.

Wer hat, dem wird gegeben...

Auch in der Schweiz reproduziert sich der Reichtum hartnäckig. Die Reichen haben es in den letzten Jahren geschafft, ihren Anteil am Vermögenskuchen weiter zu vergrössern: Verfügten die 300 Reichsten in der Schweiz im Jahr 1989 über schätzungsweise 86 Milliarden, sind es 2005 bereits rund 400 Milliarden Franken, wobei die Top-Ten alleine 103 Milliarden auf sich vereinigen. Drei Prozent der Bevölkerung, die über ein Vermögen von mehr als einer Million Schweizer Franken verfügen, besitzen zusammen die Hälfte des gesamten Vermögens der Schweiz, also gleich viel wie die restlichen 97 Prozent der Bevölkerung zusammen. Den meisten Superreichen wurde das Vermögen in den Schoss gelegt: Die Familie bildet – trotz Modernisierung der Lebensformen – noch immer das Zentrum für die Weitergabe ökonomischen Reichtums. Dank Stiftungen und aufgrund des Schweizer Erbrechts, das sehr stark zu Gunsten der Wohlhabenden ausgerichtet ist, gelingt es Familiendynastien wie Hoffmann- Oeri, Schmidheiny, Schwarzenbach, Bertarelli oder Coninx, ihren Reichtum über Generationen hinweg weiterzugeben. Die Heiratspolitik der Reichen spielte bis in die 70er Jahre eine wichtige Rolle, ist aber auch heute noch aktuell, wobei sich jedoch die Methoden in den letzten Jahrzehnten verfeinert haben und nicht mehr so offensichtlich sind. Ein Mann und eine Frau, die je aus einer vermögenden Familie stammen, haben sich oft „rein zufällig“ bei der Ausübung einer Freizeitbeschäftigung (Golfspielen, Reiten, Vorliebe für Kunst), an einer Elitebildungsstätte (wie dem Liceum Alpinum Zuoz oder der Universität Harvard), an einem Ball oder einer Benefizveranstaltung kennen und lieben gelernt. Sozial sehr exklusive Räume sind gute Gelegenheiten für Bekanntschaften. Dabei spielen selbstverständlich auch die Erziehung und der „gute Stil“ eine Rolle. Wer aus demselben Milieu kommt, findet eher Gefallen aneinander. Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von „Wahlverwandtschaften“.

Betrachtet man die soziale Herkunft der Vorsteher der grössten Schweizer Unternehmen (Verwaltungsratspräsidenten und CEOs), so fällt auf, dass diese in deutlich überdurchschnittlichem Mass dem (Gross-)Bürgertum entstammen, fast ausschliesslich männlich sind und ein weit über dem Durchschnitt der Bevölkerung liegendes Bildungsniveau aufweisen (häufig verfügen sie über einen Hochschulabschluss in Ökonomie oder Jura). Diese Kreise loben sich selber zwar als „Leistungselite“, betreiben jedoch gleichzeitig vielfältige soziale Schliessungsprozesse.

Exklusive Bildung am Rosenberg

Die Schweiz verfügt über einige ausgesprochen exklusive Elite-Internate (Schulgeld ab 80‘000 Franken jährlich), die bei den Reichen und Superreichen weit über die Landesgrenzen hinaus einen guten Ruf haben. Das Liceum Alpinum in Zuoz, das Internat Rosenberg in St. Gallen, das Internat Le Rosey in der Nähe von Lausanne oder das Institut Montana am Zugerberg gelten als Bildungs- und Erziehungsstätten, die den Absolventinnen und Absolventen nicht nur eine exzellente Ausbildung verschaffen, sondern auch eine identitätsbildende Funktion wahrnehmen. Im Internat Rosenberg zum Beispiel, dessen Campus aus mehreren Villen auf einem Hügel über der Stadt St. Gallen besteht, sorgt die strenge Hand der Internatsleitung für Disziplin und Ordnung. Klare Dress- und Benimmcodes und ein rigider Tagesablauf mit viel Studium und Sport bereiten die Sprösslinge der Reichen auf ihre zukünftige gesellschaftliche Rolle vor. Neben Disziplin erfahren die Kinder weitere Seiten eines Lebens in der „besseren Gesellschaft“: Sie erlernen den Umgang mit Kunst und Kultur (allwöchentlich findet ein Museums-, Oper- oder Theaterbesuch statt), die Benimmweise bei Gesellschaftsanlässen (z.B. am Herbstball, für den man während drei Monaten Debütantentänze einübt) und werden gewappnet für ein mondänes Leben, indem sie verschiedene sprachliche Fähigkeiten erwerben. Durch diese „totale Erziehung“ lernen die Jugendlichen nicht nur, wie sie sich in den „besseren Kreisen“ zu verhalten haben. Es entwickelt sich auch so etwas wie ein „Corpsgeist“, der ihnen eine kollektive Identität gibt und das (Klassen-)Bewusstsein vermittelt, einer gesellschaftlichen Elite anzugehören. Die Werte der Gemeinschaft werden ihnen gleichsam in den Körper eingeschrieben: Die Manieren, die Gewohnheiten, der Umgang, die Art und Weise zu sprechen und sich zu bewegen, Essgewohnheiten sowie Geschmacksurteile sind Ausdruck dieser privilegierten Sozialisation. Durch die Alumni-Organisationen können die Ehemaligen das während der Internatszeit akkumulierte Sozialkapital ein Leben lang aufrechterhalten und kultivieren – tatsächlich handelt es sich um eine „School for Life“, wie es in der Werbebroschüre verheissen wird.

Nur wenige hundert Meter vom Institut Rosenberg entfernt ist der Sitz jener Bildungsinstitution, die neben renommierten Business Schools im In- und Ausland (z.B. IMD Lausanne, INSEAD Fontainebleau, Harvard University u.a.) eine besondere Rolle in der Ausbildung des ökonomischen Führungspersonals der Schweiz einnimmt: Die Hochschule St. Gallen (HSG) gilt als Kaderschmiede von Managern aus der ganzen Welt, ist die älteste Wirtschaftsuniversität des Kontinents und die internationalste Ausbildungsstätte Europas.

Dabei scheint die wissenschaftliche „Exzellenz“ gar nicht unbedingt im Vordergrund zu stehen. Was die HSG auszeichne, sei ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Absolventinnen und Absolventen, denn die Lehrjahre an der HSG führten zur Herausbildung einer gemeinsamen Identität, wie Björn Johansson, ehemaliger Chairman der HSG-Alumni, ausführt: „HSG ist zu einem Markenzeichen geworden, das man gerne auch gegen aussen zeigt. Gegen innen hebt es das Wir-Gefühl. Wir sprechen eine gemeinsame Sprache, weil wir die gleiche theoretische Ausbildung genossen, die gleichen Professoren gehabt, die gleichen Bücher gelesen und die gleichen Cases behandelt haben“. Johansson spricht von der HSG als „einer grossen Familie“. Das Campusleben trägt zu Entwicklung eines Gefühls der Differenz und der Überlegenheit bei, das für die Ausübung einer gesellschaftlichen Machtposition notwendig ist. Durch diese Distinktion verstärkt sich der Ausdruck des Unterschieds zu denjenigen, die nicht dazugehören, was Johansson als „Zusammengehörigkeitsgefühl“ bezeichnet. Die Absolventen der HSG bleiben ihrer Ausbildungsstätte oft ein Leben lang treu – durch den Verein der HSG-Alumni, der als die professionellste universitäre Ehemaligen-Organisation der Schweiz gilt und sich an das Vorbild der Harvard University anlehnt. Das Netzwerk reicht bis in die Top-Etagen zahlreicher Firmen Europas. Johansson, der als Headhunter für Führungskräfte tätig ist, schätzt dieses Netzwerk als „eines der wichtigsten Elemente für eine erfolgreiche Karriere“ ein.

Geschlossene Gesellschaften

„Wer in Zürich Einfluss hat, begegnet sich immer wieder. Es ist schon so, dass sich alle kennen“, gibt Peter Forstmoser, Swiss-Re-Präsident und Universitätsprofessor, unumwunden zu. Neben Verwandtschaften und engeren Freundschaften (sog. „Strong Ties“), die vor allem in den reichen Familien(dynastien) noch immer einen wichtigen Teil des sozialen Kapitals ausmachen, sind Mitgliedschaften in Wirtschafts- und Service-Clubs (Rotary, Enterpreneur’s Roundtable, Swiss American Chamber u.a.), gemeinsame Einsitze in Verwaltungsräten, Alumni-Verbindungen und exklusive Sportclubs („Weak Ties“) bei modernen Unternehmern und Managern von grosser Wichtigkeit. Eine weitere Bedeutung zur Anhäufung und Kultivierung des Sozialkapitals haben die zum Teil sehr exklusiven Veranstaltungen wie Opernbälle, Galas, Vernissagen von Kunstausstellungen, Theaterpremieren oder andere mondäne Veranstaltungen, wie zum Beispiel das Polo-Turnier oder das White Turf in St. Moritz. Auch die gemeinsame Ausübung von Sport, z.B. Segeln, Golf oder Reiten, hat oft den praktischen Nebeneffekt der Pflege von wichtigen Bekanntschaften.

Die Personen aus dem Kreis der „Dazugehörenden“ können sich in der sozialen Konkurrenz um materielle Güter, Einfluss oder berufliche Positionen grosse Vorteile sichern. So kann eine Mitgliedschaft in einem exklusiven Club neben Dienstleistungen (wie Weiterbildung und Foren), dem Austausch von Aufträgen und dem Zugang zu wichtigen Informationen (z.B. über offene Stellen) vor allem symbolische Gratifikationen wie Ansehen oder Anerkennung abwerfen. Die Verwertungs- und Konvertabilitätschancen von Sozialkapital sind umso grösser, je mehr die darin involvierten Institutionen Mechanismen der sozialen Schliessung enthalten. Ein Club wie der „Entrepreneur’s Roundtable“, wo nur Zugang findet, wer einen „aussergewöhnlichen Leistungsausweis“ und eine persönliche Einladung vorweisen kann, beschränkt den Zugang zu Privilegien und Erfolgschancen auf einen begrenzten Kreis von Auserwählten (vgl. Parkin 1983:123).

Auch räumlich befinden sich die Wohlhabenden oft „unter sich“: Reichtum kumuliert sich in steuergünstigen Gemeinden am Zürich-, Zuger- und Vierwaldstädtersee, an den Ufern des Genfersees sowie in Basel. Zwar gibt es in der Schweiz keine eigentlichen „Gated Communities“ – dazu ist der Schweizer Reichtum viel zu diskret. Im Nobel-Touristenort St. Moritz jedoch kommt ein Villenviertel einer Art „Soft Enclosure“ gleich, wo es statt physischer Zugangsschranken eine symbolische Abgrenzung gibt. Am Suvrettahügel, der nach Süden ausgerichtet ist und einen wunderschönen Blick auf den Champfèrer und den Silvaplanersee gewährt, konzentrieren sich zwischen Lärchen und Arven Dutzende von Luxusvillen, welche Millionären und Milliardären aus ganz Europa als Zweitwohnsitz dienen. Hier wirkt eine Art symbolische Gewalt, die zur Selbst-Exklusion all jener führt, die sich in dieser edlen Gesellschaft nicht zuhause fühlen.

Bewusstsein und Ausdruck von „Klasse“

Das Schweizer Bürgertum verschafft sich über verschiedene Institutionen und Mechanismen eine ausgesprochen hohe Kontinuität. Dabei wird durch gemeinsame Sozialisation und starken sozialen Austausch ein hoher Grad an Integration erreicht und das Bewusstsein der eigenen „Klasse“ gefördert. Trotz der vielfältigen Schliessungsprozesse, die diese kleine Minderheit gegenüber der Gesellschaft betreibt, gilt sie als die „Leistungselite“ des Landes und schafft es – bewusst wie unbewusst – ihre Privilegien in erworbene Qualitäten umzuwandeln und sich damit Anerkennung und gesellschaftliche Legitimität zu garantieren. Unterstützt wird dieses symbolische Kapital zudem durch aktive Philanthropie und grosszügiges Mäzenatentum, was einer guten Reputation dienlich ist.

Als Forscherin, die sich mit dieser weitgehend fremden und äusserst diskreten gesellschaftlichen Gruppe auseinandersetzt, stösst man auf einige Schwierigkeiten: Oft steht man vor verschlossenen Türen – umso wichtiger werden sog. „Gatekeeper“, die den Zugang erst ermöglichen, wie z.B. ein Bekannter, der an einem Eliteinternat als Lehrer arbeitet, oder Journalisten, die einen an einer Benefizveranstaltung als Berufskollegin einschleusen. Um die teilnehmende Beobachtung und ein, bis zu einem gewissen Grad damit verbundenes, „Going Native“ zu ermöglichen, muss auch die Garderobe stimmen, was beispielsweise mit aufwendigem Organisieren entsprechender Abendkleidung verbunden sein kann.

Das Konzept der „Distinktion“ von Bourdieu, das die klassenbildende Funktion kultureller und sozialer Ressourcen aufzeigt, erweist sich zur ethnographischen Erforschung der „Spitze“ der Gesellschaft als besonders fruchtbar. Dadurch wird fassbar, was oft einer soziologischen Analyse entgeht. Wichtig ist die Erfahrung, dass soziale Unterschiede nicht nur anhand von Statistiken und Sozialstrukturanalysen, sondern auch sinnlich feststellbar sind: Das Soziale wird in der körperlichen Interaktion wahrnehm- und erfahrbar (vgl. Krais 2003: 104). Ob beim Besuch der White Night in St. Moritz, beim Spaziergang durch ein Villenquartier, bei der Beobachtung eines Businesslunchs oder im Gespräch mit einer Jugendlichen im Eliteinternat – die soziale Distanz und die mehr oder weniger ausgeprägten Insignien der Klassenzugehörigkeit werden für die Forscherin erfahrbar: Sie können nicht nur gedanklich eingefangen werden, sondern werden tatsächlich gesehen, gerochen, geschmeckt und gehört.

Sarah Schilliger (27) ist Assistentin am Lehrstuhl von Prof. Ueli Mäder am Institut für Soziologie in Basel. Sie hat in Zürich Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie studiert. Ihre Lizenziatsarbeit verfasste sie bei Prof. Michael Nollert unter dem Titel „Lebensstil und soziale Reproduktion der Schweizer Wirtschaftselite. Eine ethnographische Untersuchung“.

Literaturauswahl:

Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt.
Bourdieu, Pierre (2004): Der Staatsadel. Konstanz.
Hartmann, Michael (2001): Mythos der Leistungselite. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft. Frankfurt/ New York.
Krais, Beate (2003): Begriffliche und theoretische Zugänge zu den ‚oberen Rängen’ der Gesellschaft. In: Hradil, Stefan u. Peter Imbusch (Hg.): Oberschichten - Eliten - Herrschende Klassen. Opladen.
Mäder, Ueli und Elisa Streuli (2002): Reichtum in der Schweiz – Porträts, Fakten, Hintergründe. Zürich.
Mills, C. Wright (1962): Die amerikanische Elite. Gesellschaft und Macht in den Vereinigten Staaten. Hamburg.
Parkin, Frank (1983): Strategien sozialer Schliessung und Klassenbildung. In: R. Kreckel (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt, Sonderband 2. Göttingen.

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«Die wissenschaftliche Theorie, wie ich sie verstehe, stellt sich als ein Wahrnehmungs- und Handlungsprogramm dar, oder als ein wissenschaftlicher Habitus, wenn Ihnen das lieber ist, der sich nur in der empirischen Arbeit offenbart, in der er realisiert wird.»

Pierre Bourdieu im Gespräch mit Loïc Wacquant, in „Reflexive Anthropologie“ (1996), S. 197.