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soziologie.ch soz:mag#10 ist der kleine unterschied nicht offensichtlich?

ist der kleine unterschied nicht offensichtlich?

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Heranführung an die Dekonstruktion von Geschlecht

Inwiefern unterscheiden sich Männer von Frauen? Was antworten dekonstruktivistische Theorieansätze auf diese Frage? Und wie kann man sich den radikalen Thesen des Dekonstruktivismus annähern? Gerade weil man immer wieder auf die Frage zurückgeworfen wird, inwiefern Geschlecht nicht doch etwas „natürlich Gegebenes“ sei, liegt in der Dekonstruktion des Geschlechtes ein spezifischer Eigenwert. Anhand eines Vergleiches der Konzepte „Nationalität“ und „Geschlecht“ soll aufgezeigt werden, wie sich natürlich scheinende Konstrukte deplausibilisieren lassen und worin der Sinn einer solchen Entlarvung liegt.

SOZ-MAG Beitrag von Barbara Meili

Spätestens seit den 70er Jahren ist Frau sein ein Thema, das jenseits von Frisur- und Diättipps in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Gleichstellungsanliegen haben mittlerweile eine breite Anhängerschaft gefunden, und die vom Feminismus angeregte Unterscheidung zwischen Sex und Gender zeigt auf, dass viele Dinge, die früher als genuin weiblich galten, einer kultur- und zeitspezifischen Prägung unterliegen.

Das Anliegen des Dekonstruktivismus geht allerdings über diese Unterscheidung hinaus: Auch das biologische Geschlecht werde diskursiv hergestellt, so die Behauptung – und so sehr die vorher genannte Unterteilung in eine biologische und eine soziale Komponente des Geschlechts einleuchten mag, so sehr verstört die These der grundsätzlichen Konstruiertheit der Kategorie Geschlecht. Ziel dieses Essays ist zu erkunden, wozu die Dekonstruktion eines vermeintlich natürlichen Sachverhaltes dient und weshalb eine Deplausibilisierung des Geschlechts auch dann wichtig und richtig ist, wenn man sich nicht ganz vom „kleinen Unterschied“ zwischen Männern und Frauen distanzieren mag.

Da die Zweigeschlechtlichkeit sehr tief im Alltagsdenken und -fühlen verwurzelt ist und einen grossen Teil unserer Identität ausmacht, fällt es nicht leicht, genau hier mit der Dekonstruktion anzusetzen. Um den Grundgedanken plausibler zu machen, wird daher kurz auf das Konzept der Nationalität eingegangen, denn hier wird für manch einen intuitiv nachvollziehbar, worum es grundsätzlich geht. Danach geht es ans Eingemachte: Die Dekonstruktion des Geschlechts.

Vom Wesen der SchweizerInnen

Auf den ersten Blick scheint die Rede von Nationalitäten fast ebenso selbstverständlich wie jene von den Geschlechtern: Wir fühlen uns als Schweizerin oder als Deutscher, verbinden mit dieser Zugehörigkeit gewisse Eigenschaften und sehen die Nationalität als Teil unserer Identität an. Wir stehen im Besitz eines Wissens über „die Italiener“ und deren Attribute und können Statistiken anfertigen über je nach Nationalitätszugehörigkeit variierende Ansichten, Geburtenraten und Mentalitäten. Ebenso können Vergleiche zwischen Männern und Frauen enthüllen, dass Männer durchschnittlich grösser sind, mehr verdienen oder etwa häufiger technische Berufe ergreifen als Frauen.

Und doch ist der Fall bei der Nationalitätszugehörigkeit etwas anders gelagert als beim Geschlecht: Mehrheitlich wird davon ausgegangen, dass es sich nicht um angeborene, sondern um im Laufe des Sozialisationsprozesses erworbene Eigenschaften handelt. Zwar wird immer wieder auf biologistische Argumentationsstränge zurückgegriffen, wie etwa dann, wenn behauptet wird, „den Afrikanern“ liege der Rhythmus im Blut, aber grundsätzlich hat sich zumindest unter SoziologInnen die Überzeugung festgesetzt, dass es so etwas wie „Nationalcharaktere“ nicht gibt, beziehungsweise dass selbige soziale Konstrukte sind.

Doch was beinhalten eigentlich Begriffe wie Nation oder Nationalstaat? Wie kommt die Rede von verschiedenen Mentalitäten, die man Angehörigen unterschiedlicher Nationalitäten zuweist, zustande? Menschen gleicher Nationalität bilden nicht automatisch eine Gruppe mit Zusammengehörigkeitsgefühl, aber Staaten brauchen die Fiktion eines abgegrenzten und abgrenzbaren Kollektivs, um funktionsfähig zu sein (Richter 1997: 64). Anstatt Nationen als grosse Menschengruppen zu definieren, sieht Richter sie eher als ein Deutungsmuster, mit dem „die Welt aus einer distinkten Perspektive bestimmbar gemacht wird“ (Richter 1997: 63). Man betrachtet also die Welt als eine in verschiedene Nationen eingeteilte. Der springende Punkt ist nun, dass die Einteilung von Menschen in verschiedene Kategorien sich auf deren Verhalten auswirkt: Sherif (1966) hat bereits in den 60er Jahren durch seine Experimente zu Gruppenbeziehungen gezeigt, dass eine völlig willkürliche Gruppeneinteilung binnen weniger Tage zu einer starken Identifikation mit der eigenen und einer Ablehnung der anderen Gruppe führt. Mechanismen der Identitätspolitik führen dazu, dass versucht wird, ein positives Selbstbild zu wahren und zu verteidigen – was etwa Patriotismus oder Nationalismus hervorrufen kann, um auf das Beispiel der Nationalität zurückzukommen. Da „Stereotypen über ‚die Anderen’ tendenziell negativ sind“ (Richter 1997: 69), bietet sich die Möglichkeit zur Errichtung von Feindbildern.

Nun zählt die Einsicht, dass Dinge, die als real wahrgenommen werden, auch reale Konsequenzen haben, sozusagen zu den soziologischen Binsenwahrheiten: Niemand bestreitet, dass die Einteilung von Menschen in verschiedene Gruppen auf die Betroffenen zurückwirkt und dazu führt, dass sich Unterschiede herausbilden. Kneer benutzt in diesem Zusammenhang den Terminus der self-fulfilling prophecies: „Sie wirken dahingehend, das, was sie als Realität verkünden, auch (partiell) hervorzubringen“ (Kneer 1997: 95). Dazu kommt, dass sich unterschiedliche Schulsysteme, soziale Sicherheitsnetze, Familienstrukturen und so weiter als unterschiedliche sozioökonomische Bedingungen darstellen, die Auswirkungen auf das Leben der betroffenen Bevölkerungsgruppe zeitigen.

Unterschiede zwischen Menschen verschiedener Nationalitäten bilden sich also einerseits über Stereotype bzw. diskursiv aus, andererseits über unterschiedliche Lebensbedingungen. In ähnlicher Weise führt die unterschiedliche Behandlung von Mädchen und Jungen, die spätestens mit der ersten Frage nach der Geburt („Was ist es denn?“) einsetzt, zu empirisch messbaren Verhaltensunterschieden. Nassehi (1997), Wobbe/Lindemann (1994) und andere AutorInnen verweisen auf die Strukturähnlichkeit nationaler und geschlechtlicher Zurechnungsfolien: Anhand der Nationalitätszugehörigkeit wurde aufgezeigt, dass sich Sachverhalte, die scheinbar selbstverständlich sind, als soziale Konstrukte ohne eigentliche Essenz erweisen können. Damit wurde ein intuitives Verständnis für das Anliegen des Dekonstruktivismus geschaffen, der nun in Bezug auf die Geschlechtszugehörigkeit weiter expliziert werden soll.

Geschlecht: natürliche Tatsache oder kulturelle Performanz?

Man stelle sich vor, dass ein Ausserirdischer auf die Erde geschickt und vor die Aufgabe gestellt würde, die Menschen in verschiedene Gruppen einzuteilen. Wir wissen nichts darüber, wonach er sortieren würde, ob nach Geruch, nach für uns nicht wahrnehmbaren Schwingungen, nach Blutgruppe. Wenn man nun jedoch von der Annahme ausgeht, dass er ein äusserliches, vom Menschen erkennbares Selektionskriterium verwenden würde, ist eine Unterscheidung nach Geschlechtern die plausibelste Möglichkeit: Haarfarben, Schuhgrössen oder die Zahnstellung scheinen zu weitaus weniger klar abgrenzbaren, homogenen Gruppen zu führen. Im allgemeinen Verständnis gilt die Zweigeschlechtlichkeit – also die Einteilung der Menschen in zwei Geschlechter – als etwas Natürliches. Die Sichtbarkeit des kleinen Unterschiedes sowie die Fortpflanzungsfunktion der Geschlechtlichkeit erscheint uns offensichtlich, sinnhaft und wird grundsätzlich nicht hinterfragt. Villa expliziert den Gedanken der tiefen Verwurzelung des Geschlechtsunterschiedes in unserem Alltagsdenken, indem sie die körperlichen Unterschiede als „schier unendlich und allzu offensichtlich“ bezeichnet: „Etwas anderes zu behaupten ist so kontrafaktisch, dass es an Spinnerei grenzt“ (Villa 2003: 79).

Wenn nun Derrida, Butler und andere WissenschaftlerInnen postulieren, dass Geschlecht nichts Natürliches, sondern etwas durch und durch Gemachtes sei, befremdet das verständlicherweise. Wir fühlen uns als Frau oder Mann, und wir können andere Menschen sofort einem der beiden Geschlechter zuordnen – und falls wir das einmal nicht können, stört uns das, wir sind verunsichert, wir wollen wissen, ob wir die Person mit Herr oder Frau anzusprechen haben und suchen nach eindeutigen Zeichen oder Symbolen.

Wie kommt man also auf die verwegene Idee, Geschlecht sei sozial konstruiert und bar jeder biologischen Grundlage?

Dekonstruktion der Geschlechtszugehörigkeit

DekonstruktivistInnen gehen davon aus, dass das Sprechen über ein Objekt dieses gewissermassen hervorbringt. Doch wie hat man sich diese diskursive Schaffung von Wirklichkeit vorzustellen? In diesem Zusammenhang spielt der massgeblich durch Foucault geprägte Begriff des Diskurses eine zentrale Rolle. Villa liefert eine ausführliche Definition von Diskurs als „ein Ensemble von Sprechweisen und sprachlichbegrifflichen Vorstellungen, die für eine Epoche typisch bzw. konstitutiv sind. Diskurse beziehen sich immer jeweils auf ein Objekt […], das sie in spezifischer Weise konturieren“ (Villa 2003: 158). Das bedeutet, dass die soziale Wirklichkeit durch Sprache organisiert wird. Menschen sind demnach nicht fähig, etwas zu denken, was ausserhalb der Sprache liegt: „Wir erkennen in der Welt immer nur das, wofür wir sprachlich-diskursive Kategorien haben“ (Villa 2003: 22). Sprechen bedeutet zudem immer Zitieren, ein Aufnehmen des vorher schon da gewesenen. Jeder Sprechakt bringt Wirklichkeit hervor, und diesen Erzeugungsvorgang nennt Butler den Prozess der Materialisierung (Butler 1993: 9): Die Materie ist letztendlich immer schon durch das Diskursive konfiguriert, das ‚Natürliche’ durch das Soziale geprägt und vorgeformt (Villa 2003: 88).

Bezogen auf das Geschlecht bedeutet dies, dass unsere Wahrnehmung in sehr hohem Masse vom Wissen um die Zweigeschlechtlichkeit durchdrungen ist – und mehr noch, dass dieses Wissen und das Sprechen darüber diese erst hervorbringt. Wir nehmen Frauen und Männer als geschlechtlich wahr, weil unser Denken von der Norm der Zweigeschlechtlichkeit geprägt ist. Durch das Sprechen und Denken innerhalb dieses Rahmens wird der Unterschied laufend aufrechterhalten und verfestigt.

Trotzdem, werden hartnäckige KritikerInnen einwenden, gibt es ganz offensichtlich Unterschiede – sowohl zwischen Menschen verschiedener Nationalitäten wie auch zwischen den Geschlechtern. Wollen DekonstruktivistInnen Unterschiede leugnen? Ignorieren sie nicht die Realität, wenn sie sich gegenüber biologischen Grundlagen des Geschlechts blind stellen? Zur regen Kritik an Butlers Konzept bemerkt Villa: „Im Kern wurde Butler dafür kritisiert, die unhintergehbare haptische Dimension des Geschlechts zu negieren, also zu ignorieren, was es bedeutet, körperlich ein Mann oder eine Frau zu sein“ (Villa 2003: 78).

Wie kann nun der Gedanke der Dekonstruktion beibehalten werden, ohne sich dabei dem Vorwurf der partiellen Blindheit aussetzen zu müssen? Sobald von der „diskursiven Hervorbringung der Wirklichkeit“ die Rede ist, knüpfen daran natürlich Folgefragen an: Ist die Realität nicht unabhängig vom menschlichen Denken? Wohnt eine unantastbare Essenz dem Wesen der Dinge inne? Existieren diese nicht völlig unabhängig von unserer Wahrnehmung? Die dekonstruktivistische Denkschule weist derartige Fragen nach der „eigentlichen Wirklichkeit“ mit einem milden Lächeln zurück. Analysiert werden soll, was analysiert werden kann, nämlich nicht „die Realität“ an sich, sondern unsere Wahrnehmung davon, denn es kann „niemals einen direkten Zugang zu einer Welt jenseits des Diskursiven geben“ (Villa 2003: 89).

Der springende Punkt ist schliesslich, dass es im Rahmen der Dekonstruktion nicht interessiert, was vorher da war. Es wird nicht behauptet, „dass es ohne einen bestimmten Diskurs die Phänomene, die sie bezeichnen, nicht gäbe. […] Aber, und das ist die Pointe der Diskurstheorie, die Phänomene, um die es geht […] sind immer in einer bestimmten Weise durch das diskursive Feld, in denen sie bedeutet werden, geformt. Sie sind in spezifischer Weise formiert oder ‚konfiguriert’“ (Villa 2003: 23).

Hat man die Konstruiertheit grundsätzlich akzeptiert, stellt sich im Anschluss daran die Frage, ob die ausserdiskursive (und damit für den Menschen nicht erfassbare) Realität unsere Wahrnehmung beeinflusst – ob es also nicht plausiblere und weniger plausible Arten der Konstruktion unserer Wirklichkeit gibt. Der Dekonstruktivismus bestreitet dies nicht. Es wird nicht unterstellt, dass die Realitätskonstruktionen völlig kontingent seien. Auch diese Frage liegt, so könnte man sagen, einfach nicht im Bereich des für uns Fassbaren – sich zu fragen, was ausserhalb unserer Wahrnehmung übrig bleibt von den Dingen, ist eine schlichtweg anmassende Frage, deren Antwort nicht in unserer Reichweite liegt.

Unter dieser Prämisse verschiebt sich das Erkenntnisinteresse: Es geht nicht länger darum herauszufinden, wie Dinge im Kern ihres Wesens wirklich sind, sondern darum, wie wir sie wahrnehmen, kategorisieren oder eben: konstruieren.

Die Frage nach „biologischen Konstanten“ darf und muss also vom Dekonstruktivismus gewissermassen ausgeklammert werden. Stattdessen wird die Selbstverständlichkeit begrifflicher Kategorien radikal hinterfragt und somit ins Wanken gebracht: Könnte nicht alles auch ganz anders sein?

Kategorien sorgen für Einschränkungen und Exklusion

Nun kann man sich des weiteren wundern, was gegen das Prinzip der Kategorisierung eigentlich einzuwenden sei: Schliesslich schaffen Begriffe zwangsläufig Kategorien, indem sie abgrenzen, gewisse Dinge ein- und andere ausschliessen, und schliesslich ist dies ja durchaus zweckdienlich, da auf diese Art Komplexität reduziert und nur so überhaupt Verständigung möglich wird.

Was Butler gegen die Praxis der Kategorisierung einwendet, ist die Tatsache, dass so immer auch Schattenseiten entstehen: Dadurch, dass Kategorien „den Effekt des Natürlichen, des Ursprünglichen und Unvermeidlichen erzeugen“ (Butler 1991: 9), entsteht auch Ausgeschlossenes, zu Abnormalem Erklärtes, Undenkbares. Strukturen müssen, in Anlehnung an Derrida, bestimmte Elemente unterdrücken, die nicht in ihr System passen, um sich zu konstituieren beziehungsweise aufrecht zu erhalten (Dahlerup 1998: 34).

Komplexitätsreduktion bedeutet immer auch eine Verkürzung der Möglichkeiten, oder mit Villas Worten: „Diskurse stecken den Bereich des Denk- und Lebbaren ab, indem andere Optionen nicht denk- oder lebbar scheinen“ (Villa 2003: 23). Es gibt in unserem Denken nur Männer und Frauen, und wer nicht in dieses Schema passt, wird mit Entsetzen bedacht oder verdrängt.

Zudem wird bezweifelt, dass Kategorien – insbesondere binäre Optionen wie die Geschlechtszugehörigkeit – hierarchiefrei nebeneinander stehen können. Sowohl Derrida als auch Butler kritisieren die Gegensatzstruktur, welche immer auch eine Wertehierarchie zwischen zwei logisch nicht gleichberechtigten Seiten beinhaltet. Die Geschlechtskategorien Mann – Frau sind also nicht zwei gleichberechtigt nebeneinander stehende Optionen, sondern drücken ein Machtgefälle aus: Der Mann steht im Zentrum, die Frau definiert sich darüber, nicht Mann zu sein. Der weibliche Pol wird also marginalisiert und ausgeschlossen, und genau darin besteht letzten Endes die Notwendigkeit einer Auflösung des Geschlechterbegriffs (vgl. Villa 2003: 84, Butler 1991: 8).

Verwirrung stiften, um Neues zu denken

Zusammenfassend lassen sich folgende Punkte festhalten: Da die ausserdiskursive Realität der menschlichen Wahrnehmung nicht unmittelbar zugänglich ist, ist das von uns Wahrgenommene immer schon vorgeformt. Unser Denken läuft in bestimmten Bahnen und konstruiert so Objekte, die sich uns als Wirklichkeit präsentieren. Durch ständiges Wiederholen erlangen Dinge eine bestimmte Normalität, werden Diskurse zu vorherrschenden Deutungsmustern, zu einer Brille, durch die die Welt betrachtet wird. Andere Deutungen werden marginalisiert und ausgeschlossen. Da Begriffe zwangsläufig kategorisieren, vermögen sie immer nur einen Teil der Wirklichkeit zu fassen, sie beschneiden die Vielfalt und erzeugen Hierarchien, die sich als ein starres Gerüst erweisen, als ein stahlhartes Gehäuse der Zugehörigkeit (Nassehi 1997) – oder eben des Ausgeschlossenseins.

Dekonstruktion kann nun als ein Versuch angesehen werden – und es ist wichtig, sie als ein Versuch und nicht als eine sichere Methode zu betrachten, wie Butler betont, wenn sie sagt, es gäbe „keinerlei Garantie, dass diese Entwirrung jemals an ein Ende gelangt“ (Butler 1991: 12) – mehr Offenheit zu erreichen, den Spielraum zu vergrössern, Alltägliches zu hinterfragen und ihm neue Dimensionen zuzufügen. Butler verweist auf die Möglichkeit des Widerstandes und der kreativen Umdeutung, denn Bedeutungen sind nie ein für allemal festgelegt.

Um diese Offenheit zu erlangen, muss allerdings eine Verunsicherung stattfinden. Selbstverständliches muss attackiert werden, vermeintlich Normales hinterfragt und lieb gewonnene Denkgewohnheiten müssen über Bord geworfen werden. So fragt sich Butler, wie man am besten stören kann (Butler 1993: 7f). Das kann unangenehm werden: Der Mensch wehrt sich gegen Strukturlosigkeit und Anomie, er möchte sich an Altbekanntem festklammern, sich in der Welt zurechtfinden.

Bezogen auf die Geschlechtszugehörigkeit bedeutet die Auflösung einer klaren Rollenstruktur, dass sich jede und jeder neu orientieren muss. Dieser Prozess der Verunsicherung mag schmerzhaft sein und temporär zu Hilflosigkeit und dem Gefühl von Verlorenheit führen – das ist der Preis, den man zu bezahlen hat. Dafür kriegt man kein Paradies der unendlichen Freiheit geschenkt, wohl aber die Ahnung der Möglichkeit einer anderen Welt. Damit müssen wir uns zufrieden geben, und bei genauem Hinschauen erweist sich diese Möglichkeit als immenses Potenzial.

Barbara Meili studiert Soziologie und Wirtschaftswissenschaften an der Universität Bern. Im Rahmen eines Studienaufenthaltes in Berlin hat sie sich mit Körpersoziologie und Dekonstruktivismus befasst.

Literaturauswahl:

Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Butler, Judith (1993): Bodies That Matter. On The Discursive Limits Of Sex. New York: Routledge.
Nassehi, Armin (Hrsg.) (1997): Nation, Ethnie, Minderheit: Beiträge zur Aktualität ethnischer Konflikte. Köln/Weimar/Wien: Böhlau.
Villa, Paula-Irene (2003): Judith Butler. Fankfurt/Main : Campus Verlag. Dahlerup, Pil (1998): Dekonstruktion. Die Literaturtheorie der 1990er. Berlin: Walter de Gruyter.
Kneer, Georg (1997): Nationalstaat, Migration und Minderheiten. Ein Beitrag zur Soziogenese von ethnischen Minoritäten, in: Nassehi, Armin (Hrsg.) (1997): Nation, Ethnie, Minderheit: Beiträge zur Aktualität ethnischer Konflikte. Köln/Weimar/Wien: Böhlau, S. 85-102.
Richter, Dirk (1997): Die zwei Seiten der Nation. Theoretische Betrachtungen und empirische Beispiele, in: Nassehi, Armin (Hrsg.) (1997): Nation, Ethnie, Minderheit: Beiträge zur Aktualität ethnischer Konflikte. Köln/ Weimar/Wien: Böhlau, S. 59-84.
Sherif, Muzafer (1966): Group conflict and cooperation: Their social psychology. Cambridge: Cambridge University Press.
Wobbe, Theresa und Lindemann, Gesa (Hrsg.) (1994): Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

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«Liebe färbt zunächst das Erleben und verändert damit die Welt als Horizont des Erlebens und Handelns. Sie ist Internalisierung des subjektiv systematisierten Weltbezugs eines anderen.»

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