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soziologie.ch soz:mag#10 "hätte ich das im voraus sehen können?"

"hätte ich das im voraus sehen können?"

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Exemplarische Verschuldungsgeschichten von Jugendlichen in der Schweiz

Der öffentliche Diskurs über die Verschuldung von Jugendlichen ist von platten Zuschreibungen geprägt. Erklärungsversuche bestehen nicht selten im reduktionistischen Verweis auf individuelles ‚Fehlverhalten’ – oder aber in allzu diffusen Pauschalurteilen: Die heutigen Jugendlichen lebten halt ungleich hedonistischer als ältere Generationen und verfügen ganz allgemein über einen verschwenderischen, ja ‚unvernünftigen’ Lebensstil. Zumeist werden solcherlei medial aufbereitete Diagnosen mit Zahlen untermauert, die zwar einer inhaltlich-substanziellen Aussage vollends entbehren, dafür aber äusserst alarmierend daherkommen. Das klingt dann in etwa so: 25% der 16 bis 25-jährigen Jugendlichen geben mehr Geld aus als sie einnehmen. 17% der 18 bis 24-Jährigen leiden unter Kaufsucht und bei weiteren 47% besteht eine Tendenz zu unkontrolliertem Kaufverhalten (vgl. „Blick“ vom 10. Januar 2006). Das Thema der Jugendverschuldung bedarf jedoch einer differenzierteren Betrachtung. Die Autorinnen leisten einen Beitrag zur aktuellen Forschung, indem sie die individuelle Verschuldung auf ihre sozialen Entstehungsbedingungen hin untersuchen.

SOZ-MAG Beitrag von Michèle Metrailler und Denise Sidler

Als besondere Risikogruppen, so zeigt die international vergleichende Untersuchung zur Verschuldungslage privater Haushalte von Reifner und Springeneer (2004), gelten Alleinerziehende und Singles mittleren Alters, die arbeitslos sind oder aus anderen Gründen ein Niedrigeinkommen haben. Zusehends finden sich unter den Schuldenmachern neben statusarmen Privathaushalten auch solche der Mittelschicht. Was die Altersstruktur der Verschuldeten betrifft, so stellen Jugendliche in keinem der untersuchten EU-Länder eine besondere Risikogruppe dar. Es existiert kein Zahlenmaterial, das auf eine höhere Schuldenquote unter den Schweizer Jugendlichen hinweisen würde. Auch bei uns findet sich die Mehrzahl der Verschuldeten in den Alterssegmenten der 31 bis 40-Jährigen beziehungsweise der 41 bis 50-Jährigen mit je etwa einem Drittel, während Schuldnerinnen und Schuldner der Altersgruppe 21 bis 30 Jahre weniger als 20 Prozent der Klientel der kantonalen Fachstellen für Schuldenfragen ausmachen (exemplarisch der Kanton Zürich, Jahresbericht 2005 der Fachstelle für Schuldenfragen). Personen unter 20 Jahren finden laut Aussagen von Schuldenberaterinnen und -beratern nur vereinzelt den Weg zu den Fachstellen. Auch eine Akteneinsicht des Betreibungsamtes Bern Mittelland bestätigt diesen Eindruck: Der Anteil an jugendlichen Dossierträgern ist verschwindend klein (Akteneinblick November 2004).

Die in den Medien oft proklamierte jungendliche Generation der Schuldenmacher ist also empirisch nicht nachweisbar. Indes: Wenngleich die Anzahl überschuldeter Jugendlicher weitaus kleiner ist als angenommen, verlieren die Fragen nach den Ursachen der Verschuldung nicht an Relevanz. Die bestehende Literatur und die Presseartikel zum Thema suggerieren, dass die Ursachen im individuellen Konsumverhalten zu sehen sind und damit – als logische Konsequenz – der individuellen Eigenverantwortlichkeit unterliegen. Doch diese „Erklärungen“ und die Reduktion auf das Konsumverhalten greifen zu kurz. Warum findet man Unterschiede im Sparverhalten zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen? Warum geben die in einer schweizerischen Kaufsuchtstudie (Maag 2004) als kaufsüchtig eingestuften Personen in vollem Bewusstsein der Problematik ihrer Handlungen zu viel Geld aus? Sind sie sich der Konsequenzen nicht bewusst? Kümmern sie sich nicht darum? Gibt es Dinge, die ihnen wichtiger sind? Welche strukturellen Faktoren haben Einfluss auf das Konsumverhalten? Quantitative Studien können diese Fragen nicht beantworten: Zwar liefern sie handliche Quantifizierungen, doch darf – erkenntnislogisch gesehen – der Sinn von Fragen wie: „Gibst du manchmal mehr Geld aus, als dass du eigentlich zur Verfügung hast?“ (oft, ab und zu, selten oder nie?) in Frage gestellt werden. Wir näherten uns der Lebenssituation von Verschuldeten daher aus einer qualitativen Perspektive: In den Interviews mit Betroffenen stand die Frage im Vordergrund, wie sie selbst ihre Situation erleben: Wie sehen ihre Lebenslagen aus? Was sehen sie als Gründe und Ursachen für ihre Verschuldung? Welche Implikationen hat dies für ihre Bewältigungsstrategien?

Lebensstilanalyse

Die Frage nach der Verschuldung kann durchaus im Sinne der Frage nach der individuellen Lebensführung betrachtet werden. Jene Erklärungsversuche aber, bei denen die Frage der gesellschaftlichen Bedingtheit von Denk- und Handlungsmustern ausgeblendet bleibt, greifen zweifellos zu kurz. Sie unterschlagen, dass eine je konkrete Art der Lebensführung stets mit einem bestimmbaren Set von habituellen Dispositionen einhergehen, welche diese bestimmen. Damit befinden wir uns im dialektischen Beziehungsgeflecht von sozialer Lage und Habitus, wie Bourdieu (1982, 1993) es aufzeigt. Im Gegensatz zu handlungstheoretischen Forschungsansätzen wurden in unserer Studie daher nicht einseitig die subjektiven, individuellen Lebensweisen und Situationsdeutungen fokussiert, sondern auch die strukturellen Bedingungen, in welchen das habituell beeinflusste (Konsum-) Verhalten geprägt wird, berücksichtigt. Dieser Ansatz, welcher die Bedeutung milieu- und schichtspezifischer Prägung hervorhebt, lässt in Zusammenhang mit dem Verschuldungsproblem die reduktionistische Annahme eines individuellen Verschuldens von Verschuldung fraglich erscheinen.

Mit Bourdieu (1982) kann ein differenzierender Blick eingenommen werden: Individuelle Verschuldung ist auf ihre sozialen Entstehungsbedingungen hin zu befragen. Warum können bestimmte Menschen ihr Konsumverhalten nicht einfach verändern und ihren finanziellen Möglichkeiten anpassen? Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, werden im Folgenden drei Fälle von jungen Verschuldeten betrachtet, welche exemplarisch für eine Vielzahl von ähnlichen Fällen stehen. Analytisch lassen sich die drei Lebensgeschichten je einem anderen Schuldnertyp zuordnen: dem Defizitschuldner (Janine), dem Krisenschuldner (Philippe) und dem zwanghaften Konsumenten (Nadine) (vgl. Reiter 1991).

Erstes Beispiel: Aus den Augen, aus dem Sinn

Der Fall der 22-jährigen Janine Lago steht für alle jene, bei denen der Prozess der Verschuldung so schleichend – und gleichsam unbewusst – verlaufen ist, dass er nicht ins Bild der verschwenderischen und „konsumgeilen“ Jugend passt, das in den Medien so gerne zitiert wird. Im Gegenteil: Ihre Geschichte macht deutlich, wie man quasi unbemerkt in den „Teufelskreis“ von Schulden hineingerät, die Kontrolle verliert und sich ohne fremde Hilfe nicht mehr daraus befreien kann. Weil der Lebensstil der Sachbearbeiterin in ihrer subjektiven Wahrnehmung nicht ausschweifend war, in der Realität jedoch eindeutig über ihren finanziellen Möglichkeiten lag, wurde dies von ihr so lange nicht als Problem wahrgenommen, bis die offenen Rechnungen und Zahlungsforderungen aus der Schublade unter ihrem Bett herausquollen.

Janines Schuldengeschichte beginnt während ihrer Lehre, während der sie ihre Bankkarte chronisch überzieht. Doch Geld ist damals noch kein Thema, auch nicht in der Familie, in der kaum über Geld gesprochen wird. Im dritten Lehrjahr, mit 18 Jahren, zieht Janine von zu Hause aus und entflieht der Kontrolle und strengen Erziehung des sizilianischen, katholisch-konservativen Vaters. Mit dem frühen Auszug kommen viele neue Verpflichtungen auf sie zu: Krankenkassenprämien und Rechnungen aus ihren Internetkäufen bei Möbelhändlern und Modeversandhäusern bleiben erstmals ungedeckt: „Ich habe irgendwie schon gewusst, ich habe Rechnungen, und nicht das Gefühl gehabt, ich müsse es nicht bezahlen, aber ich habe mir den Kopf nicht darüber zerbrochen. (…) Ich bin einfach zu faul gewesen, mal ein Budget aufzustellen und zu fragen: was kann ich mir leisten?“ Nach drei Monaten haben sich Schulden von rund 4‘000 Franken angesammelt, Janine wird mit ersten Betreibungsandrohungen konfrontiert. Bald schon wird der Gang zum Betreibungsamt zur Routine.

Erstes Beispiel: Aus den Augen, aus dem Sinn

Als der Druck seitens der Gläubiger immer höher wird, sieht sich Janine gezwungen, bei ihrem Arbeitgeber ein Darlehen aufzunehmen. Dieses wird ihr gewährt, so dass sie dringende Forderungen decken kann. Ihren Lebensstil und das Internetshopping hält sie weiterhin aufrecht. Ein zweiter Darlehensantrag wird jedoch abgelehnt: Mittlerweile belaufen sich Janines Schulden auf 13‘000 Franken, hauptsächlich in Form offener Miet- und Krankenkassenrechnungen. Der von der Personalbetreuerin vorgeschlagene Weg zur Schuldensanierungsstelle scheint die einzige Lösung aus der Schuldenspirale.

Auf der Fachstelle für Schuldenfragen wird Janine über die Möglichkeit einer Stundung informiert. Sie lernt, dass nicht alle in Rechnung gestellten Verzugszinsen berechtigt sind und auch Gläubiger das Unwissen der Schuldner auszunutzen versuchen. Sie lernt sich eine Übersicht zu schaffen, ein Budget zu erstellen, mit dem sie ihre Konsumwünsche abgleichen muss, Briefe an Gläubiger zu schreiben und Abzahlungsvereinbarungen zu machen. Eine entsprechende Handlungsdisposition fehlt bei Janine vor der Schuldenberatung – trotz abgeschlossener KV-Lehre. Woher hätte sie dieses Wissen über den ‚richtigen’ Umgang mit Geld nehmen sollen? Hätten die Eltern, die Schule oder die Lehrfirma die ‚Unterrichtung’ in diesen Dingen übernehmen sollen?

Zweites Beispiel: Verschuldungsfaktor Armee

Nicht zu unterschlagen ist die Rolle, welche der obligatorische Militärdienst für junge Schweizer Bürger spielt. Der Rekrutenansatz des Erwerbsersatzes von 54 Franken pro Tag ist eher als symbolische Geste denn als ernsthafte finanzielle Entschädigung für die jungen Rekruten zu verstehen. Mit Argumenten wie „die Armee will mich, so soll sie auch zahlen“ oder aber „während der RS würde ich statt 1‘200 Franken über 4‘000 Franken verdienen“ sieht sich der Sozialdienst der Armee (SDA) in den letzten Jahren immer öfter konfrontiert. Sie zeugen von aufeinander prallenden Interessenlagen: Argumente des Patriotismus und der Bürgerpflicht werden gegen individualistisch-ökonomische Argumente des Marktwertes ausgetauscht. Kein Wunder! – Gedanken über den kriegerischen Ernstfall gehören heute nicht mehr in die Erfahrungswelt junger Erwachsener. Verdienstausfall aufgrund des Rekrutendienstes und die damit einhergehende Notwendigkeit, die eigene Wohnung zu kündigen oder vorab ein finanzielles Polster auf Kosten anderer Konsumwünsche anzusparen, wird seitens der angehenden Rekruten daher nicht gerne ins Auge gefasst – und kann unter Umständen zu einer Verschuldung führen.

Diese Erfahrung hat Philippe Stucki, 22 Jahre alt, gemacht. Für ihn, geboren und aufgewachsen in einem wohlhabenden, reformierten Elternhaus, gehören Schuldenmacher nicht gerade zum gewohnten Umfeld: „Der Vater hat noch nie Schulden gehabt, also beide nicht, die Mutter auch nicht. (…) Und von dem her bin ich schon unter normalen Bedingungen aufgewachsen, die ganze Einstellung zu der Arbeit auch, also ich will auch arbeiten, ich will nicht Sozialgeld oder Arbeitslosengeld in dem Sinn beziehen.“ Philippe zählt sich selbst auch nicht wirklich zu den Schuldenmachern, denn eigentlich ist dies eine Frage der individuellen Dispositionen, „es ist, wie soll ich sagen, so ein wenig Charaktersache vielleicht.“

Dass es auch ihn getroffen hat, damit hadert er nun. Natürlich hätte er mit der Anschaffung des Motorrades bis nach der RS warten und auf das Darlehen vom Kollegen in der Höhe von 8‘000 Franken verzichten sollen, das weiss er jetzt auch: „Peinlich ist mir das nicht unbedingt, also es ist einfach so, ich habe mich selbst verschätzt und das hat mir vor allem irgendwie auf die Nerven gegeben. // Also im Sinne von: Hätte ich das im Voraus sehen können? // Genau, dass mir so etwas, dass einem der Chef kündigt… dass ich so blöd bin und denke, der lässt mich arbeiten bis zur RS.“ In seinem starken Glauben an das Gelingen einer Normalbiographie, wie sie ihm sein Vater in einem steilen Bildungs- und Berufsaufstieg vorgelebt hat, fand eine mögliche Arbeitslosigkeit keinen Platz: „Ich habe mir wirklich ausgerechnet, dass es aufgeht und dass ich das abzahlen kann bis an die RS. Ich habe natürlich dazumal damit gerechnet, dass ich wirklich bis zur RS dort arbeiten kann. Aber dann hat der Chef erfahren, dass ich in die RS muss und hat mir dann sozusagen sechs Wochen vorher gekündigt. (…) Er hätte Arbeit gehabt, es ist nicht so, dass er keine Arbeit gehabt hat, sondern er hat einfach gesehen, okay, jetzt muss ich kündigen, oder sonst zahle ich ihn während der RS.

Die Tatsache, dass immer weniger Rekruten während der militärischen Ausbildung in einem bezahlten Anstellungsverhältnis sind, zeugt davon, dass kostenkalkulierende Argumente gegenüber den landestreuen Wertvorstellungen die Oberhand haben – auch und gerade auf der Seite der Arbeitgeber.

Was Philippe Stucki nun aber wirklich „’verruckt’ gemacht hat“, ist die Regelung des Schweizer Sozialsystems, die für Arbeitslose zwischen Lehr- oder Schulabschluss und RS keine Ansprüche auf Arbeitslosengelder vorsieht. Trotz seiner Bereitschaft, in den zwei Monaten vor der RS irgendetwas zu arbeiten, wird Philippe Stucki der Status des Nichtvermittelbaren zugewiesen. Dies nur, weil er „die RS am Laster“ hat. Wäre es nicht nahe liegend, dass ihm der Staat – zumal er ihm dies eingebrockt hat – in dieser Situation auch unter die Arme greift? „Ich hätte sie dazumal gebraucht und sie haben mich ‚la hocke’! // Das vergibst du ihnen nicht. // Wirklich nicht. Vor allem habe ich dann auch noch einbezahlt, oder; ich habe ja dazumal schon immer in den Schulferien Jobs angenommen, und du hast immer diese Arbeitslosengelder abgegeben und gottverdammt noch mal!“

Drittes Beispiel: Verdrängen durch Kaufen

Thematisiert man die Problematik der Verschuldung, darf nicht vergessen werden, dass existenzielle Sorgen in einem Grossteil der Fälle mit hohen psychischen Belastungen einhergehen. Doch könnten Schulden nicht nur Ursache, sondern auch die Folge psychischer Probleme sein?

In einem ausführlichen Gespräch schilderte uns Nadine Kuhn, eine mondäne, elegante junge Dame mit einer Vorliebe für Louis Vuitton-Kleider einen ihrer psychischen Spannungszustände, die sie immer wieder zu Touren durch die Boutiquen der Schweizer Grossstädte getrieben hat: „Ich habe das Geld dort wirklich einfach verprasst. Also, das hat mir gefallen, das muss ich haben, das hat mir gefallen, das muss ich haben. Also ich habe es nicht einmal anprobiert. (…) Ich habe einmal innerhalb von drei Tagen 3500 Franken ausgegeben, dies gekauft und das gekauft, einfach so, also nicht überlegte Sachen, einfach um des Kaufens willen.“ Die Zwanghaftigkeit ihrer Konsumhandlungen ist nicht übersehbar, es geht nicht um das Produkt, um seinen Gebrauchswert, sondern um den Akt des Kaufens. Gleichzeitig spricht sie vom schlechten Gewissen, das sie nach dem Kauf oftmals plagte, davon, dass sie die erstandenen Dinge oftmals wegsperrte, ohne sie je genauer anzuschauen.

Ihr zwanghaftes Kaufverhalten bringt Nadine, wahrscheinlich auch infolge ihrer therapeutischen Aufarbeitung, in Zusammenhang mit ihrem „Frust“, den sie damals gehabt hat. Einerseits machte ihr – als einzigem Adoptivkind unter vier Geschwistern – die schwierige Familienkonstellation zu schaffen. Andererseits erlebte sie in der Beziehung mit ihrem Freund psychischen und physischen Missbrauch. Als sie schliesslich während einer Anstellung als Au-pair von familieninternen Missbräuchen gegenüber den Kindern Wind bekommt, wird ihr alles zuviel.

Dieser Fall steht nicht alleine. Unter ‚Kaufsucht’ leiden laut Maag (2004) 4.8% der in einer landesweiten Studie rund 700 befragten jugendlichen Schweizerinnen und Schweizer, weitere 33% haben die Tendenz zu unkontrolliertem Kaufen. ‚Pathologisches’ Kaufverhalten ist sicherlich individuell unterschiedlich motiviert. Die Bedingungen aber, unter denen sich persönliche Probleme in Verschuldungsgeschichten materialisieren können, sind gesellschaftlich gegeben: Kunden- und Kreditkarten, die bargeldlosen Kauf ermöglichen, Internetbestellungen, Kontoüberzugsmöglichkeiten und vieles mehr bieten mannigfache Möglichkeiten, Geld auszugeben, das eigentlich gar nicht vorhanden ist. Ziel einer verantwortungsvollen Sozialpolitik wäre es nun, nennenswerte rechtliche Schutzmassnahmen zu initiieren, um einer Verschärfung der Problematik entgegenzuwirken.

Präventionspolitische Gedanken

Je nach Typik eines Verschuldungsfalls bieten sich andere Ansatzpunkte für die Prävention: Defizitschuldnerinnen wie Janine, für welche Mängel in der Haushaltsführung sowie ein niedriges Einkommen spezifisch sind, können durch Tilgungspläne und Anleitungen zur Haushaltsführung sinnvoll unterstützt werden. Professionelle Hilfe bieten die kantonalen Schuldenfachstellen.

In Bezug auf die Prävention stellt sich aber immer auch die Frage: Wer lehrt die Betroffenen überhaupt, ein Budget zu erstellen und unterweist sie in allgemeinen Fragen der Finanzverwaltung? Diskutiert wird in diesem Zusammenhang die Rolle der Schule, deren Aufgabe nicht nur in der Wissensvermittlung bestehen soll, sondern auch in der Vermittlung lebenspraktischer Fähigkeiten. Andere Stimmen verlangen, dass solche Dinge im Elternhaus vermittelt werden: Gemäss der Aussage einer interviewten Schuldenberaterin ist in der Schweiz zu beobachten, dass finanzielle Angelegenheiten von den Eltern geregelt werden, ohne dass die Kinder miteinbezogen werden. Sie rät den Eltern daher dringend, den Kindern aufzuzeigen, wofür welche Kosten anfallen, und ihre finanzielle Situation den Kindern offenzulegen. Kindern Geld zu leihen und zu akzeptieren, dass der Rückzahlungstermin immer weiter hinausgeschoben wird – ein Verhalten, das gemäss einer deutschen Studie (Lewald 2001) bei Jugendlichen besonders beliebt ist – kann ebenfalls zu einem fatalen Lernergebnis führen: Warten, Verzögern, Vergessen kann zwar im privaten Kontext eine ‚funktionierende’ Strategie sein, ausserhalb davon aber zu erheblichen Schwierigkeiten führen.

Im Auge zu behalten ist die Entwicklung des Schweizer Arbeitsmarkts in Bezug auf die Handhabung der Rekrutenfrage: Gemäss einer Studie über die finanzielle Situation von Rekruten (Neuhaus 2000) ist nur 1% der Rekruten vor der militärischen Ausbildung beim Arbeitslosenamt als ‚nicht vermittelbar’ gemeldet. Doch ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer hier sehr hoch ist und die Übergangsphase oftmals mit privaten Mitteln überbrückt wird. Für Betroffene aber, welche auf die Unterstützung durch Arbeitslosengelder angewiesen sind, ist die heutige Regelung nicht tragbar.

Michèle Métrailler, lic.rer.soc., arbeitet als Dozentin für Soziologie und Projektassistentin für Familienzentrierte Pflege an der Lindenhof Schule in Bern.

Denise Sidler, lic.rer.soc., arbeitet als Journalistin für SF Tagesschau Online, Teletext und MusicStar Online. Der Artikel basiert auf ihrer gemeinsamen Lizentiatsarbeit „Die Verschuldung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Schweiz“.

Literaturauswahl:

Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Lange, Elmar (2004): Jugendkonsum im 21. Jahrhundert. Eine Untersuchung der Einkommens-, Konsum- und Verschuldungsmuster der Jugendlichen in Deutschland. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Lewald, Armin (2001): Kinder, Jugendliche und Schulden. Wächst eine Generation der Schuldenmacher heran? BLZ Zeitschrift der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Juli/August, 14-15.
Maag, Verena (2004): Kaufsucht: diskret, legal und stark am Zunehmen. Sozial Aktuell, 11 (Juni), 12-15.
Neuhaus, Manfred (2000): Die Veränderung der finanziellen Situation von Rekruten in Schweizer Rekrutenschulen. Lizentiatsarbeit an der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg, Departement Sozialarbeit und Sozialpolitik.
Reifner, Udo / Springeneer, Helga (2004): Die private Überschuldung im internationalen Vergleich – Trends, Probleme, Lösungsansätze.

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«Die wissenschaftliche Theorie, wie ich sie verstehe, stellt sich als ein Wahrnehmungs- und Handlungsprogramm dar, oder als ein wissenschaftlicher Habitus, wenn Ihnen das lieber ist, der sich nur in der empirischen Arbeit offenbart, in der er realisiert wird.»

Pierre Bourdieu im Gespräch mit Loïc Wacquant, in „Reflexive Anthropologie“ (1996), S. 197.