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soziologie.ch soz:mag#9 das aufbrechen des "subjekts"

das aufbrechen des "subjekts"

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IdentitÀtskritik und Subjektkonstitution

Von „Subjekt“ wird gesprochen, um auf jene Form zu verweisen, in welcher das menschliche Wesen als ein gesellschaftliches erscheint. Das Aufbrechen des „Subjekts“ ist in einem doppeldeutigen Sinne zu verstehen: Es meint einerseits ein Zerbrechen starrer IdentitĂ€ten und kategorialer Einteilungen und andererseits ein Ausbrechen des Einzelnen aus diesen reglementierenden UmstĂ€nden. Allerdings wird der Begriff des „Subjekts“ nichts desto trotz als Denkbestimmung oder Reflexionskategorie gebraucht, um ĂŒberhaupt von gesellschafts- und erkenntnistheoretischen Dingen sprechen zu können und, nicht zu vergessen, um politisches Handeln zu organisieren. Der Versuch, diese Problematik auszuloten, ereignet sich – mittels den AnsĂ€tzen von Nietzsche, Marx, Adorno und Foucault – in einem Wechselspiel von Konstitution und Kritik, jenseits von Erstarrung in dogmatischer IdentitĂ€t oder beliebigem Relativismus.

SOZ-MAG Beitrag von Lucas Gross

Ausgehend von der Forderung einer Selbstreflexion der Moderne und dem Tod fester Referenzen, stehen wir vor einer kompromisslos nachmetaphysischen Zukunft. Was nicht heissen soll, dass in einer sich vielleicht emanzipierenden Gesellschaft das Geschichten-ErzĂ€hlen, die Suche nach beruhigenden Klarheiten, sich erĂŒbrigen wĂŒrde, sondern zugunsten einer Selbstillusionierung im Sinne „des Rausches“ und „des Schönen“ oder einer „Ästhetik der Existenz“ sich wandeln mĂŒsste – ohne mehr bloss Ideologisierung zu sein. Dass Geschichte und gesellschaftliches Dasein einen vorbestimmten und metaphysischen Sinn haben sollen, erscheint lĂ€cherlich: Das Auftreten von Zielen und Zwecken in der Wirklichkeit ist auf konkrete „Subjekte“ zurĂŒckzufĂŒhren, d.h. losgelöst von ihnen gibt es keinen Sinn, und damit ist auch keine teleologische Endzweckvorstellung angebracht. Die Orientierung am endlichen Menschen bedarf keiner metaphysischen LetztbegrĂŒndung und fordert stattdessen ein kritisches Urteil ĂŒber die jetzige kapitalistische Gesellschaft und die konkret in ihr lebenden Menschen.

„Was nur Werth hat in der jetzigen Welt, das hat ihn nicht an sich, seiner Natur nach, – die Natur ist immer werthlos: – sondern dem hat man einen Werth einmal gegeben, geschenkt und wir waren diese Gebenden und Schenkenden! Wir erst haben die Welt, die den Menschen Etwas angeht, geschaffen!“ (Nietzsche). Damit wird nicht nur die Möglichkeit postuliert zu erschaffen, was sein soll, sondern es soll auch explizit die politische Forderung erhoben werden, nach dem „Tod Gottes“ und dem „Tod des Menschen“ an Kritik als Programm der Selbstreflexion festzuhalten, um im Sinne Marx‘ „alle VerhĂ€ltnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verĂ€chtliches Wesen ist.“ Wir stĂŒrzen uns dabei, ohne jedoch zu fallen, vielleicht mit einigem Stolpern, in eine Kritik an Substanzen und Unvermitteltem jenseits von Finalisierungen, Ursprungsdenken, zentristisch-hierarchischer Organisation und totalitĂ€ren Zuschreibungen. Doch: Wie ist dann Theorie noch möglich? Wie lĂ€sst sich der Begriff des „Subjekts“ nun verwenden?

Die Setzung „Subjekt“ fungiert bloss als abgekĂŒrzte Formel oder als Hypothese, welche uns das Erfassen und Bearbeiten der Thematik ermöglicht. Es ist eine Erfindung und ein Geschaffenes, damit eine Fiktion, die jedoch als begriffliche Denkbestimmung oder Reflexionskategorie ihre Dienste leistet. Das jeweils als „Subjekt“ Identifizierte ist ein vermitteltes und aufgeschobenes, nicht einholbar durch eine abschlusshafte Bestimmung. „Subjekt“ wird als ein VerhĂ€ltnis aufgefasst, als Vermittlungskategorie und temporĂ€re Organisation. Als Ausdruck der Kristallisation von verschiedenen aufeinandertreffenden und sich verbindenden Momenten ist es unterworfen und hervorbringend, aber nicht als fester Punkt prĂ€sent. Es konstituiert sich fortwĂ€hrend aus dieser Dynamik von dezentrierten Momenten und ist somit nicht als zentrierte Einheit, von welcher die alles konstituierende Wirkung ausgeht, zu verstehen. „Subjekt“ als einen Punkt oder als ein stillgelegtes Resultat gibt es nicht, oder gĂ€be es allenfalls zu kritisieren. Damit wird immer schon eine Kritik an hegemonialen Sozialisations- und Subjektivierungspraktiken gemeint, um neue Denk- und HandlungsrĂ€ume zu eröffnen, d.h., um „neue Formen der SubjektivitĂ€t zustande (zu) bringen“ (Foucault). Der Begriff „Subjekt“ impliziert somit nichts Festes, Substanzielles oder UrsprĂŒngliches, und darf also nicht ontologisch als TrĂ€ger eines „Ichs“, als in diesem Sinne zugrunde liegend, missverstanden werden. „Subjekt“ ist eine Setzung, die nicht zu verabsolutieren ist: An der Arbeit mit Begriffen wird zwar festgehalten, um dem Besprochenen Ausdruck zu verleihen. Jedoch mĂŒssen Begriffe gegen ihre wesenhafte Totalisierung und einheitsstiftenden AnsprĂŒche kritisiert werden. Adornos Diktum, „mit dem Begriff ĂŒber den Begriff“ hinauszugehen, leistet hierzu den kritischen Impetus.

Die folgenden Abschnitte beruhen auf drei Aspekten: Da Gesellschafts- und Erkenntnistheorie nicht zu trennen sind, steht erstens die historische Konstitution eines realgesellschaftlich-historischen „Subjekts“, d.h. seine Hervorbringung in konkreten VerhĂ€ltnissen, im Vordergrund. Zweitens gilt es Kritik zu ĂŒben am identisch-zurĂŒstenden Typus von „Subjekt“ selbst. Drittens wird der erkenntnistheoretische Aspekt des Vermögens der subjektiven Vernunft fokussiert. Diese Aspekte stellen konstellativ den Problemzusammenhang dar.

Soziales Feld und Vermittlung

Wie muss der gesellschaftlich-geschichtliche Vermittlungszusammenhang gefasst werden, innerhalb welchem die Einzelnen sich hervorbringen und hervorgebracht werden? – Das menschliche Wesen wird „Subjekt“, insofern es sich durch Objektivation und Auseinandersetzung in einem Möglichkeits- und Erfahrungsraum formt. Sich im gesellschaftlichen Raum zu entwickeln, bedeutet immer, sich innerhalb von bestimmten ProduktionsverhĂ€ltnissen, Disziplinen und diskursiven ZusammenhĂ€ngen zu bewegen. Es ergeben sich Techniken des Umganges und Verhaltensanforderungen sowie Ordnungscodes fĂŒr den Zugriff auf die Welt. Wir erlangen Kommunikation und werden als verstĂ€ndliche und identifizierbare Einheiten einen Umriss erhalten, welcher fassbar und einsetzbar sich fĂŒr den sozialen Austausch eignet. Dieser Artikel wird es bei einer theoretischen Skizze ĂŒber den Wirkungszusammenhang bei der Hervorbringung eines „Subjekts“ belassen, ohne die in einer Kultur wirkenden Wissensbereiche, NormativitĂ€tstypen und SubjektivitĂ€tsformen konkret ansehen zu können.

Schon ein kritischer Materialismus verstand, dass „das gesellschaftliche VerhĂ€ltnis ‚des Menschen zum Menschen‘ (...) zum Grundprinzip der Theorie“ (Marx) zu machen sei. Der Modus des sozialen Verkehrs bestimmt die Konstitution des Einzelnen in einem historisch-gesellschaftlichen Lebenszusammenhang. Daran zeigt sich, wie der Einzelne sich formt, sich verhĂ€lt und formend wirkt, wie dieser wahrnimmt und auf sich einwirken lĂ€sst. Was wir „Welt“ oder „Gesellschaft“ nennen, ist Resultat und ein historisches Produkt wirkender Subjekte und nichts von Ewigkeit her Gegebenes. Deshalb kann geschlossen werden, dass „es vielmehr der Mensch (ist), der wirkliche, lebendige Mensch, der das alles tut, besitzt und kĂ€mpft; es ist nicht etwa die ‚Geschichte‘, die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre (...) Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts als die TĂ€tigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen“ (Marx). Nicht bloss „Zwecke“ oder „Ideen“, sondern Menschen, die Zwecke und Ideen in ihrem realen Lebensprozess hervorbringen, machen die geschichtliche Wirklichkeit und damit sich selbst. Es kann bekanntlich nach Marx in einem dialektischen Sinne geschlossen werden, „dass also die UmstĂ€nde ebensosehr die Menschen, wie die Menschen die UmstĂ€nde machen.“ Die Einzelnen stehen in stĂ€ndiger Auseinandersetzung mit anderen „Subjekten“, um die jeweiligen Dinge der BedĂŒrfnisbefriedigung und der Selbstverwirklichung zu erhalten, da sie im Produktionsprozess „fortdauernd in einem werktĂ€tigen Umgang unter sich und mit diesen Dingen stehen und bald auch im Kampf mit anderen um diese Dinge zu ringen haben“ (Marx). Diese Auseinandersetzungen ereignen sich in Form von Vorstellen, Verstehen, Wollen, Begehren, Sich-Beziehen oder durch Leidenschaft – durch KrĂ€fte, die in einem durch sie entstandenen sozialen Raum provozieren, sich gegenseitig affizieren, zusammenstellen und normalisieren. In diesem Sinne sind diese KrĂ€fteverhĂ€ltnisse etwas, das durchlĂ€uft, das wirkt und bewirkt, und zwar „auf der ganzen OberflĂ€che des sozialen Feldes“ (Foucault). Sie wirken durch die kleinsten sozialen Elemente und Beziehungen hindurch und sind somit „eine Form augenblickhafter und bestĂ€ndig wiederholter Zusammenstösse innerhalb einer bestimmten Anzahl von Individuen“ (Foucault). Sie schreiten fort, wandeln und organisieren sich neu, ohne eine feste Struktur zu zeitigen. Es ist also „die VielfĂ€ltigkeit von KrĂ€fteverhĂ€ltnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren“ (Foucault). Gesellschaft, und damit die Hervorbringung des „Subjekts“, entsteht aus einem Spiel von KrĂ€ften, welche anregen, zusammenfĂŒgen und hervorrufen. Alles gesellschaftlich Hervorgebrachte ist eine Verbindung von diesen KrĂ€fteverhĂ€ltnissen, die produzieren, einwirken, konfrontieren und lenken. Wir können diese einzelnen Momente des sozialen KrĂ€ftefeldes festhalten, aber ohne eine klare ursĂ€chliche Fixierung festzumachen. Zu sehr ist alles in Bewegung, in fortschreitend differenzierendem und wechselwirkendem Austausch.

Konstitution und IdentitÀt

Als dieses Vermittelte kann das menschliche Wesen nur in seinen Vermittlungen reflektiert werden, ohne jedoch seinen Vermittlungs- und Konstitutionszusammenhang ganz abschĂŒtteln zu können. Das gesellschaftliche „Subjekt“ kann also nur als etwas Sich-VerĂ€nderndes gefasst werden, ohne dass es dabei irgend einen festen Kern oder Ursprung von „Subjekt“ freizulegen gĂ€be, der durch ein Spiel von KrĂ€ften unkenntlich gemacht wird. Dies wĂŒrde nach Foucault die „Suche nach dem genau abgegrenzten Wesen der Sache (...), die Suche nach ihrer reinsten Möglichkeit, nach ihrer in sich gekehrten IdentitĂ€t, nach ihrer unbeweglichen und allem Äusseren, ZufĂ€lligen und Zeitlichen vorhergehenden Form“ bedeuten. Diese Suche wĂ€re vergebens, denn das je vorliegende „Subjekt“ wurde StĂŒck fĂŒr StĂŒck aufgebaut aus historischen Elementen und innerhalb bestimmter Konstellationen von Ereignissen. Sein Anfang ist nicht lokalisierbar, sein Ende nicht absehbar – es zeigt sich uns ausschnitthaft, als Teil eines schon lange Begonnenen und ohne Abschluss. Dem als „Subjekt“ festgemachten Mensch kommt nicht eine ursprĂŒngliche Stifterfunktion zu; er steht mitten im Spiel drin.

Dies impliziert das menschliche „Wesen“ als offenes und nicht definierbares Wesen (ausser eben als offenes und werdendes), welches sich innerhalb eines jeweiligen Erfahrungshorizontes durch Auseinandersetzung bereichert und wandelt. Er ist wesentlich unfertiges und sich Ă€nderndes Resultat, fortwĂ€hrendes Produkt seiner Erfahrungen und TĂ€tigkeiten in einer bestimmten historisch-gesellschaftlichen Situation. Die Natur des menschlichen Wesens könnte höchstens als historisch Sich-Modifizierendes verstanden werden. Der Einzelne ist Naturwesen aber als ein lebendiges Wesen, dessen Natur das Werden ist. „Indem er auf die Natur ausser ihm wirkt und sie verĂ€ndert, verĂ€ndert er zugleich seine eigene Natur“ (Marx). Die eigene VerĂ€nderung und jene der Umwelt sind zusammen zu betrachten. Dabei wird die Umwelt nicht als unverĂ€nderlich und bestimmt hypostasiert, sondern wird als Ergebnis einer dynamischen und dialektischen Bewegung der Praxis aufgefasst, was den gesellschaftlich-praktischen Charakter von vermeintlicher Natur und objektivem Geschichtsverlauf unterstreicht. Der Mensch ist zwar Produkt der Geschichte, aber, da die Geschichte durch ihn gemacht und bestimmt wird, ein Produkt seiner selbst. In dieser Prozesshaftigkeit birgt der Einzelne als sich verhaltendes Wesen die Möglichkeit endlos vieler Kreationen in sich. Wir können daher auch sagen, Bewusstsein und Form des „Subjekts“ hĂ€ngen vom Reichtum dessen Beziehungen ab und werden wesentlich durch sinnlich-praktische Erfahrungen und TĂ€tigkeiten generiert. „In nichts anderem als in der Zartheit und dem Reichtum der Ă€usseren Wahrnehmungswelt besteht die innere Tiefe des Subjekts. Wenn die VerschrĂ€nkung unterbrochen wird, erstarrt das Ich. Geht es, positivistisch, im Registrieren von Gegebenem auf, ohne selbst zu geben, so schrumpft es zum Punkt, und wenn es, idealistisch, die Welt aus dem grundlosen Ursprung seiner selbst entwirft, erschöpft es sich in sturer Wiederholung. Beide Male gibt es den Geist auf“ (Adorno). Trotz diesen Zuschreibungen an das menschliche Wesen ist eine Wesensanthropologie in einem engeren Sinne nicht ausmachbar: Der Mensch ist nach Nietzsche „das noch nicht festgestellte Thier“. Darin, dass er nicht festgestellt und bestimmt ist, liegt seine Freiheit, sich hervorzubringen. Die Denaturalisierung und Entmythologisierung der gesellschaftlichen VerhĂ€ltnisse und des menschlichen Wesens eröffnen diese Freiheit.

Derweil erscheint die Bestimmung „Subjekt“ als etwas Abgeschlossenes, etwas fest Gewordenes. Das menschliche Wesen nimmt darin Gestalt an, d.h. Ordnung und IdentitĂ€t erfolgen durch Zuschreibungen und Identifizierungsprozesse, die eine bestimmte Positionierung innerhalb der Welt und die Generierung von Diskursen ermöglichen. Im Verlaufe der Subjektivierung gibt sich der Einzelne als „Subjekt“ einen bewussten Status, eine IdentitĂ€t, die verstehbar sein muss und welche fĂŒr den Einzelnen als fester Ausgangspunkt dient. Er gerinnt zu einem festen Punkt als dieses gesellschaftlich erstarrte „Subjekt“. Das menschliche Lebewesen bekommt eine sich selbst zugehörige Form, die einen Willen und eine LebensintensitĂ€t hervorruft, aber auch einen Modus der Bewertung und einen Massstab fĂŒr das eigene Handeln. Dieses Gerinnen des Subjektivierungsprozesses zeichnet sich durch die Herausbildung einer inneren Instanz der FĂŒhrung aus, die als Sitz der persönlichen Wahrheit die Orientierung und HandlungsfĂ€higkeit innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen ermöglicht. In dieser Erstarrung ist die IdentitĂ€t des „Subjekts“ mit zweierlei Unterwerfung behaftet: Einerseits ist der Einzelne „vermittels Kontrolle und AbhĂ€ngigkeit jemandem unterworfen“ und andererseits „durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen IdentitĂ€t verhaftet“ (Foucault). Damit wird der Blick darauf gerichtet, was den Einzelnen abspaltet, absondert und „auf sich selbst zurĂŒckwirft und zwanghaft an seine IdentitĂ€t fesselt“ (Foucault). Zu kritisieren gilt es jene KrĂ€fteverhĂ€ltnisse und gesellschaftlichen Bedingungen, die aus den menschlichen Wesen jene unterworfenen „Subjekte“ machen.

Durch diese Einstellung wird gemĂ€ss Foucaults Analyse allem ein Ende gesetzt, was „dieser Erzeugung des Menschen durch den Menschen eine feste Erzeugungsregel, ein wesentliches Ziel vorgeben will“, denn im Verlaufe der Geschichte haben die Menschen niemals aufgehört, „sich selbst zu konstruieren, d.h. ihre SubjektivitĂ€t zu verschieben, sich in einer unendlichen und vielfĂ€ltigen Serie unterschiedlicher SubjektivitĂ€ten zu konstruieren. Diese Serie von SubjektivitĂ€ten wird niemals zu einem Ende kommen und uns niemals vor etwas stellen, das ‚der Mensch‘ wĂ€re.“ Ein offenes, nicht in abgeschlossener IdentitĂ€t erstarrendes und in FinalitĂ€t sich abschliessendes Fortschreiten im Denken und in der Selbstkonstitution setzt den Massstab der Emanzipation. Dabei erfolgt diese im Bewusstsein dessen, dass eine erstarrende IdentitĂ€t uns einzuholen trachtet, jedoch dem nur in der aporetischen Anstrengung, mittels IdentitĂ€ten gegen IdentitĂ€ten vorzugehen, entgegen gewirkt werden kann. Vielmehr soll der vermeintlich stillgelegte Einzelne aufbrechen aus der Einsperrung der Definition des Menschen als klar umrissenes und identisches „Subjekt“, um in dieser hervorgebrachten Leere neue DenkrĂ€ume zu finden, ohne sie mit einem neuen Ordnungscode vereinnahmend auszufĂŒllen. Betont wird das Prozesshafte, welches konstituiert, aber zugleich verschiebt, verformt und verwandelt und damit den Menschen in seiner SubjektivitĂ€t permanent umwandelt, lernen lĂ€sst und neuen Erfahrungen aussetzt. Nach Adorno, zu dem wir nun kommen werden, lĂ€sst sich dieses Bestreben kurz fassen: „Utopie wĂ€re ĂŒber der IdentitĂ€t und ĂŒber dem Widerspruch, ein Miteinander des Verschiedenen.“

Zugriff und Nicht-IdentitÀt

Die Welt ist nicht ohne das erfahrbar, was durch „Subjekt“ bezeichnet wird, denn dieses selbst erst macht und nimmt die Erfahrungen auf, durch die wir werden. Das „Subjekt“ ist aber, wie schon gesehen, selbst schon derart vermittelt, auch durch sich selbst, dass wir kein Festes an ihm halten können. Dies zeigt sich auch auf der Ebene der Frage nach dem Vermögen der zugreifenden Vernunft, d.h. dem Vermögen der Wahrnehmung und der Reflexion.

Ausgangspunkt ist dabei eine Kritik an der IdentitĂ€tslogik der Begriffe und an einer damit einhergehenden Reglementierung von Erfahrung. Die sinnliche Eindrucksvielfalt wird unter ein begriffliches Anschauungsschema gebracht: „Nicht erkennen, sondern schematisieren, dem Chaos so viel RegularitĂ€t und Formen auferlegen, als es unserem praktischen BedĂŒrfnis genug thut“ sowie das Unbekannte und Neue zu „subsumieren, zu schematisieren, (und) zum Zweck der VerstĂ€ndigung, der Berechnung“ (Nietzsche) zurecht zu legen, ist die Funktion und Wirkungsweise der Begriffe. „Die Menschen distanzieren denkend sich von der Natur, um sie so vor sich hinzustellen, wie sie zu beherrschen ist. Gleich dem Ding, dem materiellen Werkzeug, das in verschiedenen Situationen als dasselbe festgehalten wird und so die Welt als das Chaotische, Vielseitige, Disparate vom Bekannten, Einen, Identischen scheidet, ist der Begriff das ideelle Werkzeug, das in die Stelle an allen Dingen passt, wo man sie packen kann“ (Adorno). Die Leistung der ordnenden Vernunft ermöglicht uns eine Auseinandersetzung mit der Welt durch einen verfĂŒgungsorientierten Eingriff: Sie lĂ€sst uns darĂŒber sprechen, darĂŒber austauschen. Diese Objektivierungsleistung scheint fĂŒr die Selbsterhaltung und Organisation unumgĂ€nglich und kann nach der geschichtsphilosophischen Spekulation von Adorno als Urgeschichte des „Subjekts“ durch Trennung von „Subjekt“ und „Objekt“, gar als Urgeschichte der Verdinglichung angesehen werden. Denn die einhergehende Unterwerfung von allem zu Erkennenden unter das selbstherrlich identifizierende „Subjekt“ scheidet aus und rĂŒstet zu: Damit wird aber auch der Erfahrungsraum und die Erkenntnismöglichkeit der Einzelnen selbst eingeschrĂ€nkt und damit sie selbst.

In kritischer Manier bedeutet nun eine Kritik der Vernunft nicht deren Verabschiedung. Bloss ihre SouverĂ€nitĂ€t als instrumentelle und damit ihre Reduktion auf eine beschrĂ€nkte steht zur Disposition. Es soll korrektiv gegen das IdentitĂ€tsdenken als grundlegendes Moment der Gewalt im Zuge der Subjektivierung vorgegangen werden und gegen die gesellschaftlichen Bedingungen, welche dieses Moment der Vernunft hervorbrachten und fördern. Die Erscheinung des zu Erkennenden als ein Besonderes ist durch eine Vielzahl von Eigenschaften und deren Kombinationen sowie von verschiedener IntensitĂ€t geprĂ€gt. Der Anspruch des Begriffs der Erkenntnis besteht nicht im blossen Wahrnehmen, Klassifizieren und Berechnen, sondern gerade im Aufbrechen des je Unmittelbaren, vermeintlich Festen, durch eine fortlaufende Bewegung der Unterscheidung und der Negation. Die Unterschiedenheit, d.h. die NichtidentitĂ€t, soll jedoch nicht in die IdentitĂ€t hineingeholt und dem „Subjekt“ zugeschlagen werden, sondern es bedarf eines verĂ€nderten Zuganges zum „Objekt“ (ein solches das „Subjekt“ als zu erkennendes selbst ja ist). Auch NichtidentitĂ€t verlangt, dass am reprĂ€sentierenden Denken festgehalten wird, denn dieses ermöglicht uns, Setzungen zu tĂ€tigen und das zu bezeichnen, was uns in dieser Welt etwas angeht: Das, was sich „hinter dem RĂŒcken“ abspielt, soll begriffen werden. NichtidentitĂ€t kann als begriffliche Bestimmung des Nichtbegrifflichen, als Grenzbegriff des Begrifflichen selbst verstanden werden. Das BemĂŒhen um ein Bewusstsein von NichtidentitĂ€t möchte dieser gerecht werden, um ein anderes seiner selbst einzugedenken und diesem zur Sprache zu verhelfen. Das Potential, welches noch in der Sache drinsteckt, wird damit zugelassen. „NichtidentitĂ€t (ist) das Telos der Identifikation“ und somit „wĂ€re das Nichtidentische die eigene IdentitĂ€t der Sache gegen ihre Identifikation“ (Adorno). Das Denken darf sich jedoch der Sache weder ĂŒberantworten, noch sie vereinnahmen. Es bleibt die aporetische BemĂŒhung, der Sache sich begrifflich-konstellativ anzunĂ€hern, um beim Begriffslosen, Einzelnen und Besonderen anzugelangen. Nach Adorno ist somit die „Erkenntnis des Gegenstandes in seiner Konstellation“ jene Erkenntnis des Prozesses, den der Gegenstand „in sich aufspeichert.“ Dem will dialektisches Denken gerecht werden. Die Aporie, dass man zu sagen versucht, was sich nicht sagen lĂ€sst, stachelt kritische Erkenntnis an. Um Dinge zu erkennen, muss ĂŒber Dinge gesprochen werden, ohne sie dabei schon erkannt zu haben. Noch weniger wĂ€re Erkenntnis im Schweigen möglich. GegenĂŒber einem System, einem Ersten und Festen erschĂŒttert der „Schock des Offenen“ (Adorno). Es bleibt eine unauflösliche Spannung und ein Spiel von Reflexion und Erfahrung, von Bestimmung und Offenheit.

Von der glĂŒcklichen Verzweiflung

Das Entstehende, welches sich aus verschiedenen und zueinander in Differenz stehenden Momenten herausbildet, ist in einem SpannungsverhĂ€ltnis von Werden, Augenblicken des Stillstandes, von Bezug, Transformation und Fortschreiten zu begreifen. Wie lĂ€sst aber eine derartige Dezentrierung, welche einen sich verĂ€ndernden Einzelnen hervorbringt, SelbstverstĂ€ndnis und HandlungsfĂ€higkeit zu? Dass damit nicht ein modisch flexibles „Ich“ gemeint sein kann, das sich den Anforderungen des konkreten Alltags und seinen Verhaltenserwartungen anpasst, ist wohl verstĂ€ndlich. Die Möglichkeit einer emanzipierten Subjektivierung wĂ€re im Bewusstsein des ausgefĂŒhrten Problemzusammenhanges zu versuchen. Aber eben nie als etwas Abgeschlossenes, d.h. anzustreben ist kein erstarrtes, sinnhaft-fertiges und mit sich identisches „Subjekt“. Auch diese Zeilen verkommen damit zum Zirkel, Sinn und IdentitĂ€t zu generieren sowie Setzungen zu tĂ€tigen, obwohl sie dessen Aufbrechen, konkret das Aufbrechen des „Subjekts“, zu forcieren trachten. Diese Aporie erfordert die Anstrengung des Reflektierens und Konstruierens, einhergehend mit der Bestimmung ihrer Grenzen. Damit bleibt fĂŒr den Einzelnen die Konstitution von Existenzweisen und die Erfindung von Möglichkeiten des Lebens als kĂŒnstlich werkender und als erfindender. Wir sind genötigt, Ideen und Positionen zu kreieren, nach denen sich leben lĂ€sst. Seiendes lĂ€sst sich aneignen und die Einrichtung des sozialen Zusammenlebens kann vorangetrieben werden, ohne dass man sich dabei Ă€ngstlich an ein Unmittelbares und vermeintlich Sicheres zu klammern braucht. Um dieses bewusste Machen soll es gehen in seiner WidersprĂŒchlichkeit und in der NichtprĂ€senz der Ereignishaftigkeit als das Hereinbrechen in geronnene SinnzusammenhĂ€nge. Ob sich die MĂŒhe lohnt, sei dahingestellt. Aber, wenn irgend etwas wie Menschlichkeit umrissen werden sollte, wĂ€re sie wohl am ehesten hier zu finden: In der Unmöglichkeit ihrer BegrĂŒndung wĂ€re die Möglichkeit von Menschlichkeit zu suchen, wĂ€re von ihr zu sprechen. Dabei erĂŒbrigt sich die zwanghafte Frage, wie sich denn eine kritische Gesellschaftstheorie rechtfertigen könne. Sie impliziert selbst schon den Primat eines ontologischen Denkens, d.h. eines Denkens, das sich dem BedĂŒrfnis nach Sicherheit und Ausgangspunkt unterordnet.

Verkommt nun die alte Forderung nach Kritik selbst schon zu einem Mythos und Ursprung? Weist sie nicht Abnutzungserscheinungen auf nach langer Zeit von AufklĂ€rung und Gesellschaftskritik? Ist sie blosser Ausdruck zweckoptimistischer Hoffnung auf eine freiere Welt? Vielleicht. Aber die Welt könnte wegen ihrer Unbestimmtheit anders sein. Die Unnachgiebigkeit der Theorie bleibt deshalb von Nöten und kann als Kritik der IdentitĂ€t, als Kritik des TotalitĂ€ren, Geschlossenen, Systemischen und Verabsolutierenden in die RepressivitĂ€t integrierender gesellschaftlicher Entwicklungen eingreifen. FĂŒr die QualitĂ€t des Bewirkten gibt es jedoch keine essentielle Vorentscheidung und fĂŒr dessen Gelingen keine Garantie. Eine pragmatisch-praktische Forderung und Herangehensweise bleibt aber bestimmend, ohne die Dialektik von Verbindlichkeit und Ereignishaftigkeit aufzugeben und ohne in einer auswegslosen Zwanghaftigkeit zu verharren. Theorie ist keine bloss theoretische Übung, sondern impliziert immer schon eine Verhaltensweise. Selbst an den AbgrĂŒnden soll getanzt werden – dies ist die kritische Praxis dialektischen Denkens.

Lucas Gross studierte bis Herbst 2005 Soziologie, Philosophie und VWL an der UniversitĂ€t ZĂŒrich. Zur Thematik des vorliegenden Artikels hat er seine Lizenziatsarbeit geschrieben. lgross(at)soziologie.ch

Literaturauswahl:

Adorno, Th. W. (1997): Die AktualitÀt der Philosophie. In: GS Bd. 1, Suhrkamp Verlag.
Adorno, Th. W. (1997): Zu Subjekt und Objekt. In: GS Bd. 10.2, Suhrkamp Verlag.
Foucault, M. (1997): Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Suhrkamp Verlag.
Foucault, M. (1994): Das Subjekt und die Macht. In: Dreyfus, H. L.; Rabinow, P.: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik; Beltz AthenÀum Verlag.
Marx, K. (1981): Ökonomisch-philosophische Manuskripte. MEW ErgĂ€nzungsband I; Dietz Verlag.
Nietzsche, F. (1999): Über Wahrheit und LĂŒge im aussermoralischen Sinne. Kritische Studienausgabe Bd.1.

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Foucault ĂŒber seine eigene Forschungsarbeit:

«Es handelte sich um Forschungen, die einander sehr verwandt waren, ohne indessen ein kohĂ€rentes Ensemble zu bilden oder eine KontinuitĂ€t aufzuweisen. Es waren fragmentarische Foschungen, von denen letztlich keine vollendet wurde, ja nicht einmal Folgen hatte, zugleich zerstreute und sich stĂ€ndig wiederholende Forschungsarbeiten, die in die gleichen Konzepte, die gleichen Themen, die gleichen Begriffe zurĂŒckfielen [...]. All das schleppt sich hin, geht nicht vorwĂ€rts, wiederholt sich und bidlet kein zusammenhĂ€ngendes Ganzes; im Grunde sagt es bestĂ€ndig das Gleiche, doch sagt es vielleicht auch gar nichts aus. In zwei Worten: es ist nicht schlĂŒssig» Michel Foucault (1977): Intervista a Michel Foucault (GesprĂ€ch mit Alessandro Fontana und Pasquale Pasquino vom Juni 1976), in: A. Fontana / P. Pasquino (Hg): Microfisica del Potere: Interventi plitici, Turin, S. 55f.