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soziologie.ch soz:mag#8 entfremdete menschen, verdinglichte verhÀltnisse

entfremdete menschen, verdinglichte verhÀltnisse

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Ein Streifzug durch die Geschichte eines gesellschaftskritischen Konzepts

Sinn- und Trostlosigkeit, Langeweile, Leere, Einsamkeit, zuweilen ĂŒberdeckt durch inhaltsleere Happiness oder ĂŒbertriebene GeschĂ€ftigkeit - Entfremdung ist ein grosses Thema in Film und Literatur, und sie war auch das Thema fĂŒr die diesjĂ€hrige Soziologie-Woche in Cortoi. Wie kaum ein anderer Begriff versucht derjenige der Entfremdung gesellschaftliches und subjektives Elend aufeinander zu beziehen, verkĂŒmmerte Existenzen und ihr Bewusstsein als Produkt ihrer sozialen Existenz zu begreifen. Der folgende Artikel unternimmt den Versuch, die wichtigsten Stationen der Begriffsbildung nachzuzeichnen.

SOZ-MAG Beitrag von Markus Brunner

Marx war der Erste, der den Entfremdungsbegriff als soziologische Kategorie fasste. In seinen frĂŒhen Auseinandersetzungen einerseits mit Hegel, andererseits mit den Ökonomen seiner Zeit, suchte er einen Begriff von entfremdeter Arbeit zu gewinnen. Der Mensch sei ein Mensch dadurch, dass er bewusst tĂ€tig sein kann. Er produziert nicht nur zur Befriedigung seiner unmittelbaren LebensbedĂŒrfnisse, sondern eignet sich auch darĂŒber hinaus in der praktischen und theoretischen Auseinandersetzung mit der Welt diese an. In seiner Auseinandersetzung mit der vorgefundenen Welt kann er sich entfalten und verwirklichen, neue (auch Denk-)RĂ€ume erschliessen, und schafft dabei selbst seine Umwelt, d.h. soziale VerhĂ€ltnisse, und damit auch sich selbst, die Bedingungen, unter denen sich sein Charakter formt.

Unter der Herrschaft des Privateigentums (ĂŒber Produktionsmittel, d.h. Arbeitsinstrumente, Technologien, Wissen etc.) aber, so Marx, entfremdet sich der produzierende Mensch, die ArbeiterIn, in seiner LebenstĂ€tigkeit: Erstens wird dem Produzenten das Produkt seiner Arbeit, in das er einen Teil seiner selbst, seiner FĂ€higkeiten und seiner Lebenszeit gelegt hat, entzogen. Es gehört einem Anderen, dem Lohnzahlenden, bereichert diesen. Das Produzierte, ein Teil des produzierenden Menschen, tritt diesem selbst nach getaner Arbeit als fremder Gegenstand, als auf dem Markt kĂ€ufliche Ware gegenĂŒber. Entfremdung ist aber nicht nur Resultat der Produktion, sondern zeigt sich schon in der TĂ€tigkeit selbst: Die in der Lohnarbeit ausgeĂŒbte LebenstĂ€tigkeit ist Zwangsarbeit, nicht die Befriedigung eines BedĂŒrfnisses nach Verwirklichung oder Entfaltung, sondern „nur ein Mittel, um BedĂŒrfnisse ausser ihr zu befriedigen“ (Marx 1944, S. 78). Die Arbeit ist dem Produzenten Ă€usserlich, ihr Inhalt ihm gleichgĂŒltig, er und seine Arbeitskraft werden selber zur Ware, die auf dem Markt gegen Lohn verkauft wird. Weil die gemeinsam mit anderen Menschen arbeitsteilig geleistete gesellschaftliche Arbeit nur Mittel fĂŒr das individuelle Leben ist, entfremdet die Lohnarbeit auch den Menschen von den anderen am gesellschaftlichen Arbeitsprozess beteiligten Menschen: Der unmittelbare Bezug zu anderen bleibt vermittelt ĂŒber den Markt.

Wovon entfremdet sich der Mensch aber nach Marx? Von einem „unentfremdeten“ Naturzustand, von seiner „wahren Natur“? Von solchen Idealisierungen ist sein Denken frei: Der Mensch ist ein geschichtliches Wesen, dies macht ihn erst zum Menschen. Das Potential, das im Menschen steckt, die Möglichkeit einer universellen, freien Auseinandersetzung mit der Welt, die unter der Herrschaft des Privateigentums abgeblockt wird, ist selbst ein Produkt der Geschichte, sogar ein Produkt der entfremdeten VerhĂ€ltnisse: Erst die bĂŒrgerliche Gesellschaft, in der Lohnarbeit und die Warenproduktion fĂŒr den Markt zur Norm wurden, zerschlug die beschrĂ€nkenden – aber auch Sinn stiftenden – traditionellen Banden der Menschen und setzte diese erstmals als einzelne Individuen in ein VerhĂ€ltnis zu allen anderen Menschen, nicht nur zu denen der Gemeinschaft. Wenn das einzelne Individuum in vorkapitalistischen VerhĂ€ltnissen zuweilen voller, ‚unentfremdeter’ erscheint, liegt dies daran, dass sich die FĂŒlle seiner Beziehungen, die FĂŒlle seiner BedĂŒrfnisse und Potentiale noch nicht entwickelt hatten. Erst retrospektiv kann also von der Geschichte als einer der Entfremdung gesprochen werden.

Die Überwindung der Entfremdung kann mit Marx deshalb nicht eine RĂŒckkehr zu vorkapitalistischen VerhĂ€ltnissen bedeuten, sondern nur die „positive Aufhebung des Privateigentums“, eine grundlegende VerĂ€nderung der gesellschaftlichen VerhĂ€ltnisse. Diese könnte eine vollstĂ€ndige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften auf dem erreichten Stand der ProduktivkrĂ€fte, der historisch hervorgebrachten Instrumente, des Wissens und der FĂ€higkeiten und BedĂŒrfnisse, hervorbringen.

Verdinglichende VerhÀltnisse: Der Mensch als Maschine

Georg LukĂĄcs setzte mit seinem Begriff der Verdinglichung bei der von Marx in seinen spĂ€teren Werken geleisteten Warenanalyse an: In der modernen kapitalistischen Gesellschaft, deren gesamte Produktion nach dem Tauschprinzip funktioniert, erscheinen die ĂŒber den Tausch vermittelten gesellschaftlichen VerhĂ€ltnisse als VerhĂ€ltnisse zwischen Dingen. Der gesellschaftliche Bezug aufeinander lĂ€uft ĂŒber Waren; Arbeiterin und Unternehmer, Produzentin und Konsument treten ĂŒber einen abstrakten Markt zueinander in Beziehung. Die Arbeit tritt den Menschen als etwas Objektives, sie Beherrschendes, gegenĂŒber. Objektiv weil die Produkte der Arbeit und deren Beziehungen einer unkontrollierbaren Eigengesetzlichkeit folgen, aber auch subjektiv, weil auch die eigene TĂ€tigkeit den Marktgesetzen unterworfen ist, Warencharakter besitzt. Diesem Charakter eigen ist die völlige Abstraktion von QualitĂ€ten; ĂŒber den Tauschwert werden alle und wird alles quantitativ miteinander vergleichbar: qualitativ verschiedene TĂ€tigkeiten werden als formal gleich aufgefasst, nur noch ĂŒber die Arbeitszeit erfassbar, und die Entlöhnung wird nach dieser abstrakten Zeit berechnet.

Diese im Tausch geleistete Abstraktion von Arbeit ist Teil und Ursprung des auf Kalkulierbarkeit ausgerichteten Rationalisierungsprozesses, den Max Weber in seinen Analysen des modernen Kapitalismus verzeichnet. Im Arbeitsprozess bedeutet dies eine immer stĂ€rkere Ausschaltung der qualitativen, menschlich-individuellen Eigenschaften der Arbeitenden durch Zerlegung des Arbeitsprozesses, Objektivierung des Arbeitspensums, sogar eine Objektivierung von fĂŒr die Produktion nĂŒtzlichen psychologischen Eigenschaften gegenĂŒber der Gesamtpersönlichkeit. Das arbeitende Subjekt wird so zerrissen, seine menschlichen Eigenschaften und Besonderheiten – seine Phantasie, SpontaneitĂ€t, seine BedĂŒrfnisse und Sorgen – werden, sofern sie nicht als nĂŒtzliche FĂ€higkeiten, als Dinge, die der Mensch ‚besitzt’, vermarktet werden können, zu blossen Fehlerquellen des Betriebs. Der Mensch muss sich so als Maschine in ein mechanisches System einfĂŒgen, das er unabhĂ€ngig von ihm vorfindet; seine Gesamtpersönlichkeit ist dabei einflusslose Zuschauerin. Der Mensch wird in sich selbst fragmentiert und, da die rationelle Arbeitszerlegung die Banden der „organischen“ Gemeinschaftsproduktion zerreisst, auch gegenĂŒber den anderen Menschen isoliert, ein Vereinzelter.

Wie Weber erkannte, zeigt sich derselbe, von der Entfaltung des Kapitalismus losgetretene Rationalisierungsschub auch in den SphĂ€ren des Rechts und des Staates. Soll der Warenaustausch kalkulierbar bleiben, muss dies ebenso fĂŒr die Rechtssprechung und das Verwaltungswesen gelten: Auch diese Institutionen mĂŒssen nach einer formalen Logik strukturiert sein, damit WillkĂŒr verhindert werden kann. Dies bedeutet, dass Recht und BĂŒrokratie von den konkreten, qualitativ verschiedenen EinzelfĂ€llen abstrahieren mĂŒssen, diese nur noch katalogisiert als Exemplare ihrer Gattung wahrgenommen werden können. Eine solche rein formelle, vom Inhalt abstrahierende Rechts- und Staatsordnung steht schliesslich als fixiertes, erstarrtes, unĂŒberschaubares und undurchdringliches System, als mechanisierter Apparat den Einzelereignissen des gesellschaftlichen Lebens gegenĂŒber. Von den Rechtsprechenden und BĂŒrokraten wird, wie von den sonstigen Arbeiterinnen auch, eine PassivitĂ€t und eine Abtrennung der Arbeitskraft von der Gesamtpersönlichkeit, ihre Reinigung von individuellen Eigenschaften und FĂ€higkeiten gefordert: Die bĂŒrokratische „Gewissenhaftigkeit“ und Sachlichkeit und die bedingungslose Unterordnung unter das ganze System, ohne die der arbeitsteilige Prozess nicht funktionieren könnte, werden zu einem Wert an sich im Bewusstsein der „Paragraphenreiter“ und BĂŒrokraten. Die damit ins „Ethische“ verlegte verdinglichte Bewusstseinsstruktur wird so zu einer Grundkategorie fĂŒr die ganze Gesellschaft, formelle Vernunft, Abstraktion von eigenen und fremden QualitĂ€ten, zum Paradigma des bĂŒrgerlichen Denkens.

(Re-)Produktion: Bedeutende GeschlechterverhÀltnisse

FĂŒr die ganze Gesellschaft? Eine einseitige Konzentration auf das öffentliche Leben, die politische-ökonomische SphĂ€re, an der sich die Durchrationalisierung der Gesellschaft und ihre sozialen und psychischen Folgen fĂŒr die an ihr Partizipierenden so schön aufzeigen lĂ€sst, verfehlt eine Dimension: Die der GeschlechterverhĂ€ltnisse. Die ProduktionssphĂ€re könnte ohne eine ihr entsprechende SphĂ€re, in der die benötigten ArbeitskrĂ€fte produziert und reproduziert werden, d.h. ohne den seit der Entstehung bĂŒrgerlicher Öffentlichkeit privaten Bereich der Familie und anderer Sozialisationsinstanzen, nicht bestehen. Wie Frigga Haug und andere feministische Theoretikerinnen betonen, bedingen die beiden SphĂ€ren, die Produktions- und die ReproduktionssphĂ€re, sich gegenseitig, sind nicht ohne einander zu denken.

Diese Feststellung kĂ€mpft gegen eine in vielen marxistisch orientierten Gesellschaftsanalysen sich zeigende merkwĂŒrdige Idealisierung der weniger durchrationalisierbaren ReproduktionssphĂ€re als vermeintlichen Hort unentfremdeten oder zumindest weniger entfremdeten Lebens. Die assoziative Gleichsetzung von MĂ€nnlichkeit mit Kultur und Weiblichkeit mit Natur, ein Produkt der bĂŒrgerlichen Gesellschaft, reproduziert sich hier unreflektiert im kritischen Denken. Haug betont, dass auch das GeschlechterverhĂ€ltnis als ein ProduktionsverhĂ€ltnis zu verstehen, die Trennung von Produktions- und ReproduktionssphĂ€re selbst ein Produkt von Arbeitsteilung ist. In der bĂŒrgerlichen Familie haben die MĂ€nner die VerfĂŒgungsgewalt ĂŒber die weibliche Arbeitskraft, GebĂ€rfĂ€higkeit und den sexuellen Körper der Frauen. Die nicht- oder nur teilarbeitstĂ€tige Frau steht als „‚natĂŒrliche‘ Existenzbedingung anderer“(ThĂŒrmer-Rohr) in einem (hĂ€ufig unbezahlten) ArbeitsverhĂ€ltnis, wobei sich ihre Lage sicherlich z.T. von derjenigen der am gesellschaftlichen Produktionsprozess Beteiligten unterscheidet: WĂ€hrend die Arbeit im politisch-ökonomischen Betrieb markt- und lohnvermittelt ist, zeigen sich im hĂ€uslichen Bereich persönlichere (Herrschafts-)Beziehungen. WĂ€hrend in der Öffentlichkeit der Einzelne im gemeinschaftlichen Arbeitsprozess durch die abstrakte Vermittlung vereinzelt, ist im Privaten der Bezug zum gesellschaftlichen Lebensprozess gĂ€nzlich abgeschnitten. Und wĂ€hrend auf dem Markt die Entlöhnung ĂŒber die Arbeitszeit eruiert wird, gibt es in der privaten Reproduktionsarbeit keine ArbeitszeitbeschrĂ€nkungen. Damit wird nicht nur der Körper der Frau, sondern schon im Arbeitsprozess ihr ganzes Wesen zur Ware: Ein Abkoppeln von gesellschaftlich verwertbaren Eigenschaften von der Gesamtpersönlichkeit wird schwierig, womit die ZerstĂŒckelung ihrer Persönlichkeit, ihre Entfremdung, einen spezifischen Charakter annimmt.

Konsum und Freizeit: Durchrationalisierung und Diktat der Kulturindustrie

Der Rationalisierungsprozess ergreift aber nicht nur die SphĂ€re der Produktion und unmittelbaren Reproduktion, die öffentliche und private Arbeit und die politisch-rechtlichen Institutionen. Vielmehr breitet sich die Verdinglichung des Bewusstseins als Spiegelung der verdinglichten gesellschaftlichen VerhĂ€ltnisse auf sĂ€mtliche Erscheinungsformen des Lebens aus: Auch die GegenstĂ€nde der BedĂŒrfnisbefriedigung erscheinen den Menschen nur noch als Waren, die ihren Preis haben; der Warencharakter der GebrauchsgegenstĂ€nde erscheint dem Konsumenten als ihr innerstes Wesen.

Horkheimer und Adorno zeigen in ihrer Kulturindustrie-Analyse in der Dialektik der AufklĂ€rung, wie die Durchrationalisierung der Gesellschaft den ganzen Bereich der Freizeit erfasst: Jegliche kĂŒnstlerischen und kulturellen AktivitĂ€ten werden unweigerlich vom industriellen Kulturbetrieb erfasst, der in einem rationell-arbeitsteiligen Prozess standardisierte Produkte produziert, die den Erholung Suchenden als Freizeitangebote ĂŒberschwemmen. Die Menschen erfasst sie, vermittelt ĂŒber den Markt, lediglich als Konsumenten mit Kauf- oder Angestellte mit Arbeitskraft. Auch sie folgt einer von QualitĂ€ten abstrahierenden formellen Logik: Alles muss katalogisiert, eingeordnet werden, die Inhalte sind beliebig, solange sie gekauft werden, eine Logik, der sich kein Betrieb völlig entziehen kann, will er ĂŒberleben. Was wirklich anders wĂ€re, was die Konsumentin z.B. aus ihrer kontemplativen Haltung herauslocken wĂŒrde, wird durch Einordnung und Schubladisierung entschĂ€rft oder erliegt dem ökonomischen Tod. Die psychischen Folgen der Entfremdung der Menschen werden in der Kulturindustrie reproduziert: Vorstellungskraft, SpontaneitĂ€t, Denken, Sinn verkĂŒmmern, der verwaltete Einzelne wird zum AnhĂ€ngsel des Apparats. Der vielbeklagte Verdummungsprozess durch die Medien ist aber nicht bloss diesen anzulasten: Zementiert werden von der Kulturindustrie nur die Charakterdispositionen, welche die allgemeine Industrie schon hervorbrachte. Die Entschuldigung der Industrie, dass die entfremdeten Konsumentinnen nichts anderes fordern, als ihnen vorgesetzt wird, ist nicht bloss Ideologie: Schon Marx hatte in seiner Analyse der Lohnarbeit die VerkĂŒmmerung der erst im historischen Prozess entfalteten Sinne auf den einen „Sinn des Habens“ konstatiert. Adorno und Horkheimer lasten dem Kulturbetrieb denn auch v.a. eines an: Er sei nicht einmal ein Fluchtort vor der schlechten RealitĂ€t, sondern nur der Fluchtort „vor dem letzten Gedanken an Widerstand, den jene noch ĂŒbriggelassen hat (Horkheimer/Adorno 1944, S. 153).

Die verwaltete Welt, die „eindimensionale Gesellschaft“, so Marcuse, lasse nicht einmal mehr das Mass an innerer Freiheit, an eigenstĂ€ndiger SubjektivitĂ€t ausbilden, das zur Entfremdungserfahrung ĂŒberhaupt nötig wĂ€re. Erstarrt im „glĂŒcklichen Bewusstsein“, gleiche sich die Erfahrungswelt der Menschen – so Adorno/Horkheimer – tendenziell wieder jener „der Lurche“ an (Horkheimer/Adorno 1944, S. 43). So gesehen mag das GefĂŒhl eines Unbehagens an der Gesellschaft noch Hoffnung erwecken


Dialektik der AufklÀrung: Der Mensch als Sklave der RationalitÀt

Der Kontext der „Dialektik der AufklĂ€rung“ von Horkheimer und Adorno geht jedoch ĂŒber Marx hinaus, radikalisiert seine Kritik, nimmt ihr zuweilen jedoch auch ihre historische Sprengkraft: Den Ursprung des von Marx und Weber konstatierten Rationalisierungsprozesses sehen sie am Urgrund der Menschwerdung. Das Entstehen des Subjekts in der Trennung von menschlichem Geist und Natur bezahlt dieses Subjekt mit der Entfremdung von dem, worĂŒber es Macht ausĂŒbt: Die Angst des Menschen vor der Übermacht der Natur fĂŒhrt zur praktischen und begrifflichen Unterwerfung der Natur, zur Herrschaft ĂŒber diese. Die Welt darf nur da wahrgenommen werden, wo sie vom menschlichen Geist manipulierbar ist, wo sie beherrscht werden kann, weil die blosse Vorstellung eines Unbekannten, nicht Begreifbaren, die eigentliche Quelle der Angst darstellt. Natur wird zum blossen unstrukturierten chaotischen Stoff degradiert, zu etwas QualitĂ€ts- und Sinnlosem, in das der Mensch Ordnung und Sinn legen kann. Erkenntnis, die den Gegenstand wirklich trĂ€fe, die nur durch sinnliche Erfahrung, durch EinfĂŒhlung, Sich-dem-Gegenstand-Gleichmachen, zu leisten wĂ€re, wird als mythisch tabuisiert. Dieses mimetische Moment der Erfahrung, dieses nachahmende EinfĂŒhlen, das sich noch in den hilflosen Götteranbetungen der animistischen Zauberer zeigt, wird im Rationalisierungs-Prozess immer mehr ausgemerzt. Die Trennung von Intellekt und sinnlicher Erfahrung, schliesslich deren Ersetzung durch objektivierbare Empirietechniken, lĂ€sst Denken und Sinnlichkeit gleichermassen verkĂŒmmern: Ersteres wird nur noch zum Apparat der Herrschaft, Letztere ihrer Erkenntniskraft beraubt.

Weil der Mensch immer auch Naturwesen ist, schlĂ€gt die Naturbeherrschung um in die Beherrschung ĂŒber andere Menschen und ĂŒber sich selbst. Den Herren sind die Sklaven, durch die sie ĂŒberhaupt die Distanz zum Objekt wahren können, blosse Tiere, die es genauso zu beherrschen gilt wie die eigenen TriebbedĂŒrfnisse auch. Herrschaft wird zum Prinzip aller Beziehungen. Massstab des Fortschritts ist die Erhaltung des Selbst, das aber durch den Prozess, durch den es entstand, selber wieder eliminiert wird: Es soll immer mehr von aller Natur, von allem Unberechenbaren gereinigt werden und sich unter das Primat der Beherrschbarkeit und der NĂŒtzlichkeit stellen. Es entbehrt schliesslich jeglicher individueller QualitĂ€ten, wird zum Knotenpunkt vorgegebener Reaktionsweisen.

Das Denken – wie dessen Subjekte – wird von allem, was als mythisch gilt, weil es auf QualitĂ€ten zielt, von animistischem Götterglauben ĂŒber religiöse Sinnsuche bis schliesslich zu den philosophischen Begriffen selbst, gesĂ€ubert. Schliesslich unterwirft es sich vollends der Rationalisierungslogik. Damit schafft sich das Subjekt jedoch selber ab: Vernunft, das Mittel seiner Emanzipation von der Natur, beseitigt sich selbst, regrediert zur blossen inhaltsleeren, formellen Technik, zum System. Gefangen im „stahlharten GehĂ€use“ (Weber) der RationalitĂ€t, gleicht sich der Mensch wieder dem Naturzustand an, hilflos beherrscht von zweiter Natur, d.h. den historisch entstandenen durchrationalisierten VerhĂ€ltnissen.

Was wirklich anders wĂ€re, Neues, Unbekanntes, was mit dem Bestehenden und seinen Ordnungsschemata nicht identisch wĂ€re, kann nicht mehr wahrgenommen und erkannt werden. Doch gerade die Erkenntnis der eigenen totalen Verknechtung unter die Dingwelt wĂŒrde den Menschen das Wesen des Zwangs offenbaren: Es ist das Prinzip der Herrschaft ĂŒberhaupt. Der Herrschaft gewahr zu sein und ihr zu entraten, vermöchte die verheerende Dynamik zu sprengen.

Markus Brunner ( Cette adresse email est protĂ©gĂ©e contre les robots des spammeurs, vous devez activer Javascript pour la voir. ), 26, absolvierte sein Soziologie-Grundstudium in ZĂŒrich und studiert jetzt seit 4 Jahren an der Uni Hannover die MagisterfĂ€cher Sozialpsychologie und Soziologie.

Literaturauswahl:

Marx, K. (1844): Ökonomisch-philosophische Manuskripte. In: Marx-Engels-Studienausgabe, Band 2 [StA II]. Frankfurt a.M. 1990. S. 38-128.
Lukacs, G. (1923): Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats. In: Ders.: Geschichte und Klassenbewusstsein. Neuwied/Berlin 1968.
Haug, F. (2003): Stichwort ‚GeschlechterverhĂ€ltnisse’. In: Historisch-kritisches Wörterbuch des Feminismus, Band 1. Hamburg.
ThĂŒrmer-Rohr, Ch. (1989): MittĂ€terschaft und Entdeckungslust. In: Studienschwerpunkt „Frauenforschung“ am Institut fĂŒr SozialpĂ€dagogik der TU Berlin (Hg.): MittĂ€terschaft und Entdeckungslust. Berlin, S. 138-154.
Horkheimer, M. und Adorno, T.W. (1944): Dialektik der AufklÀrung [DdA]. Frankfurt a.M. 1969.
Marcuse, H. (1964): Der eindimensionale Mensch. Darmstadt/Neuwied 1967.

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«The study of Sociology is the study of evolution in its most complex form»

Herbert Spencer (1891) in: The Study of Sociology, p.385Â