Annäherung an ein neues Phänomen der Schweizer Politik
Advocacy Think Tanks - eine relativ neue Form von Think Tanks - sind merkwürdige Organisationen. Einerseits behaupten sie, Träger wissenschaftlich verfahrender Forschung zu sein, andererseits betonen sie stets ihre Positioniertheit, ihre Verortung in einem bestimmten Weltbild und verstehen sich als Anwälte der von ihnen vertretenen Weltbilder. Nach einer kurzen Klärung des "Advocacy Think Tank"-Begriffs werden Ergebnisse der Auswertung von Materialien der drei Schweizer Advocacy Think Tanks "Avenir Suisse", "Denknetz Schweiz" und "Liberales Institut" zusammengefasst und kurz diskutiert.
SOZ-MAG Beitrag von Matthias MĂĽller
Der Begriff „Think Tank“ stammt aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges und bezeichnete ursprünglich einen abhörsicheren Ort, an welchem militärische Strategien und Taktiken ausgearbeitet werden konnten, ohne dass der Gegner davon Kenntnis bekam. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Begriff zunehmend auf zivile Forschungseinrichtungen übertragen, welche hauptsächlich sozialwissenschaftliche Forschung und Politikberatung betrieben. Das Einrichten eines Think Tanks sollte ein möglichst günstiges Umfeld zur Produktion von neuem Wissen in speziellen Themengebieten schaffen.
Bei der Durchsicht der Literatur wird allerdings schnell klar, dass der Begriff „Think Tank“ sehr unterschiedlich verwendet wird und dadurch ziemlich unbestimmt bleibt. Abgesehen vom diffusen Konsens, wonach Think Tanks einigermassen unabhängige, nicht gewinnorientierte Organisationen sind, welche sich auf die eine oder andere wissenschaftliche Weise mit Angelegenheiten von öffentlichem Interesse befassen, gibt es keine präzise, allgemein anerkannte Definition in der Literatur (Abdelson 1996: 3). Eine taugliche begriffliche Handhabe des Phänomens lässt sich aber anhand einer Typisierung gewinnen, welche der zeitlichen Entwicklung des Organisationstypus Think Tank folgt:
Die ersten – allerdings noch nicht so benannten – Think Tanks kamen in Grossbritannien und vor allem in den USA im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auf. Wohlhabende Stifter gründeten Institutionen, welche wissenschaftlich fundierte Informationen und Ratschläge für politische Entscheidungsträger zur Verfügung stellen sollten. Think Tanks, welche als unabhängige, gemeinwohlorientierte, parteipolitisch neutrale Institutionen konzipiert wurden, entstanden häufig aus der Hoffnung, dass durch besseres Wissen Kriege vermieden und die Wohlfahrt des betreffenden Landes verbessert werden könnte. Als typisches Beispiel dieser Generation ist etwa die Brookings Institution in den USA zu nennen. Sie geniesst in akademischen Kreisen grosse Anerkennung für die Qualität ihrer Forschung.
In den 50er und 60er Jahren kam eine zweite Generation von Think Tanks auf. Diese wurden meist von einer bereits bestehenden Institution gegründet, um in eng umrissenen Themenfeldern neues Wissen und Problemlösungskapazitäten zu generieren. Durch das Gründen eines Think Tanks sollten Beschränkungen überwunden werden, welche innerhalb einer anderen Institution das ergebnisoffene Forschen, Planen und Denken behindern. Prototyp dieser Kategorie war die RAND Corporation, welche vom Militär der USA den allgemeinen Auftrag erhielt, Strategien und Technologien zur Erhöhung der militärischen Schlagkraft zu entwickeln.
Advocacy Think Tanks schliesslich sind eine Erscheinung neueren Datums. Als erster Advocacy Think Tanks wird häufig die 1973 gegründete konservative Heritage Foundation bezeichnet. Think Tanks dieser Kategorie verstehen sich als Anwälte bestimmter ideologischer Positionen oder bestimmter Interessen. Die Anwaltschaft bezieht sich dabei primär auf den politischen Prozess und die öffentliche Meinungsbildung. Im Gegensatz zu reinen Lobbygruppen, welche im politischen Prozess konkrete Anliegen verfolgen und diese hauptsächlich mittels Macht durchzusetzen versuchen, liefern Advocacy Think Tanks eher die wissenschaftliche Absicherung und das weltbildliche Fundament ihrer Position. Die wissenschaftstheoretische Problematik eines solchen Projektes scheint mir darin zu liegen, dass die Ergebnisoffenheit von wissenschaftlicher Forschung nicht mehr vollumfänglich gewährleistet ist.
Advocacy Think Tanks in der Schweiz
Bei Recherchen im Internet stösst man auf überraschend viele Schweizer Organisationen, welche sich selbst als Think Tank bezeichnen oder die offensichtlich einer Tätigkeit nach-gehen, für welche die Bezeichnung Think Tank zutreffend scheint. Aus diesen schienen mir Avenir Suisse, Denknetz Schweiz und das Liberale Institut in die Kategorie der „Advocacy Think Tanks“ zu passen. Das zusammengetragene Material aus diesen drei Organisationen besteht einerseits aus Zeitungsinterviews, in welchen Mitarbeiter der betreffenden Think Tanks zu Wort kommen und andererseits aus Materialien, welche von den Websites der untersuchten Organisationen abzurufen sind.
Aufgrund des diffusen Charakters des Phänomens „Advocacy Think Tank“ entschied ich mich, mit wenig theoretischer Vorarbeit ans Material zu treten und mich bei der Entwicklung von möglichen Fragestellungen vom Material leiten zu lassen. Naheliegenderweise bewegte ich mich bei der Auswertung der Materialien methodisch zwischen objektiver Hermeneutik und grounded theory.
Leitend bei der Auswertung war die Frage, was es eigentlich mit Advocacy Think Tanks in der Schweiz auf sich hat. Insbesondere wollte ich herausfinden, welche Vorstellungen Schweizer Advocacy Think Tanks von sich selbst und ihrem Platz in der Schweizer Gesellschaft haben.
Das Aufkommen von Advocacy Think Tanks in der Schweiz ist grösstenteil jüngeren Datums: Während das Liberale Institut bereits 1979 gegründet wurde, sind die beiden anderen Institutionen kaum fünf Jahre alt. Es gibt daher ausser einigen journalistischen Beiträgen (hauptsächlich in Weltwoche und WoZ) auch kaum wissenschaftliche Literatur über Think Tanks in der Schweiz. Die eher mitte-rechts stehenden Think Tanks Avenir Suisse und das Liberale Institut scheinen sowohl organisatorisch wie auch finanziell gut etabliert zu sein. Demgegenüber operiert das links stehende Denknetz Schweiz auf einer sehr schmalen finanziellen Basis und befindet sich noch in der Aufbauphase.
Obwohl eher jung, hat sich im Jahre 2004 einiges in der Schweizer Think Tank Szene bewegt: Im Oktober 2004 fand in Zürich die erste Schweizer Think Tank Messe statt. (siehe dazu auch » http://www.swisspolicy.net) Auf Einladung der wirtschaftsnahen Avenir Suisse und des liberal-konservativen Liberalen Instituts stellte sich eine Reihe von sozialwissenschaftlich forschenden Organisationen mit grösstenteils nicht-staatlicher Trägerschaft vor. Die Spannbreite zwischen seriös wissenschaftlich forschenden Instituten und eher gesinnungsorientierten Instituten schien dabei recht gross zu sein.
Avenir Suisse
Avenir Suisse wurde 1999 von vierzehn international tätigen Schweizer Firmen nach dem Vorbild angelsächsischer Think Tanks gegründet und ist als Stiftung organisiert. Der Stiftungsrat wird von den CEOs oder Verwaltungsratspräsidenten der Gründerfirmen besetzt. Zusätzlich besteht ein wissenschaftlicher Beirat, welcher für die Qualität und Unabhängigkeit der Arbeit bürgen soll. Der Direktor ist im Rahmen der vorgegebenen Themenschwerpunkte unabhängig in der Wahl konkreter Projekte und Aktivitäten. Der Think Tank befasst sich schwerpunktmässig mit den folgenden Themen: Alternde Gesellschaft/Bildung, Forschung und Innovation/Wachstum und Produktivität/Effizienz der Institutionen. Es arbeiten rund ein Dutzend Ökonomen, Politologen, Soziologen und Kommunikationsfachleute im Think Tank.
Avenir Suisse wurde aus der politischen Frustration Schweizer Wirtschaftseliten geboren: Während der letzten zehn Jahre schlugen verschiedene Versuche fehl, die Notwendigkeit von Reformen zur Förderung des Wirtschaftswachstums in den politischen Prozess einzubringen. Ansätze der Wirtschaftseliten (beispielsweise das Weissbuch einer Autorengruppe um David de Pury) wurden in der Öffentlichkeit entweder ignoriert oder skandalisiert. Daher beschlossen einige multinationale Konzerne mit Sitz in der Schweiz, mittels der Gründung von Avenir Suisse einen neuen Ansatz zur Lösung dieser Probleme zu versuchen.
Avenir Suisse arbeitet eher empirisch und stellt seine Tätigkeit auf ein materialistisches Weltbild. Damit ist gemeint, dass die von Avenir Suisse verfassten Studien zu einem wesentlichen Teil auf der Analyse von Zahlenmaterial oder anderen „objektiven“ Indikatoren beruhen. Dabei ruht der Fokus nicht auf Meinungen und Einstellungen sondern eher auf statistischen Kennzahlen der materiellen Welt. Es wird grosser Wert auf die Öffentlichkeitsarbeit gelegt. Während der Think Tank seine wissenschaftliche Arbeitsweise und Unabhängigkeit betont, wird dies von Kritikern teilweise vehement bestritten. Es scheint glaubwürdig, dass der Think Tank weitgehend frei von direkten Interventionen der Gründerfirmen ist und in diesem Sinne durchaus als „unabhängig“ gelten darf. Doch die starke Übereinstimmung mit den Diskursen der Stiftungsfirmen erlaubt es kaum, von politischer Neutralität zu sprechen. Eher ist Avenir Suisse als ein Teil des Politikdiskurses zu betrachten, wie er in schweizerischen, multinationalen Konzernen stattfindet und von diesen in die Politik übergreift. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass Effizienzüberlegungen und Kriterien der internationalen Wettbewerbsfähigkeit den Diskurs von Avenir Suisse dominieren.
Denknetz Schweiz
Denknetz Schweiz wurde erst 2003 gegründet. Das Denknetz versteht sich als ein Forum für den Austausch zu aktuellen Themen aus Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitspolitik. Dazu will es regelmässige Tagungen durchführen, Forschung und Konzeptarbeit unterstützen sowie eine internetbasierte Drehscheibe für Vernetzung und Austausch zur Verfügung stellen. Die Trägerschaft des Denknetzes stammt aus Wissenschaft und Forschung, Gewerkschaften, politischen Bewegungen und NGOs, sowie aus kritischen Zeitschriften und Verlagen. Obwohl politisch links orientiert, scheint der Think Tank nicht unbedingt der SP nahe zu stehen. Dieser Think Tank entstand einerseits aus einem Gefühl der Unterlegenheit des linken Lagers gegenüber dem herrschenden, als neoliberal beschriebenen rechten Lager. Dieses hat es aus Sicht des Denknetzes fertig gebracht, durch die konsequente Arbeit rechtsstehender Think Tanks, vor allem in den USA, eine Vormachtstellung über den herrschenden öffentlichen Diskurs zu erarbeiten. Andererseits gibt es Hinweise darauf, dass auch die Verunsicherung der etablierten linken Positionen infolge des Auftretens neuer sozialer Bewegungen die Gründung des Denknetzes motiviert hat. Denn diese vermögen auch ansonsten unpolitische Bürger zu mobilisieren und anzusprechen. Ihre unkonventionelle Art, Politik zu betreiben und dabei die etablierten politischen Strukturen zu umgehen, scheint die etablierte Linke zu verunsichern. Doch dies ist mehr Spekulation als eine gesicherte Tatsache.
Das Denknetz soll also einerseits beim Ringen um diskursive Hegemonie in der Schweiz mitmachen. Dies soll dadurch geschehen, dass mittels Studien, Diskussionen und Konferenzen breite Zustimmung zu einer emanzipatorischen, sozialen Gesellschaftspolitik erreicht wird. Denn für das Denknetz sind Wissen und Ideen die Grundlage der Ausübung von Herrschaft. Andererseits soll das Denknetz nach Innen wirken, hin zu grösserer Geschlossenheit und Kohärenz der eigenen Position. Dadurch könnten diese Positionen den Schweizer Bürgern einfach kommuniziert werden.
Im Gegensatz zu Avenir Suisse hat das Denknetz bisher wenig öffentliche Aufmerksamkeit für seine Produkte wecken können. Insgesamt scheint es, dass das Denknetz eher nach Innen wirkt und so zur Vergemeinschaftung der etablierten Linken beiträgt.
Liberales Institut
Das Liberale Institut wurde bereits 1979 gegründet. Es ist ein privat finanzierter, marktwirtschaftlich orientierter Think Tank und lässt sich in einem rechts-liberalen und konservativen Diskurs verorten. Es gibt einen Stiftungsrat, in welchem die Mehrheit der Räte keine Parteibindung hat. Innerhalb ausgewählter Schwerpunktthemen befasst sich der Think Tank mit den grundlegenden Problemen der Zeit. Das Institut bietet eine Reihe von Dienstleistungen im Bereich Referate und Schulung, Forschung und Publikation sowie auch im Bereich der Kontaktpflege an.
Das Liberale Institut versteht sich als Teil der weltweiten, eher rechts-konservativen Think Tank Bewegung, welche darauf abzielt, als problematisch empfundene Entwicklungen im Bereich des Staates, insbesondere des Wohlfahrtsstaates, zu bekämpfen. Zudem versteht es sich als Sinnstifter in einer durch den massiven Wissenszuwachs unübersichtlich gewordenen Welt. Dabei zeichnet sich eine gewisse messia-nische Berufung im Selbstverständnis des Liberalen Institutes ab: Im “Krieg der Ideen” ist das Liberale Institut berufen, unter schwierigen Umständen für die gerechte Sache zu kämpfen.Es bezieht sich dabei häufig auf die Wissenschaft, doch im Gegensatz zu vielen Idealen von Wissenschaftlichkeit findet sich beim Liberalen Institut punkto Dogmatik eine grosse Ähnlichkeit zur Struktur religiöser Diskurse. Damit will ich sagen, dass die Art und Weise wie Glaubensinhalte gesetzt und dann begründet werden an die Struktur religiöser Diskurse erinnert. Ich habe aber keine Hinweise gefunden, dass das Liberale Institut religiöse Positionen vertritt. Dafür spricht auch, dass das Liberale Institut eher wenig konkrete empirische Forschung zu betreiben scheint, sondern sich mehr mit der Deutung derselben befasst.
Das Liberale Institut scheint sehr idealistisch in seiner Konzeption von Gesellschaft: Ähnlich wie das Denknetz geht es davon aus, dass Ideen und Weltbilder die Gesellschaft wesentlich prägen. Diese Ideen sind umkämpft. Gemäss diesem Institut besteht die Aufgabe von Think Tanks darin, im kooperativen Wettbewerb Ideen auf dem Ideenmarkt anzubieten. Dieser wird dann den besten Ideen zum Durchbruch verhelfen.
Allgemeinwohl als Ziel?
Interessant ist, dass alle drei Advocacy Think Tanks eine ziemlich starke Gemeinwohlorientierung als Basis ihrer Tätigkeit zu haben scheinen. Avenir Suisse und das Liberale Institut sehen problematische Entwicklungen im Bereich des Wohlfahrtsstaates und des Wirtschaftswachstums als Bedrohung des Schweizerischen Allgemeinwohles. Dagegen erachtet das Denknetz die wachsenden sozialen Ungleichheiten als ein Hauptproblem für die Zukunft der Schweiz. Vor diesem Hintergrund lassen sich auf einer politischen Links-Rechts-Skala das Liberale Institut und Avenir Suisse als rechts stehend, Denknetz Schweiz als links stehend verorten.
Auf einer Materialismus-Idealismus Skala lässt sich Avenir Suisse als Vertreter der materialistischen Position beschreiben: Avenir Suisse meint, dass sich Menschen in erster Linie aufgrund materieller Argumente für politische Positionen entscheiden. Herrschaft wird dadurch ausgeübt, dass politische Entscheide von einer Mehrheit im Sinne ihres Eigeninteresses nachvollzogen werden können. Dagegen meinen das Denknetz und das Liberale Institut, dass Herrschaft in erster Linie durch das „Besetzen“ von Begriffen zustande kommt. Das Ausüben von politischer Herrschaft bedeutet für diese Position, die Produktion von Wissen und Diskursen zu kontrollieren.
Avenir Suisse versucht in ihrer tagtäglichen Arbeit den Herrschaftssubjekten die Vorteile ihres Diskurses zur Generierung von Problemlösungen zu erklären. Wenn die Menschen lernen, dass innerhalb des von Avenir Suisse vertretenen Diskurses nützlichere Problemlösungen zu erwarten sind, dann sind die Subjekte eher geneigt, diesen – „besseren“ – Diskurs anzuerkennen.
Das Liberale Institut und Denknetz Schweiz scheinen hingegen direkt in das Ringen bzw. in den Kampf der Ideen einsteigen zu wollen. Dabei legen beide Organisationen ein idealistisches und eher unpraktisches Verständnis von Politik an den Tag: beide Organisationen machen – im Gegensatz zu Avenir Suisse – nicht den „Umweg“ über das Eigeninteresse der Bürger. Stattdessen soll direkt in den Kampf der Ideen eingestiegen werden. Doch scheinen die beiden Think Tanks auch nicht so genau zu wissen, wie dies konkret vonstatten gehen soll.
Während das Liberale Institut und Denknetz Schweiz ihrer Tätigkeit von der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt nachgehen, kommt Avenir Suisse von klassischen Lobbyorganisationen unter Druck: Da in der Struktur der Organisationsform „Advocacy Think Tank materialistischer Ausprägung“ die Bereiche der Politikberatung und der Lobbyarbeit auf eine wissenschaftlich scheinende Art und Weise verschmelzen, beginnen nun klassische Lobbyorganisationen diese Organisationsform zu kopieren. Denn da es im politischen Prozess eigentlich nur um wissenschaftlich abgesichert scheinende Argumente geht, anerbietet sich die Konfiguration des Advocacy Think Tank als Plattform für Lobbyarbeit. Dies trifft insbesondere deshalb zu, weil im Advocacy Think Tank im Vergleich zu streng wissenschaftlich verfahrenden Forschungsträgern weniger Restriktionen bestehen, interessenorientierte Diskurse zu produzieren.
Für diese These einer zunehmenden Verschmelzung von Lobbyarbeit und Politikberatung sprechen zwei aktuelle Beobachtungen: Flammer (2004) spricht davon, dass aufgrund der Unzufriedenheit einiger Stiftungsfirmen mit der fehlenden Anwendbarkeit der Vorschläge von Avenir Suisse Diskussionen über die Integration von Avenir Suisse in den Wirtschaftsdachverband economiesuisse geführt werden. Anscheinend wird es als Problem erkannt, dass oft gerade die konkret am politischen Prozess teilnehmenden Organisationen über zuwenig Mittel verfügen, um ihren Anliegen Geltung zu verschaffen. Ribi (2004) zeigt sich von der Teilnahme von economiesuisse an der 1. Think Tank Messe überrascht und vermutet, dass der Wirtschaftsverband dabei ist, sich zur unabhängigen Denkfabrik zu wandeln.
Think Tanks als neue Form der Herrschaftslegitimierung
Das Aufkommen von Advocacy Think Tanks in der Schweiz scheint mir ein Phänomen zu sein, welches aus dem Streben nach legitimer politischer Herrschaft resultiert. Dieses Streben nach und Sicherung von legitimer Herrschaft findet unter den Bedingungen der demokratischen Moderne statt. Damit ist gemeint, dass verschiedene politische Gruppierungen um Herrschaft konkurrieren, deren Erlangen von der Zustimmung eines ausreichend grossen Bevölkerungsteils abhängt. Diese Zustimmung seitens der Beherrschten basiert auf Wissen und ist diskursiv vermittelt.
Solche Bedingungen sind dem Aufkommen von Advocacy Think Tanks mehr als nur förderlich: Das Streben nach politischer Herrschaft verlangt nämlich nach Organisationen welche mittels „Wissenschaft“ (verstanden als dem gegenwärtig herrschenden Regime der Produktion von Wahrheit) Wissen produzieren, welches den herrschafts-legitimierenden Diskursen zugrunde liegt. Dadurch wird Wissenschaft für politische Zwecke geradezu instrumentalisiert.
In der Schweiz sind Advocacy Think Tanks weit davon entfernt, dieselbe signifikante Stellung im politischen Prozess zu haben wie in den USA. Dennoch: Advocacy Think Tanks sind tendenziell im Aufschwung begriffen und bemüht, sich der Politik und der allgemeinen Öffentlichkeit als wissenschaftlich arbeitende (Politik-)Berater zu empfehlen. Dies schwächt meiner Meinung nach die Stellung von seriös betriebener Politikberatung, deren Aufgabe oft darin liegt, unliebsame Tatsachen so lange zu problematisieren, bis ein politischer Prozess zur Problemlösung in Gang kommt. Denn prinzipiell anerbieten sich Advocacy Think Tanks für die Befriedigung des Bedürfnisses politisch aktiver Menschen nach wissenschaftlicher Fundierung ihrer bereits bestehenden Meinung und ihres Weltbildes. Dadurch wirken sie als Produzenten wissenschaftlich scheinender Legitimation für Ideologien und schwächen die Position jener Politikberater, die verständigungsorientiert einen wissenschaftsbasierten Beitrag zur politischen Problemlösung leisten wollen.
Matthias Müller studiert Volkswirtschaftslehre, Soziologie und Politik-wissenschaft an der Universität Bern. Der vorliegende Artikel ist eine Zusammenfassung seiner Fachprogrammsarbeit am soziologischen Institut der Universität Bern.
Institutionen
Avenir Suisse: http://www.avenirsuisse.ch
Denknetz Schweiz: http://www.denknetz-online.ch
Liberales Institut: http://www.libinst.ch
Think Tank Messe: http://www.swisspolicy.net
Literatur
Abdelson, Donald E. (1996): American Think-Tanks and their Role in US Foreign Policy. Macmillan Press Ltd, London, UK.
Dickson, Paul (1971): Think Tanks. Atheneum, New York.
Flammer, Dominik (2004): Nach wie vor stottert die Denkfabrik. In: Weltwoche, Ausgabe 02/04.
Hafner, Urs (2004): Ein faules Ei. In: Die Wochenzeitung, Ausgabe vom 08.04.2004, S. 1.
Ribi, Daniel (1999): Die Vordenker gehen in die Offensive: Liberale Schweizer Think-Tanks treffen sich zur 1. Ideenmesse. In: Neue ZĂĽrcher Zeitung, 29. 10. 2004.
Smith, James Allen (1991): The Idea Brokers. Think Tanks and the Rise of the New Policy Elite. The Free Press, New York.
Walpen, Bernhard (2004): Die Schweiz – Kaderschmiede des Neoliberalismus. Zur Geschichte neoliberaler Institutionen und Vordenker. In: Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik. 24. Jahrgang, 1. Halbjahr 2004, Ausgabe Nr. 46: Marktregime und Subjekt im Neoliberalismus, S. 141-151.
< Préc | Next > |
---|