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soziologie.ch soz:mag#6 "ausbildung, erfahrung und reife"

"ausbildung, erfahrung und reife"

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Eine Inspektion der Zulassungskommission fĂŒr den Zivildienst

Der Zulassungsprozess fĂŒr den schweizerischen Zivildienst sieht vor, dass jeder Gesuchsteller in einer persönlichen Anhörung den Gewissenskonflikt darlegen muss, der ihm das Leisten des MilitĂ€rdienstes verunmöglicht. Die Glaubhaftigkeit dieses Konflikts wird von einer zivilen Zulassungskommission beurteilt. Nach welchen Kriterien aber werden diese GewissensprĂŒfer ausgewĂ€hlt? Weshalb erhalten gerade sie die Kompetenz, auf das sittliche Empfinden der Dienstpflichtigen zugreifen zu dĂŒrfen? Ausgehend von der Analyse des Inserats, mit dem neue Kommissionsmitglieder gesucht werden, und nach Einsicht in die Dossiers der Bewerber macht der Autor des vorliegenden Beitrags verschiedene Typen von Kommissionsmitgliedern aus.

SOZ-MAG Beitrag von Lukas Neuhaus

Wer in der Schweiz aus GewissensgrĂŒnden keinen MilitĂ€rdienst leisten kann oder will, muss ein Gesuch um Zulassung zum Zivildienst einreichen. Mit der Abwicklung des Zulassungsprozesses ist die Vollzugsstelle fĂŒr den Zivildienst betraut, die dem Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement (EVD) zugeordnet ist. Die Zulassungskommission ist formell von der Vollzugsstelle unabhĂ€ngig, arbeitet aber in der ErfĂŒllung ihrer Aufgabe eng mit ihr zusammen.

Wer sind die amtlichen GewissensprĂŒfer?

Aus soziologischer Perspektive interessant ist der Umstand, dass der Bund als Vertreter des Gemeinwesens berechtigt ist, das Gewissen der Gesuchsteller zu durchleuchten und zu diesem Zweck Anhörungen durchzufĂŒhren. So kann die Anhörungssituation als Schnittstelle zwischen Individuum und Staat betrachtet werden, als staatlicher Zugriff auf das Intime und mithin Diffuse. Was nĂ€mlich unter dem "Gewissen" genau zu verstehen ist, darĂŒber besteht keine Einigkeit - weder in der entsprechenden Literatur noch in der Kommission selbst. Das innere Empfinden des Gesuchstellers soll wĂ€hrend der Anhörung soweit objektiviert werden, dass es diskursiv zugĂ€nglich wird. Da es sich um einen Ă€usserst diffusen und hoch sensiblen Bereich handelt - letztlich um den Zugriff des Staatswesens auf das innere sittliche Empfinden seiner Subjekte - besteht ein grosser Legitimationsbedarf bei der Besetzung der Kommission. Es stellt sich daher die Frage, was die LegitimitĂ€t eines Kommissionsmitglieds ausmacht.

Expertentum, Reife, Weisheit

Um die Arbeit der Verwaltungseinheiten theoretisch zu verorten, bietet sich ein RĂŒckgriff auf Max Weber an. Der von Weber beschriebene Herrschaftstypus der "legalen Herrschaft mit bureaukratischem Verwaltungsstab" kommt mit dem fĂŒr ihn typischen "kontinuierliche[n], regel-gebundene[n] Betrieb innerhalb einer Kompetenz" (Weber) dem hier vorliegenden Fall von Verwaltungshandeln sehr nahe. Im Unterschied zu den Angestellten der Vollzugsstelle (im Weberschen Sinne also den "Beamten") werden die Kommissionsmitglieder in ihr Amt gewĂ€hlt. Sie rĂŒcken in die NĂ€he der "Honoratioren", also der zur Herrschaft Berufenen. Gerade diese Honoratiorenherrschaft entwickelt sich - Weber zufolge - "besonders oft in der Form des Entstehens vorberatender Gremien, welche die BeschlĂŒsse der Genossen vorwegnehmen oder tatsĂ€chlich ausschalten" (Weber). Die Kommissionsarbeit steht bis zu einem gewissen Grad in der Tradition dieser Herrschaft der Honoratioren, geht es doch auch hier um Expertentum, Reife und Weisheit.

Neuhaus2004

Gesucht: fĂŒr das Amt als GewissensprĂŒfer/in...

Eine empirische Grundlage fĂŒr die Charakterisierung des idealen Kommissionsmitglieds bietet das Inserat, mit dem Mitglieder der Zulassungskommission angeworben werden. Basierend auf einer objektiv hermeneutischen Analyse des Inserates können die suggerierten Eigenschaften eines geeigneten Kommissionsmitglieds herausgeschĂ€lt werden:

Als Erstes fÀllt dem Betrachter das Logo der Verwaltung auf. Die Rahmung des ganzen Inserates ist auf den ersten Blick gegeben und aktiviert bereits die Einstellung, welche die betrachtende Person dem Staatswesen generell und dem eidgenössischen im Speziellen entgegenbringt.

Die Zeile "Mitglieder der Zulassungskommission" wird - durch Zentrierung und Fettsetzung - typografisch als Einstiegssequenz intendiert. Diese begriffliche Konstruktion ĂŒberrascht erst einmal im Kontext von Stelleninseraten, werden doch auf den einschlĂ€gigen Seiten im Stellenmarkt normalerweise nicht Mitglieder, sondern Mitarbeitende gesucht. Das Inserat besitzt einen Appellcharakter, da zunĂ€chst nicht klar ist, worum es sich bei der TĂ€tigkeit der Kommission handelt und daher die Termini "Mitgliedschaft" und "Kommission" im Rahmen der obrigkeitlichen Ansprache auf Ehrenamtlichkeit verweisen könnten.

Der links fett gesetzte Titel "Zivildienst" lĂ€sst als Überschrift eine Definition erwarten, er wirkt im typografischen Kontext lexikonhaft. Der symmetrisch komplementĂ€re Titel rechts ("Bewerbung") irritiert die Erwartung einer weiteren Definition, da vernĂŒnftigerweise nicht anzunehmen ist, die rechte Spalte wĂŒrde nun eine begriffliche Definition einer Bewerbung liefern. Die Symmetrie ist also rein gestalterischer und nicht inhaltlicher Natur. Erst mit dem Titel "Bewerbung" jedoch wird klar, dass es sich beim Inserat auch wirklich um ein Stelleninserat handelt und nicht um einen Aufruf.

...eine unabhĂ€ngige Persönlichkeit mit Schweizer BĂŒrgerrecht

Bei genauerer Hinwendung zum Text erfĂ€hrt man nun, dass das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement "Persönlichkeiten mit SchweizerbĂŒrgerrecht" sucht. Eine "Persönlichkeit" lĂ€sst sich kaum mit harten Kriterien fassen, vieles hĂ€ngt bei der Zuschreibung dieses Status von symbolischem Kapital ab. Es handelt sich daher auch nicht um eine rein subjektive Kategorie, welche ausschliesslich aufgrund von SelbsteinschĂ€tzungen zustande kĂ€me. FĂŒr den Status der Persönlichkeit existieren durchaus gĂ€ngige Ă€usserlich feststellbare Indizien, wobei jedoch ein grosser Spielraum besteht. Die zweite Bedingung, welche die gesuchte Persönlichkeit erfĂŒllen muss, ist dagegen eine objektiv beweisbare und "harte": das SchweizerbĂŒrgerrecht.

Der unter der zentralen Zeile platzierte Zwischentitel "Ihr Profil" lĂ€sst eine Spezifizierung der Anforderungen erwarten. Mediumstypisch ist hier der undistanzierte Sprachgebrauch: Anstatt ein "gewĂŒnschtes Profil" zu prĂ€sentieren, suggeriert die Wendung "Ihr Profil", die lesende Person sei bereits ein solches Mitglied. Dieser Sprachgebrauch wird in der Folge weitergefĂŒhrt. Die Genauigkeit der Spezifizierungen "Ausbildung", "Erfahrung" und "Reife" nehmen in der genannten Reihenfolge ab. WĂ€hrend der Grad und die Richtung der Ausbildung noch beleg- und daher greifbar sind und die Erfahrung aus der Dauer einer spezifischen TĂ€tigkeit zumindest erahnt werden kann, verweigert sich die "Reife" diesbezĂŒglich jeglichem Zugriff. Sie kann nur behauptet werden. Da keines der drei Selektionskriterien inhaltlich spezifiziert wird, also weder beispielsweise eine technische Ausbildung noch eine langjĂ€hrige berufliche Erfahrung und noch nicht einmal hohe Reife ausdrĂŒcklich verlangt wird, fallen die Kriterien völlig der interpretativen Leistung der lesenden Person anheim (und dasselbe kann von der Wendung "ausgeprĂ€gte kommunikative FĂ€higkeiten" gesagt werden).

Das "zielorientiert[e]" FĂŒhren der GesprĂ€che legt den Schluss nahe, dass ein GesprĂ€chsziel besteht und dass dieses Ziel erreicht werden kann und sogar erreicht werden muss. Und "zuzuhören" bedingt zwar passives Tun, die Betonung liegt jedoch ausdrĂŒcklich auf der AktivitĂ€t dieses passiven Tuns, wenn im Inserat von "aktivem Zuhören" die Rede ist. Die Forderung, sich nicht "von Vorurteilen leiten zu lassen", rundet den Katalog der erwarteten Virtuoseneigenschaften ab und komplettiert den etwas hilflos formulierten und hoch redundanten ersten Satz des Profils.

"Sie vertreten in Ihrer Arbeit als Kommissionsmitglied keine ideologischen Ziele und keine Interessen" klingt wiederum im genretypischen Sprachgebrauch plausibel. In diesem Satz wird zum ersten Mal explizit von Arbeit gesprochen. Bisher war im Grunde unklar, worum es beim Inserat eigentlich geht. Der zweite Teil des Satzes lĂ€sst vermuten, dass es sich bei der Arbeit um eine TĂ€tigkeit handeln wird, bei welcher diffus und mystifizierend angesprochene "bestimmte Kreise" ein Wort mitreden könnten bzw. möchten, man sich aber hĂŒte, dem Einfluss dieser Kreise zu erliegen. "Bestimmte Kreise" sind im tĂ€glichen Sprachgebrauch ja stets verschwörerisch, ĂŒbelgesinnt oder gar böswillig-subversiv.

Zur "Aufgabe" gehört die Verantwortung "fĂŒr die GesprĂ€chsfĂŒhrung". Der Ausdruck "GesprĂ€ch" mit seiner Konnotation als Dialog zwischen gleichberechtigten GesprĂ€chspartnern wird ausserdem massiv relativiert durch den kurz darauf fĂŒr die offenbar selbe Situation verwendeten Begriff der "Anhörung". Bei einer Anhörung handelt es sich ja ĂŒblicherweise um eine durch ein hohes MachtgefĂ€lle geprĂ€gte Kommunikationssituation.

Aufschlussreich ist die "Hinterfragung des Gewissenskonfliktes". Eine Hinterfragung wird gemeinhin erst dann notwendig, wenn begrĂŒndeter Anlass zu Misstrauen besteht. Nicht von ungefĂ€hr wird vom kĂŒnftigen Kommissionsmitglied also nicht Interesse oder gar Neugier am Gewissenskonflikt des Gesuchstellers erwartet, sondern die Hinterfragung dieses Konfliktes. Das Satzglied "zur" lĂŒftet darĂŒber hinaus das Geheimnis um das "Ziel" des GesprĂ€chs. Die oben verlangte Zielorientierung bezieht sich letztlich auf die Hinterfragung des Gewissenskonfliktes.

Der folgende Satz ("[i]m Anschluss an die individuellen Anhörungen tragen Sie zur Entscheidungsfindung [...] bei") lĂ€sst vermuten, dass es ein klar geregeltes Verfahren gibt. Der Begriff "Entscheidungsfindung" impliziert, dass es keine rein technische Lösung des Problems geben kann, sondern dass es sich um einen Entscheid handelt, der erst einmal gefunden werden muss. Die Wendung "formulieren sowie begrĂŒnden" verweist darauf, dass fĂŒr die TĂ€tigkeit in der Kommission ein WillkĂŒrverbot herrscht, weil die gefundenen Entscheide auch einer argumentativen Legitimation bedĂŒrfen.

Der Idealbewerber

Das Inserat ist durchtrÀnkt von AllgemeinplÀtzen und sprachlich ungenauen, weil inhaltlich diffusen Formulierungen. Es fÀllt aber genau dadurch im Kontext von Stelleninseraten nicht weiter auf und passt sich diesen weitgehend an. Mit dem interpretierten Inserat kann nun auf die ideale Bewerberin und den idealen Bewerber geschlossen werden.

Personen, die sich unter die Kategorie "Persönlichkeit" subsumieren, deuten ihren eigenen Status als in gewisser Hinsicht distinkt. Da der Terminus jedoch (insbesondere auf den einschlĂ€gigen Stellenseiten) inflationĂ€r verwendet wird und fĂŒr viele lediglich zu einem Synonym fĂŒr die schlichte Person geworden ist, lĂ€sst eine allfĂ€llige Bewerbung noch nicht automatisch auf ein bewusstes BedĂŒrfnis zur Distinktion oder eine aktive Selbstwahrnehmung als Persönlichkeit schliessen.

FĂŒr eine allfĂ€llige Bewerbung ist es zentral, dass man sich zum Staat und dessen Institutionen bekennt. Hinweise darauf sind schon durch die formale Aufmachung des Inserates gegeben. Der Sprachgebrauch macht das potenzielle Kommissionsmitglied zu einem ausfĂŒhrenden Organ der Behörden (z. B. "versetzen Sie in die Lage"). Das explizite oder implizite EinverstĂ€ndnis mit der gesetzlichen Regelung der Zulassungspraxis wird erwartet und vorausgesetzt. Offensichtlich wurde es trotzdem fĂŒr notwendig erachtet, die Lesenden in der linken Spalte ĂŒber das Wesen des Zivildienstes aufzuklĂ€ren. Im Alltag wird dieser zwar oft noch mit dem Zivilschutz verwechselt, allfĂ€lligen Mitgliedern der Zulassungskommission sollte der Unterschied jedoch bekannt sein, weil man von ihnen erwarten dĂŒrfte, dass sie sich gerade durch ihre "Ausbildung, Erfahrung und Reife" vom profanen Alltagsmenschen abgrenzen. Gebrochen wird das Bekenntnis zum Staat einzig durch die Autonomie suggerierende Wendung, es handle sich bei der Kommission um eine "verwaltungsexterne". Es wird ausserdem eine TĂ€tigkeit "im Dienste der Sache" beschrieben, was sich durch die NĂ€he der Formulierungen am Ehrenamtlichkeitsjargon zeigt ("Mitglied", "Kommission", "Reife", "VerfĂŒgbarkeit"). Wer sich bewirbt, fĂŒhlt sich idealerweise dazu berufen.

Zusammenfassend können folgende Charakteristika des idealen Bewerbers und der idealen Bewerberin genannt werden. Es handelt sich um (1) sich als distinkt wahrnehmende und also statusbewusste, (2) sich fĂŒr die Prozedur der Zulassung interessierende und also staatsbewusste, (3) ideell dazu berufene, (4) sich als ideologisch unabhĂ€ngig wahrnehmende und (5) zeitlich unabhĂ€ngige Personen.

Typologie der Kommissionsmitglieder

Zum Untersuchungszeitpunkt anfangs 2004 bestand die Zulassungskommission des Zivildienstes aus 116 Personen. Der Frauenanteil lag bei lediglich rund 30%. Auch sind die jĂŒngeren Kommissionsmitglieder im Vergleich zu den Ă€lteren deutlich untervertreten. Obwohl zwar bezĂŒglich Alter laut Verordnung Ausgewogenheit gewĂ€hrleistet sein sollte, besteht gleichzeitig der (offensichtlich konkurrierende) Grundsatz, dass besonders Persönlichkeiten, "aufgrund ihrer Ausbildung, Erfahrung und Reife" die Aufgaben eines Kommissionsmitgliedes erfĂŒllen können.

Die Mitglieder der Zulassungskommission verfĂŒgen ĂŒber ein ausgesprochen hohes Bildungskapital. Fast 80% können einen Hochschulabschluss vorweisen, weitere 17% geben als höchsten Abschluss immerhin noch eine Mittelschule an. Im Vergleich zum gesamtschweizerischen Durchschnitt sind die technischen bzw. die gleichrangigen nichttechnischen Berufe und vor allen Dingen die kaufmĂ€nnischen und handwerklichen Berufe deutlich untervertreten.

Durch die Anwendung von qualitativen Methoden der Kategorienbildung konnten verschiedene idealtypische Kommissionsmitglieder konstruiert werden.

"Karrieristen auf der Suche"

Die FĂ€lle der statistisch dominanten Kategorie konnten zum Typus des "Karrieristen-auf-der-Suche" zusammengefasst werden. Beide exemplarisch ausgewĂ€hlten FĂ€lle sind langjĂ€hrige Mitarbeiter in einem grossen Unternehmen bzw. in einer kommunalen Verwaltung. Innerhalb dieser Institutionen haben sie mehrfach die Position gewechselt und eine Karriere im klassischen Sinn durchlaufen. Mit rund 45 Jahren haben sie sich fĂŒr die TĂ€tigkeit in der Zulassungskommission beworben. Die Vermutung liegt nahe, dass beide nach jahrzehntelanger relativ stabiler beruflicher TĂ€tigkeit eine Herausforderung suchen, welche ausserhalb dieses Berufsfeldes angesiedelt ist. Sie sind berufsbiografisch arriviert und in ihren jeweiligen Betrieben in genĂŒgend gefestigter Stellung, um sich "mindestens 15 Arbeitstage pro Jahr" anderweitig betĂ€tigen zu können. Beide Bewerber zeichnen sich aus durch den Willen zur Ehrenamtlichkeit und durch die SelbsteinschĂ€tzung als Persönlichkeit, "welche die geforderten QualitĂ€ten aufweist". Beide sind bereit, sich in den Dienst einer höheren Aufgabe zu stellen. Die wichtigste Motivation ist die Suche nach einer neuen Herausforderung. Ihr Interesse gilt zu einem nicht unwesentlichen Grad dem Verfahren; zudem reizt es sie, in einer Kommission mitzuarbeiten.

"BerufsmĂ€ssige und vermittelte MĂŒtter"

Zwei weitere Typen werden ausgehend von den beiden zum ersten Typus maximal kontrastierenden FĂ€llen gebildet. Beide zur Illustration der berufsmĂ€ssigen Mutter herbeigezogenen FĂ€lle können als mehr oder weniger typische Vertreterinnen einer Frauenrolle angesehen werden, in welcher der Frau eine fĂŒrsorgerische und nicht zuletzt pflegende Funktion zugewiesen wird. Zur selben Kategorie geschlagen werden können jedoch auch mĂ€nnliche Kommissionsmitglieder in sozialpĂ€dagogischen und pflegerischen Berufen. Auch diese sind berufsmĂ€ssige MĂŒtter im hier vorliegenden Sinn. Wie im umgekehrten Fall der Karrieristen-auf-der-Suche gilt aber auch hier, dass ein "typisches" Geschlecht existiert. Im vorliegenden Fall der MĂŒtter sind es nun die Frauen.

Im Gegensatz zum Typus "berufsmĂ€ssige Mutter" existiert auch eine Kategorie von Frauen ohne fĂŒrsorgerische Ausbildung, die jedoch nicht zu den Karrieristinnen gezĂ€hlt werden können, weil sich ihre beruflichen Biografien von den mĂ€nnlich geprĂ€gten Normalkarrieren unterscheiden. Da in der Normalbiografie von Frauen die Konfrontation mit den Fragen der Landesverteidigung nicht zwingend erfolgt und die Karriere fĂŒr die Bewerbung nicht ausschlaggebend zu sein schien, muss die ErklĂ€rung der Motivation an anderer Stelle gesucht werden. Ohne den unterstellten Sohn im kritischen Alter wĂ€re die vermittelte Mutter nun mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht mit dem Problemkomplex MilitĂ€r- bzw. Zivildienst in BerĂŒhrung gekommen. Die grosse Zahl von MĂŒttern unter den Kommissionsmitgliedern vermag die Vermutung zu stĂŒtzen, dass das Interesse am Zivildienst durch eine mĂ€nnliche Bezugsperson - hier durch einen Sohn - vermittelt ist. Im Unterschied zu den MĂ€nnern in der Kommission nimmt die Auseinandersetzung mit dem MilitĂ€rdienst in der Normalbiografie von Frauen keinen zentralen Stellenwert ein. Im Extremfall erlebt die Mutter die einsetzende MilitĂ€rdienstpflicht des Sohnes als Transgression des Staatswesens in das innere GefĂŒge der Familie.

"Kommissionsmitglieder-trotz-allem"

Die ausgewĂ€hlten "Kommissionsmitglieder-trotz-allem" stellen einmalige Beispiele dar, weil sie in einer jeweils spezifischen Kategorie eine erklĂ€rungsbedĂŒrftige AusprĂ€gung aufweisen. Unterscheiden lassen sich bei den Kommissionsmitgliedern-trotz-allem die Untergruppen "FeigenblĂ€tter" (fĂŒr einzelne VertreterInnen einer Kategorie, die sonst nicht vertreten wĂ€re), "Experten" (fĂŒr Kommissionsmitglieder, welche ein offensichtliches Manko durch ihren Expertenstatus wettzumachen vermögen) und "Virtuosen" (fĂŒr Personen, deren Mitgliedschaft einer Kommission gut ansteht).

Synthese

Ordnet man die durch die objektiv hermeneutische Interpretation des Inserates gewonnenen Kriterien den skizzierten FĂ€llen zu, lĂ€sst sich folgendes Bild zeichnen: Bei den "Karrieristen auf der Suche" dominiert idealtypisch die Orientierung am Statusbewusstsein und das Interesse an der Teilnahme am Prozess der Zulassung, was mit einiger Vorsicht auch als Dominanz des "Staats"bewusstseins gedeutet werden kann. Die berufsmĂ€ssigen MĂŒtter bzw. SozialpĂ€dagogen dĂŒrften idealistische Motive der Berufung in den Vordergrund stellen. An dieser Stelle kann zwischen den beiden Typen von "MĂŒttern" - berufsmĂ€ssigen und vermittelten - eine leichte Differenzierung eingefĂŒhrt werden: Die beruflich als MĂŒtter TĂ€tigen dĂŒrften stĂ€rker an der Berufung orientiert sein als die via Einfluss von Drittpersonen interessierten Kommissionsmitglieder. Jene geben wiederum dem Prozess und ihrem eigenen Status eine höhere Bedeutung.

FĂŒr die "Kommissionsmitglieder-trotz-allem" lĂ€sst sich keine generell dominierende Orientierung feststellen, da sie selbst nicht einen Typus im eigentlichen Sinne darstellen. Es ist plausibel, dass in allen drei ĂŒbrigen AusprĂ€gungen FeigenblĂ€tter, Experten und Virtuosen vorkommen.

Offene Frage: wer sorgt fĂŒr Kompetenz?

Die TĂ€tigkeit der Zulassungskommission verlangt ein hohes Mass an unverschriftetem und implizitem Regelwissen. Dieses Wissen kann nur bedingt vermittelt werden. Die bei der Schulung der Kommission herbeigezogenen Experten fĂŒr Ethik und Philosophie sind sicherlich Ausdruck einer diesbezĂŒglichen Absicht. Die hoch sensible TĂ€tigkeit der Zulassungskommission entzieht sich indes dem Unterfangen, in objektiv messbare QualitĂ€tskriterien geformt zu werden. Als Indizien fĂŒr eine gute QualitĂ€t werden bisher lediglich die relative Problemlosigkeit der Praxis und die sinkenden Kosten pro Zulassung angefĂŒhrt. Dass sich das Wirken der Zulassungskommission in diesen Daten nicht erschöpft, dĂŒrfte auf der Hand liegen. Es ist aber ebenso klar, dass es im Rahmen der geltenden gesetzlichen Grundlagen, also so lange die allgemeine Wehrdienstpflicht den Zivildienst explizit nur als Ausnahme vorsieht, kaum eine ernsthafte Alternative zur heutigen Praxis der Zulassungskommission geben kann. Mit diesem schalen GefĂŒhl mĂŒssen Zivildienstwillige zwangslĂ€ufig weiterhin leben.

Lukas Neuhaus studiert Soziologie in Bern. Der vorliegende Beitrag basiert auf seiner Fachprogrammarbeit "Ausbildung, Erfahrung und Reife. Ein Portrait der Zulassungskommission fĂŒr den schweizerischen Zivildienst".

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«Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.»

Karl Marx und Friedrich Engels (1990): Werke . Berlin: Dietz. Bd. 13, S. 8-9.