Der Mensch ist Natur und Nicht-Natur zugleich. Er ist sozusagen von Natur aus Nicht-Natur, ein gesellschaftliches Wesen, und ausserhalb von Gesellschaft nicht zu denken. Erst durch sie wird er zu dem, was er ist. Das Verhältnis von Natur, Individuum und Gesellschaft stellt ein Kernthema der Soziologie dar. Auch wir haben uns in der diesjährigen Soziologie-Woche in Cortoi mit diesem Thema auseinandergesetzt und zwar anhand von Texten der Kritischen Theorie. Erörtert wird in den von uns bearbeiteten Texten in erster Linie, in welchem Verhältnis Individuum und Gesellschaft und ihre jeweiligen kritischen Theorien, die Marxsche Gesellschaftstheorie und die Freudsche Psychoanalyse, zueinander stehen. Ich werde in diesem Artikel dieser Frage nochmals nachgehen und versuchen, den Menschen als gesellschaftliches Naturwesen näher zu bestimmen.
SOZ-MAG Beitrag von Markus Brunner
Kritik der Pseudonatur I: Freud
Freuds grosse Leistung war es zunächst, weit verbreitete körperliche Leiden ohne organischen Befund als "soziale Leiden" zu dechiffrieren. Mit seiner Psychoanalyse entwickelte er ein Instrument, um das, was von den Menschen als naturbedingt verkannt wurde, als gesellschaftlich geformte Pseudonatur zu enttarnen. Freud erkannte, wie der Mensch seinen Charakter, seine "Natur", lebensgeschichtlich erwirbt, wie im Sozialisationsprozess seine erste Natur, seine "Anlagen" (Freud), einer Modifizierung unterliegt und nur als geformte Natur überhaupt sichtbar wird.
Innere somatische Reize im Menschen streben nach Entladung von Spannung im Körper. Diese Reize werden von der Psyche aufgenommen und erhalten eine psychische Vertretung: Sie werden zum "Trieb". In ihm verbindet sich so Körperliches mit Geistigem, er ist also nicht, wie oftmals falsch verstanden, eine lediglich körperliche Kraft, sondern ein "Grenzbegriff zwischen psychologischer und biologischer Auffassung" (Freud, GW VIII, 410f). Die nach Abfuhr, nach "aussen", drängenden Triebe folgen stets den lebensgeschichtlich erworbenen Abfuhrbahnen der "Triebschicksale", d.h. sie streben früher schon einmal erlebte Befriedigungssituationen an. Der Gegenstand der Psychoanalyse ist folgerichtig weder der körperliche Reiz noch der Trieb an sich, der nur eine "mythologische Konstruktion" (Freud) darstellt und als solcher nicht zu erkennen ist, sondern die Triebschicksale. Erst wenn sich der Trieb mit einem bestimmten Ziel auf ein Objekt gerichtet hat, tritt er für uns in Erscheinung, wird er für uns wahrnehmbar. Natur und Kultur sind dabei nicht zu trennen, die Natur ist immer erst als lebensgeschichtlich, damit kulturell modifizierte, als zweite Natur, erkennbar.
Was Freuds Theorie so unbehaglich macht, ist, wie er selbst erkannte, die Kränkung der Menschen durch den Nachweis, "dass das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Hause" (GW XII, 11). Das "Ich" ist nichts Ursprüngliches, es entwickelt sich erst im Sozialisationsprozess, stellt eine Ausdifferenzierung eines Ursprünglicheren, des "Es", dar. Auch Freuds Instanzen Ich, Es und Über-Ich sind mythologische Konstruktionen. Sie sind nicht körperlich festzumachen, bieten aber die Möglichkeit, psychische Dynamiken bildlich begreifbar zu machen. Das unbewusste "Es" bildet zunächst den Triebpol, d.h. richtiger: in ihm finden die somatischen Reize ihre Vertretung, ihre psychische Repräsentanz. Im Kontakt zur Aussenwelt - und der findet auch schon vor der Geburt statt - bildet sich aus diesem Es allmählich eine Instanz heraus, die für die Wahrnehmung der Aussenwelt verantwortlich ist: das "Ich". Es versucht zu vermitteln zwischen dem Es, das nach Lustbefriedigung strebt, und der Aussenwelt, die diese Befriedigung nicht oder nicht unmittelbar gewähren kann oder will. Aus Angst vor physischer Gewalt bei Nichtbeachtung werden die Gebote und Verbote der Aussenwelt im Über-Ich verinnerlicht, damit unbewusst gemacht. Das Ich ist somit stets eingeklemmt zwischen den Triebansprüchen und moralischen Forderungen und versucht vergebens beide, Es und Über-Ich, zufrieden zu stellen. Nicht genehme Triebregungen werden unbewusst verdrängt, landen im Es, womit sie aber nicht ihre Kraft verlieren, sondern ständig nach Befriedigung streben und somit das Ich noch mehr bedrängen. Kann das Ich nicht mehr standhalten, ist es zu schwach, kommt es durch realitätsgerechte Verleugnung der Triebe (Neurose) oder durch triebgerechte Verleugnung der Realität (Psychose) zu psychischen Erkrankungen. Das Ich, die einzige bewusstseinsfähige Instanz, ist somit alles Andere als "Herr im Hause", es verkümmert aufgrund des fortwährenden Widerstreits zwischen Natur und Kultur.
Kritik der Pseudonatur II: Marx
Freuds Theorie ist das Produkt jahrzehntelanger Erfahrung aus seiner klinischen Tätigkeit als Arzt und Analytiker. Unter welchen gesellschaftlichen und historischen Bedingungen Freud diese Erfahrung sammelt, reflektiert er selbst nur spärlich. Für ihn stellen seine Erkenntnisse allgemeine Erkenntnisse über den Menschen an sich dar, er erkennt nicht dass, was er "Kultur" oder "Umwelt" nennt, mit spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen zusammenhängt. So verkennt er seine als spezifisch historisch zu enttarnende Psychologie als eine allgemeine.
Freuds Untersuchungsobjekt ist das Bürgertum in der Phase des Übergangs der "freien Marktwirtschaft" zum Monopolkapitalismus, seine PatientInnen sind Produkte des Zerfalls der bürgerlichen Gesellschaft in der Zeit um die vorletzte Jahrhundertwende.
Schon rund 50 Jahre vor Freud hatte es jemand gewagt, einerseits vermeintliche Natur als Pseudonatur zu enthüllen und andererseits das Bürgertum in seinem Selbstbestimmungswillen zu kränken: Marx erkannte, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse "hinter dem Rücken der Menschen", aber durch sie vermittelt ständig selbst reproduzieren. Diese Verhältnisse sind zwar von Menschen geschaffen, aber nicht in vernünftiger Weise geplant oder beherrscht. Das Bürgertum befreite sich in der bürgerlichen Revolution von den Fesseln vorkapitalistischer Verhältnisse und errichtete so die Grundlage für den "freien Markt", auf dem der Unternehmer relativ autonom über seine Produktion entscheiden kann und die Arbeitenden in doppelter Weise "frei" sind: Erstens gehören sie sich selbst, sprich: sie sind keine Leibeigenen mehr, wie auch die persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse zu Vorgesetzten nicht mehr existieren. Zweitens sind die Arbeitenden aber auch frei von Kapital, d.h. sie sind gezwungen, auf dem Arbeitsmarkt ihre Arbeitskraft, sich selbst, zu verkaufen. Dies sind die unabdingbaren Grundbedingungen für eine kapitalistische Produktionsweise.
Der Wert jeder Ware, zeigte Marx, entspricht dem Wert der für ihre Produktion notwenig geleisteten menschlichen Arbeit, die als einzige wertschöpfend ist. Der Unternehmer bezahlt nur den Wert der Ware Arbeitskraft, d.h. den Betrag, der für ihre Produktion und Reproduktion notwendig ist, während die von dieser Arbeitskraft geleistete Arbeit diesen, ihren eigenen Wert übersteigt. Indem der Unternehmer damit nicht die ganze geleistete Arbeit bezahlt, eignet er sich den von den Arbeitenden geschaffenen Mehrwert an.
Die gesellschaftlichen (Herrschafts-)Verhältnisse sind also keine natürlichen, sondern historisch entstandene. Jedoch haben sie sich den Menschen gegenüber verselbständigt, diese sind nicht Herr über ihre eigenen Verhältnisse, sondern die Verhältnisse sind Herr geworden über die Menschen. Die Produzierenden werden zu Produkten ihrer eigenen Produkte. Der Markt als abstrakte Autorität, die das Leben der Einzelnen wie das der Gesellschaft bestimmt, führt ein Eigenleben, steht den Menschen als nicht zu steuernde Kraft gegenüber und erscheint ihnen so als Natur.
Wie sehr sich dieses Bewusstsein in den Köpfen auch der SoziologInnen festgemacht hat, zeigt die Vorherrschaft der positivistischen Richtungen im wissenschaftlichen Diskurs. Ihre Orientierung an naturwissenschaftlicher Methodik ist insofern begründet und gerechtfertigt, als dass die gesellschaftlichen Verhältnisse den Menschen wirklich als eine von ihnen entfremdete, verdinglichte Naturmacht gegenüberstehen, denn "die gesellschaftlich wirksamen Kräfte wirken ganz wie Naturmächte: blindlings, gewaltsam, zerstörend, solange wir sie nicht erkennen und nicht mit ihnen rechnen." (Engels, MEW 20, 260). Ideologisch, herrschaftsstabilisierend sind die positivistischen Richtungen aber deshalb, weil sie ihren Gegenstand, die Gesellschaft, nicht als historische, gesellschaftlich geschaffene und damit auch veränderbare erkennen, sondern die verdinglichten Verhältnisse als natürliche nehmen.
Freuds Individuum
Was Freud als Gegenstand seiner Forschung antrifft, ist nicht der Mensch an sich, sondern ein in spezifisch kapitalistischen Verhältnissen geformter Mensch. Die Umwelt, in der Freuds PatientInnen ihre Charakterstrukturen bzw. ihre Neurosen und Psychosen entwickeln, die bürgerliche Kleinfamilie, ist in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft entstanden und auch hier nur für eine kleine Schicht der Menschen Wirklichkeit gewesen. Diese Familienkonstellation, die Triade Vater, Mutter und Kind, erscheint Freud jedoch als naturgegeben und ahistorisch. Dadurch wird auch bei ihm Natur, was er eigentlich als Pseudonatur entblösste: Die Verhältnisse, die den Menschen in seiner Kindheit formen, sind für Freud selbst naturgegeben, womit das Gesellschaftliche wieder aus der Theorie fällt. Er verfällt dem Spuk der verdinglichten Gesellschaft.
Das Individuum selbst ist ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft, in ihr findet es seinen Begriff und seine Voraussetzungen. Die sich entfaltende bürgerlich-kapitalistische Produktionsweise ist die erste, die die einzelnen Menschen aus ihrem Eingebundensein in Familien- und Stammeskollektive herauslöst. Erst auf diesem Fundament kann die Idee des selbstbestimmten Individuums entstehen und im Privateigentum findet es seine Voraussetzung: Das nicht mehr an Gemeineigentum gekoppelte Privateigentum erst ermöglicht es dem (bürgerlichen, mit Kapital ausgestatteten) Menschen, selbstbestimmt, d.h. zum Individuum zu werden. Der freie Austausch schafft die "vereinzelten Einzelnen" (Marx), die persönlichen Abhängigkeiten von anderen Menschen werden durch die "sachliche Abhängigkeit" von den Lebensmitteln ersetzt, die nur über den abstrakten Markt zu erhalten sind, durch den sich die Herrschaftsverhältnisse ständig erneuern.
Freud trifft nun auf dieses Individuum schon in seinem Zerfallsprozess. Die fortlaufende Konzentration von Kapital, die Monopolbildung Ende des 19. Jahrhunderts, entzieht den meisten Individuen ihre Existenzgrundlage, die sie im freien Kapital fanden. Die Zeit der Selbstbestimmung und damit des Individuums mit starkem Ich, das die Vermittlung zwischen Triebansprüchen (im Es) und gesellschaftlichen Anforderungen (verinnerlicht im Über-Ich) noch zustande brachte, ist vorbei. Das schwache, eingeklemmte, immer wieder überforderte Ich ist das Produkt des Zerfallsprozesses der liberalistischen bürgerlichen Gesellschaft, wie auch das starke Ich schon ein historisches Produkt, nichts Ursprüngliches war.
Freuds Entwicklungspsychologie, d.h. seine aus seinen Studien an psychisch Erkrankten gewonnenen Erkenntnisse über den "normalen", "gesunden" Entwicklungsverlauf, seine Ich-Psychologie, seine Sexualtheorie wie auch seine Metapsychologie mit den Kontrahenten Lebens-/ Sexualtrieb versus Todestrieb, all dies muss auf seine historischen Bedingungen überprüft werden, will man das Verhältnis von Natur und Gesellschaft im Menschen bzw. im spezifisch-historisch entstandenen modernen Individuum genauer erörtern.
Die Freudsche Linke
Schon früh gab es in der Psychoanalytischen Vereinigung um Freud herum Analytiker, namentlich v.a. Fenichel, Reich und Fromm, die Kritik an gewissen Verallgemeinerungen und Spekulationen in Freuds Theorie übten. Sie starteten Versuche, die Psychoanalyse mit einer marxistisch orientierten Gesellschaftstheorie zu verbinden, und stellten sich die Frage nach den jeweilig angemessenen Gegenstandsbereichen.
Das Problem dieser Theoretiker war, dass sie zwischen zwei Stühlen sassen: Weder die Psychoanalytische Vereinigung noch die Kommunistischen Parteien zeigten Interesse an den Verknüpfungsversuchen von Psychoanalyse und Marxismus. Für die Ersten war Marx zu unwissenschaftlich und politisch, für die Zweiten Freud ein rückschrittlicher Idealist. So durchsuchten Reich wie Fromm die Freudsche Theorie nach Momenten, die sie für nicht materialistisch hielten, versuchten diese auszumerzen und die Freudsche Psychoanalyse den Marxisten als dialektisch-materialistische Naturwissenschaft schmackhaft zu machen. Damit verfielen sie aber dem gleichen biologistischen Selbstmissverständnis wie die "rechten" Psychoanalytiker. Wo Freud, wenn auch nicht immer bewusst und konsequent, noch aufzeigte, dass die Triebe selbst erst in Verbindung mit ihren Schicksalen, also als gesellschaftlich geformte, gefasst werden können, stellten Reich und Fromm der Gesellschaft unvermittelt einen rein biologischen Triebapparat gegenüber, welcher von jener modifiziert wird.
Die Problematik einer solchen Konzeption wurde aber erst später erkannt, als beide Theoretiker - Fromm, der im Rahmen der Frankfurter Schule noch bahnbrechende sozialpsychologische Forschungen leitete, noch um einiges subtiler als Reich - in ihren späteren Werken begannen, je eine dieser Seiten zu verabsolutieren: Reich wurde zum Biologisten, der zur Lösung jeglicher sozialer Probleme lediglich noch die Entfesselung des Genitaltriebes und später des Orgons propagierte, einer metaphysischen Lebensenergie, für deren Entdeckung er v.a. in esoterischen Kreisen gefeiert wurde. Fromm wurde zum Soziologisten, der alles Körperliche aus Freuds Theorie ausmerzte und soziale Probleme immer mehr zu lediglich moralischen verkürzte. Beide aber machten denselben Fehler: Sie bestückten die Natur des Menschen, die (bei Reich um das Psychologische, bei Fromm um das Körperliche verkürzten) Triebe, mit scheinbar ursprünglichen "guten" Werten wie Liebe, Hilfsbereitschaft, Rationalität, ja sogar Fleiss (Reich), die von der kapitalistischen Gesellschaft verdeckt und ins Gegenteil verkehrt würden. Was sie dabei nicht bedachten war, dass diese Werte, selbst erst in historischen Prozessen entstanden, nichts Natürliches darstellen.
Reichs und Fromms Versuche, die Marxsche und die Freudsche Theorie zu verknüpfen, scheiterten ebenso an einer mangelnden Kenntnis der ersteren wie an der ungenügenden Reflexion des Verhältnisses der beiden zueinander. Willkürlich bestimmten sie die Grenzen zwischen den Problembereichen, in denen die Psychoanalyse psycho-biologische Erklärungen für soziale Phänomene liefern durfte, und denjenigen, in denen soziologische Ansätze herbeigezogen wurden.
Die Kritische Theorie
Erst die zweite Generation der Freudschen Linken, vorwiegend die Vertreter der Kritischen Theorie, alles sogenannte "Laien", also selbst nicht Analytiker, sondern Sozialwissenschafter, vermochte mit dem Selbst(miss)verständnis der Psychoanalyse als Naturwissenschaft aufzuräumen.
In erster Linie Adorno setzte sich intensiv und kritisch mit Freud auseinander, erörterte die historische Wahrheit der psychoanalytischen Theorie wie auch ihr Verhältnis zur (marxistisch orientierten) Soziologie. Die Trennung der beiden Wissenschaften im institutionalisierten Wissenschaftsbetrieb sei richtig und falsch zugleich, befand er. Richtig sei sie insofern als dass zwischen ihren jeweiligen Gegenständen, Individuum und Gesellschaft, real ein Bruch bestehe, die Gesellschaft den Menschen als (Pseudo-)Naturkraft fremd entgegenstünde. Eine bruchlose Verknüpfung der beiden Theorien, wie sie noch von der ersten Generation der linken Psychoanalytiker angestrebt worden war, würde genau diesen Widerspruch fälschlicherweise harmonisieren. Zugleich unrichtig sei aber die wissenschaftliche Arbeitsteilung deshalb, weil damit der Blick auf die Totalität verloren ginge und die Erkenntnisse einer Psychologie ohne Gesellschaftsbegriff wie auch einer Soziologie ohne Reflexion auf den Menschen um Wesentliches verkürzte wären. Folgerichtig propagierte Adorno deshalb eine getrennte Forschung, deren Ergebnisse jedoch in einem zweiten Reflexionsprozess als Korrektive miteinander vermittelt werden sollen.
Der letzte Vertreter der Kritischen Theorie, der sich nochmals intensiv mit Freud auseinander setzte, war Marcuse. Er beschäftigte sich v.a. mit der Dialektik von Natur und Kultur, die Freud aufgezeigt hatte: Einerseits beruht Kultur auf Triebunterdrückung, andererseits bringt diese Unterdrückung, indem der Verzicht auf Triebbefriedigung Aggressionen hervorbringt, damit die Todestriebe stärkt, selbst Kräfte hervor, die diese Kultur zu stürzen drohen. Marcuse versuchte aufzuzeigen, dass dieser Widerstreit von Natur und Kultur nur für eine unangemessen repressive Gesellschaft gilt. Heute, da zur Herstellung der Lebensmittel für die ganze Menschheit immer weniger Arbeitskräfte und damit immer weniger Triebunterdrückung benötigt würden, wäre es an der Zeit, die gewaltige Kraft der Lebens- bzw. Sexualtriebe wieder zu erwecken und mit ihnen auf eine höhere triebgerechte Gesellschaftsstufe hinzustreben. Auch Marcuse kämpft dabei, wenn auch um einiges reflektierter als noch Reich und Fromm, mit dem Problem, dass er den Trieben eine ursprüngliche natürliche Kraft zuschreiben muss. Die Beharrung auf biologistischen Momenten, "Mythologien", der Freudschen Schriften sieht er aber dadurch legitimiert, dass er gegen andere "linke" Neo-Freudianerinnen, unter ihnen der späte Fromm, das Naturmoment der psychoanalytischen Theorie verteidigen will.
Die Tücken der menschlichen Natur
Eine kritische Reflexion über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft muss sich gegen verschiedene theoretische Ansätze abgrenzen, die diesem nicht gerecht werden. Zwar betont sie das (immer auch individuelle) Naturmoment im Menschen, doch ist ihr stets bewusst, dass dieses erst in seiner gesellschaftlichen Form in Erscheinung tritt.
Der Mensch ist kein Instinktwesen. Die Verhaltensbiologie, die menschliches Verhalten mit demjenigen von Tieren vergleicht und glaubt, damit Rückschlüsse auf die biologische Basis des Ersteren machen zu können, vergisst, dass der Mensch eine neue Stufe der Entwicklung erreicht hat. Durch die im historischen Prozess erworbene Sprache ist der Mensch bewusstseinsfähig geworden, er ist fähig geworden, die äussere Natur, auf die er trifft, nach seinem Willen zu verändern. Er erlangt dadurch, dass er seine Wahrnehmungen in Sprache fassen kann, die Fähigkeit, seine Verhältnisse zu seiner Umwelt, zu anderen Dingen und Menschen zu reflektieren, gar die potentielle Fähigkeit, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu transzendieren. Aufgrund dieser Fähigkeit der bewussten Bearbeitung der Umwelt, bei der auch die innere Natur sich verändert, sondert sich die Menschheitsgeschichte von der Naturgeschichte ab, die blindlings walten muss, da ihr ein Bewusstsein fehlt. Das menschliche Verhalten ist damit, auch wo es seine biologische Basis hat, nicht ausserhalb dieses Geschichtsprozesses zu erklären. Eine unmittelbare Natur, wie sie beim Instinkt angenommen wird, kann gar nie als solche, von der Gesellschaft abgekoppelt, in Erscheinung treten. Das Individuum selbst ist ein entstandenes, kein ursprüngliches. Dies verkennt jede Psychologie, die den Kern des Menschen, sein "Wesen", sein "wahres Selbst", seinen "wahren Charakter" sucht und den Menschen "zu sich selbst" finden lassen will. Weder die ganze Menschheit noch einzelne Menschen werden als gute oder böse, als ruhige, aggressive oder intelligente geboren - abgesehen davon, dass eine solche Wertung ja auch nur in ihrem gesellschaftlichen Kontext verstanden werden kann, da sich die Werte selbst historisch verändern. Die Charakterstruktur eines Menschen lässt sich von seiner Lebensgeschichte nicht isolieren, da sie erst in ihr entstanden ist. Was Freud als Natur, "Anlage", fasst, bleibt immer unbestimmt, nur negativ fassbar. Dies ist der Rest, der nicht lebensgeschichtlich erklärt werden kann. Ausserdem ist einer solchen Psychologie entgegenzuhalten, dass es gerade das Wesen des (heutigen) Menschen ausmacht, dass in ihm sich verschiedene Ansprüche, modifizierte Triebansprüche und solche der Gesellschaft, im Widerstreit befinden, damit aber etwas Einheitliches, ein widerspruchsloser Kern, nicht festgemacht werden kann.
Andererseits darf das Naturmoment aber auch nicht, wie in verschiedenen soziologischen Theorien, vernachlässigt werden. Eine Gesellschaft kann ihre Mitglieder nicht beliebig formen, im Sozialisationsprozess wird ein Stück Natur bearbeitet, das Widerstand leistet gegen seine Vergesellschaftung. Prägungsmodelle, welche den Menschen als anfängliche Tabula rasa fassen, die von der Gesellschaft im Sozialisationsprozess beliebig mit Inhalten bestückt werden kann, wie auch Milieutheorien, die ableitungslogisch den verschiedenen Schichtmitgliedern ein spezifisches Bewusstsein zuschreiben, vergessen dies. Zwar treffen sie eine Wahrheit, indem sie die neurotischen, Ich-schwachen Menschen des Spätkapitalismus als solche nehmen, sie können aber Abweichungen von Zugeschriebenem, Emanzipation nicht erklären.
Der Prozess der Sozialisation ist immer zugleich auch derjenige der Individuation. Zwischen den Triebansprüchen und der Gesellschaft findet eine Auseinandersetzung statt, deren Resultat das Ich ist, das fähig sein sollte, den verschiedenen Ansprüchen gerecht zu werden, diese gar gegeneinander abzuwägen. Das Individuum richtet sich also kaum unmittelbar nach den gesellschaftlichen Normen und Werten, auch wenn es diese verinnerlicht hat, sondern wird auch an die Triebansprüche Konzessionen machen müssen, will es nicht neurotisch werden.
Natur und Kultur/Gesellschaft sind im Menschen nicht mehr zu trennen. Die erste Natur des Menschen kann dabei nur negativ, als Widerstandspotential gefasst werden, positiv ist sie nicht zu bestimmen. Was unser Blick erfasst, ist immer schon zweite Natur, gesellschaftlich-historisch modifizierte.
Markus Brunner absolvierte sein Soziologie-Grundstudium in Zürich und studiert jetzt im 7. Semester an der Uni Hannover die Hauptfächer Soziologie und Sozialpsychologie.
Literaturauswahl
Freud, Sigmund: Gesammelte Werke. 18 Bde., S. Fischer, Frankfurt a.M., 1940-87. [Zit. "GW"]. (Chronologisch geordnete Gesamtausgabe.)
Freud, Sigmund: Studienausgabe. 10 Bde., S. Fischer, Fankfurt a.M., 1974. [Zit. "StA"]. (Gründlich editierte Studienausgabe.)
Freud, Sigmund: Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921). In: StA IX, S. 61-135. (Wohl der wichtigste soziologische Text Freuds. Eine Analyse von Massenbewegungen, schon zehn Jahre vor der faschistischen Machtergreifung.)
Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und neue Folge (1917/1932). StA I. (Eine verständliche und umfassende Einführung in das Freudsche Werk.)
Freud, Sigmund: Triebe und Triebschicksale (1915). In: StA III, S. 75-102. (Eine Darstellung der Freudschen Trieblehre.)
Marx, Karl und Engels, Friedrich: Werke. 39 Bde., Dietz, Berlin, 1961-68. [Zit. "MEW"].
Dahmer, Helmut: Libido und Gesellschaft. Studien über Freud und die Freudsche Linke. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt a.M., 1982. (Eine umfassende Auseinandersetzung mit Freud und der Freudschen Linken aus kritisch-marxistischer Perspektive.)
Institut für Sozialforschung: Soziologische Exkurse. EVA, Hamburg, 1956. (Eine Einführung ins Denken der Kritischen Theorie aus erster Hand.)
Adorno, Theodor W.: Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie. In: Gesammelte Schriften, Bd. 8. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt a.M., 1997, S. 42-85.
Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1967.
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