Ursachen, Motive und Folgen intensivierter Kontrolle des öffentlichen Raumes in den Zürcher Gemeinden
Kriminalität und Sicherheit sind mediale Dauerbrenner – und die Politik scheint darauf zu reagieren. Ein sichtbarer Ausdruck davon ist eine deutliche Zunahme von gemeindeeigenen Sicherheitsdiensten im Kanton Zürich. Eine zunehmend wichtige Rolle nehmen dabei kommerzielle Anbieter ein. Seit Mitte der 1990er Jahre kann von einem regelrechten Boom privater Sicherheitsdienste gesprochen werden. Was sind die Gründe für diese Entwicklung? Wovor sollen private Sicherheitsdienste schützen, und welches sind die Ziele einer Politik, welche verstärkt auf Kontrolle und Ordnung zu basieren scheint?
SOZ-MAG Beitrag von Chris Young
Der aktive Kampf gegen Unsicherheit und Kriminalität ist im Laufe der letzten fünfzig Jahre für die Gemeinden des Kantons Zürich offenbar immer wichtiger geworden. Eine von mir durchgeführte Befragung [1] zu Sicherheitsdiensten bei den Gemeinden im Kanton Zürich zeigt dies deutlich: Der Anteil der Gemeinden, die über eigene Sicherheitskräfte verfügen, hat seit 1950 immer stärker zugenommen (siehe Grafik 1). Speziell die Zunahme privater Sicherheitskräfte seit 1995 springt ins Auge. Im Jahr 2005 verfügten über 60% aller Zürcher Gemeinden über einen eigenen Sicherheitsdienst. 35% der Gemeinden hatten dazu private Sicherheitsanbieter engagiert; 27% leisteten sich eine Gemeindepolizei und 8% griffen auf Freiwillige bzw. Milizgruppen zurück.
Welches sind die gesetzlichen Grundlagen kommunaler Sicherheitspolitik und des Einsatzes von gemeindeigenen Sicherheitsdiensten? – Die Zürcher Gemeinden sind verpflichtet, polizeiliche Aufgaben im Bereich der Ruhe und Ordnung und des Verkehrs zu übernehmen, während der Bereich Kriminalität und Strafverfolgung weitgehend in den Zuständigkeitsbereich der Kantonspolizei fällt. Eine Gemeinde kann sich dazu entscheiden, die ganze polizeiliche „Versorgung“ von der Kantonspolizei zu beziehen, was aber seinen Preis hat: Solche zusätzlichen Leistungen der Kantonspolizei müssen entschädigt werden. Andernfalls muss die Gemeinde eigene Sicherheitskräfte stellen. Dies können Polizisten sein, die die entsprechende eidgenössische Berufsprüfung bestanden haben und von der Gemeinde vereidigt werden. Die Gemeinde kann den polizeilichen Auftrag aber auch an eine private Sicherheitsfirma vergeben. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, dass die Gemeinde Freiwillige für einen Sicherheitsdienst sucht, der zumindest gewisse Aufgaben übernehmen kann. In allen drei Fällen sind die Sicherheitskräfte direkt von der Gemeinde beauftragt. Sie werden im Folgenden als gemeindeeigene Sicherheitskräfte bezeichnet. Welche Kompetenzen die jeweiligen Sicherheitskräfte damit erhalten, ist allerdings nicht völlig klar – oft bewegen sich die Gemeinden in einer juristischen Grauzone.
Bis in die frühen 1980er Jahre hatten die wenigen Gemeinden mit eigenen Sicherheitskräften alle eine Gemeinde- bzw. eine Stadtpolizei. Nur eine einzige Gemeinde hatte bereits seit 1956 einen auf dem Milizprinzip basierenden Sicherheitsdienst. Dann setzten zwei Entwicklungen ein: Sicherheitsdienste mit Zivilschutzleuten wurden gebildet. Der Kanton Zürich unterstützte diese Form der Sicherheitsdienste anfänglich, und die Kantonspolizei gab Zivilschützern aus rund 70 Gemeinden in kurzen Kursen „Nachhilfeunterricht“. Einige Gemeinden experimentierten mit dem Einsatz dieser Gemeindesicherheitsdienste in Friedenszeiten. Bald wurden jedoch juristische Einwände dagegen laut, und der Kanton stellte die Ausbildungen 1995 ein. Einige Gemeinden führten die Sicherheitsdienste ohne Zivilschutzkräfte und unter neuem Namen weiter (in der Grafik als Miliz/freiwillige bezeichnet). Parallel dazu begannen Gemeinden mit privaten Anbietern von Sicherheitsdienstleistungen wie Securitas oder Protectas zusammenzuarbeiten. Besonders ab 1995 nahm die Anzahl der Gemeinden, die sich für diese Lösung entschieden, drastisch zu. Gründe dafür könnten das schon beschriebene Scheitern der Gemeindesicherheitsdienste mit Zivilschutzleuten sein, ein anderer die zunehmende Professionalisierung der kommerziellen Sicherheitsbranche, die sich unter anderem in der Einführung eines eidgenössischen Fachausweises für Sicherheitskräfte im Jahr 1999 niederschlug. Die Angst vor einer Flut von Drogensüchtigen nach der Auflösung der offenen Drogenszenen in Zürich in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre war zudem in vielen Gemeinden ein unmittelbarer Auslöser für das Interesse an eigenen Sicherheitsdiensten. Auch von Seiten der Kantonsregierung und der Kantonspolizei, die sich zunehmend überlastet fühlte, kamen die Gemeinden unter Druck, eigene Sicherheitskräfte einzustellen.
Internationale Tendenzen
Ähnliche Entwicklungen sind auch in anderen Teilen der westlichen Welt zu beobachten. Die kommerzielle Sicherheitsindustrie ist stark gewachsen, wobei neben Privatpersonen und Unternehmen eben auch Behörden die Kunden sind (Nogala 1998). Sicherheitspolitik wird immer mehr auf lokaler, kommunaler Ebene formuliert und umgesetzt. Beispiele sind Programme für mehr Bürgernähe bei der Polizeiarbeit (Community Policing) oder Strategien zur Kriminalitätsprävention, die auf die Kooperation zwischen der Polizei und lokalen Behörden wie Schulen und Stadtplanern setzen. Schliesslich hat sich vielerorts auch eine Politik der Nulltoleranz beim Umgang der Polizei mit kleinen Verstössen und besonders mit Randgruppen durchgesetzt (Wacquant 2000). Für ForscherInnen aus dem Feld der Governmentality Studies sind diese Entwicklungen Teil des Übergangs vom wohlfahrtstaatlichen Gesellschaftsmodell der Nachkriegszeit zur heutigen neoliberal geprägten Realität. In ersterem wurde soziale Inklusion gross geschrieben und durch politische Partizipation und die grösstmögliche Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands angestrebt. Auch Kriminelle wurden als potenziell vollwertige Mitglieder der Gesellschaft betrachtet; die Idee der Resozialisierung bestimmte Justiz und Strafvollzug. Seit den 1980er Jahren ist der Wohlfahrtstaat ökonomisch und ideologisch immer mehr unter Druck geraten. In der Strafjustiz hat die Zustimmung zu härteren Strafen vielerorts die Idee der Resozialisierung verdrängt. Problem- und Randgruppen werden immer weniger unter dem Gesichtspunkt der Integration in die Gesellschaft betrachtet, sondern eher als Risiken, deren Kontrolle sichergestellt werden muss (Garland 2004).
Wachsendes Sicherheitsbedürfnis: Handfeste Gründe oder ein diskursives Phänomen?
Das Thema Sicherheit erhält mehr Gewicht, Sicherheitskräfte verschiedener Art werden zahlreicher und bei Polizei und Justiz wird das Verständnis für die Täter immer geringer. Wie lassen sich diese Entwicklungen erklären? Die naheliegendste Erklärung besteht darin, den Grund in einer Zunahme der Kriminalität zu suchen. Eine alternative Position weist auf Verschiebungen in der Verteilung von Kriminalität hin. Die Kriminalität hat nicht zugenommen, aber die durch sie Betroffenen sind andere. Die Mittelschichten, die das wohlfahrtstaatliche Projekt entscheidend mitgetragen haben, werden mehr und mehr von der Kriminalität tangiert. Dazu haben etwa neue Muster der Mobilität und des Wohnens beigetragen: die räumliche Trennung von Wohn- und Arbeitsort, das daraus folgende Pendeln und das damit verbundene Phänomen der menschenleeren Vorstädte bei Tag und der menschenleeren Zentren bei Nacht. Weiter mögen ökonomische und politische Krisen wie Massenarbeitslosigkeit in Europa oder die drohenden Finanzierungslücken der Sozialwerke weite Bevölkerungskreise verunsichert haben. Das Ende des Kalten Krieges bereitete den klassischen Feindbildern ein abruptes Ende – und mithin den etablierten Projektionsfläche von Bedrohungsgefühlen und Ängsten. Der Ruf nach mehr Sicherheit und mehr Polizei kann auf der psychologischen Ebene als Ersatz für die Formulierung von diffusen Ängsten gesehen werden. Solche Ängste können auf der politischen Ebene zudem hervorragend populistisch ausgeschlachtet werden, indem Kriminelle und andere „bedrohliche“ Gruppen zu zentralen Wahlkampfthemen werden. Schliesslich ist der Wohlfahrtsstaat mit dem aufkommenden Neoliberalismus auch ideologisch unter Beschuss geraten. In seiner Analyse von Grossbritannien und den USA kombiniert Garland (2004) alle diese Erklärungen. Die verschiedenen Ansätze beruhen jedoch auf unterschiedlichen Annahmen: Mit der Zunahme von Kriminalität zu argumentieren bedeutet sozial-strukturell zu argumentieren, während Verunsicherung und Ideologie als Ursachen anzusehen, einen diskurstheoretischen Standpunkt voraussetzt.
Der schweizerische Kontext – anders?
Was anderswo plausibel erscheint, muss nicht zwingend für die Schweiz Gültigkeit haben. Die markante Zunahme der Kriminalität, welche die USA und Grossbritannien erlebt haben, hat es in der Schweiz nicht gegeben. Seit 1946 ist die Anzahl Verurteilungen nach Strafgesetzbuch (welche z.B. Diebstahl oder Gewaltdelikte betreffen) stabil und hat proportional zur Bevölkerungsgrösse sogar abgenommen. Dass im gleichen Zeitraum Verstösse gegen das Strassenverkehrsgesetz oder das Ausländergesetz stark zugenommen haben, ist kaum als Zunahme der Kriminalitätsbelastung zu werten. Dafür sind wohl eher die starke Zunahme des Strassenverkehrs und der Einwanderung, sowie die schrittweise Verschärfung der Ausländergesetzgebung verantwortlich. Einzelne Delikte des Strafgesetzbuchs haben jedoch zugenommen. Bei den Gewaltdelikten, besonders bei Körperverletzung, sind die Zunahmen seit den 1980er Jahren hoch. Im internationalen Vergleich sind die Zahlen aber auch hier weiterhin niedrig. In der Schweiz kann daher keineswegs von einer „High Crime Society“ (Garland 2004) die Rede sein, die eine Zunahme der Sicherheitskräfte erklären könnte. Es kann aber sein, dass die Zunahme von Gewaltdelikten, wenn auch auf tiefem Niveau, zu einer Veränderung der Wahrnehmung von Kriminalität beigetragen hat. Diese These wird durch Studien gestützt, die zeigen, dass sich die Medienberichterstattung über Kriminalität etwa ab Mitte der 1980er Jahre intensiviert hat. Im gleichen Zeitraum und besonders ab 1989 wurde Kriminalität immer mehr zu einem bedeutenden Wahlkampfthema. Nachdem der Antikommunismus als Ideologie ausgedient hatte, wurde der Kampf gegen Kriminalität, Drogen und Ausländer zum neuen Referenzpunkt der konservativen Kräfte in der Schweiz und nahm auch in der Politik einen immer wichtigeren Platz ein (Niggli 1998). Wenn Kriminalität in der Wahrnehmung breiter Bevölkerungsschichten zu einem der wichtigsten Probleme wird, dürften auch die Kriminalitätsangst und die Zustimmung zu harten Strafen steigen. In empirischen Studien wurde allerdings weder das eine noch das andere bis jetzt bestätigt. Die Forschung zu diesen Themen ist in der Schweiz jedoch sehr dürftig.
ZĂĽrcher Sicherheitspolitik: Nur Jugend und Abfall?
Einige Ergebnisse der Befragung der Zürcher Gemeinden über die Nutzung von Sicherheitsdiensten stützen die diskurstheoretischen Argumente, die davon ausgehen, dass weniger die Kriminalität als deren Wahrnehmung sich verändert hat. 115 Gemeinderäte und -rätinnen (Mitglieder der Gemeindeexekutive) gaben im Rahmen der Befragung unter anderem Auskunft über die Ziele ihrer Sicherheitspolitik, über die Art der Probleme im öffentlichen Raum und über die Bevölkerungsgruppen, die ihnen als problematisch erscheinen.
Die Rangfolge der Ziele der Gemeinden ist auf den ersten Blick etwas überraschend (siehe Grafik 2; hier wurden nur Gemeinden mit eigenem Sicherheitsdienst befragt). An erster Stelle steht die Verbesserung des Sicherheitsgefühls. Dieses Ziel wird von fast zwei Dritteln der Gemeinden als ‚wichtig’ oder ‚sehr wichtig’ bezeichnet, gefolgt von der sichtbaren, uniformierten Präsenz von Sicherheitskräften mit rund 60%. Die Reduktion von Kriminalität und die Verhinderung von Einbrüchen dagegen folgen erst an vierter bzw. fünfter Stelle und werden von jeweils 50% der Gemeinden als ‚wichtiges’ oder ‚sehr wichtiges’ Ziel eingestuft. Die kommunale Sicherheitspolitik scheint demnach stärker an der subjektiven Wahrnehmung von Sicherheit bzw. Unsicherheit als an der tatsächlichen Kriminalitätsbekämpfung interessiert zu sein. Die Probleme, mit denen die Gemeinden nach ihrer eigenen Einschätzung im öffentlichen Raum zu kämpfen haben, liefern einen weiteren Hinweis in dieselbe Richtung. Das Liegenlassen von Abfall und Vandalismus figurieren an erster Stelle, gefolgt von unerlaubtem Parkieren und Lärm von Personengruppen. Die Gewaltkriminalität, die in den Medien soviel Platz einnimmt, scheint den Gemeinden nur wenige Probleme zu bereiten. Das spricht erneut dagegen, die Zunahme der Kriminalität als direkte Ursache für die sicherheitspolitische Aufrüstung zu betrachten. Die kommunale Sicherheitspraxis scheint viel eher die strafrechtlich nicht-relevanten Handlungen sowie geringfügige Delikte im Visier zu haben.
Die Bevölkerungsgruppe, welche die Gemeinden weitaus am häufigsten mit Problemen der Sicherheit und Ordnung in Beziehung brachten, waren die Jugendlichen. In absteigender Reihenfolge wurden dann Drogen- und Alkoholkonsumenten, Verkehrsteilnehmer und Ausländer genannt. Obwohl dies anhand der erhobenen Daten nicht überprüft werden kann, ist zu vermuten, dass sich diese Gruppen überschneiden, dass also die als Problem wahrgenommenen Alkoholkonsumenten oftmals Jugendliche sind, oftmals vielleicht auch ausländischer Herkunft usw. Aufgrund dieser Befunde lässt sich sowohl ein strukturelles als auch ein diskurstheoretisches Argument formulieren: Es ist einerseits denkbar, dass kleine Delikte bei Jugendlichen zugenommen haben, im Zusammenhang mit steigender Jugendarbeitslosigkeit etwa. Andererseits könnte argumentiert werden, dass die genannten Gruppen bereits stigmatisiert sind und sozusagen die ‚usual suspects’ darstellen. Jugendliche, Ausländer und Alkoholkonsumenten dürften zudem nur schon durch ihre schlichte (oder auch mal laute) Präsenz die Ruhe und Ordnung bürgerlicher Öffentlichkeit stören. Ihre Problematisierung, bei der an etablierte Diskurse angeschlossen wird, befriedigt als identitätsversichernde Strategie gerade in Zeiten der Verunsicherung ein Bedürfnis und ist dann politisch besonders opportun.
Das stützt die bereits weiter oben geäusserte These: Bei der Sicherheitspolitik der Gemeinden geht es mehr um die Kontrolle von störenden Bevölkerungsgruppen und Verhaltensweisen, als um Kriminalitätsbekämpfung. „Erlaubt ist [nur noch], was nicht stört“, wie eine Kampagne der Stadt Zürich uns kürzlich ermahnte. Dies leuchtet umso mehr ein, als die Kantonspolizei für alle schwereren Formen der Kriminalität zuständig ist. Die kommunalen Sicherheitskräfte sind somit nicht als Ersatz für die Kantonspolizei zu sehen. Sie sind in erster Linie dazu da, um eine neue Art der Kontrolle des öffentlichen Raums durchzusetzen. Während die Zahl der Kantonspolizisten seit 1980 zugenommen hat, wurden Stationen der Abteilung Regionalpolizei geschlossen und ihre Gesamtzahl stagnierte.
Regieren im Modus der Gouvernementalität
Die Kontrolle der Gemeinden über den öffentlichen Raum hat sich intensiviert und verändert. Das Sicherheitsgefühl und das Erscheinungsbild des öffentlichen Raums scheinen laut den Ergebnissen der Befragung der Zürcher Gemeinden im Vordergrund zu stehen. Dabei werden gewisse Bevölkerungsgruppen und Verhaltensweisen ausgeschlossen oder unter Druck gesetzt. Diese leise Militarisierung des öffentlichen Raums scheint im Gegensatz zu einer der Kernaussagen der Autoren der governmentality studies, zu denen auch Garland zu rechnen ist, zu stehen. In Anschluss an Foucault versuchen sie zu zeigen, dass neoliberale Regierungsformen davon geprägt sind, dass offener und direkter Zwang weniger ausgeübt wird (Foucault 1978). Die Freiheit des Individuums ist sogar ein notwendiges Element dieser Regierungspraktiken, da es eine Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität erlauben soll. Die Lockerung moralischer Normen und unternehmerischer Beschränkungen sind beides Formen dieser Freiheit. Gouvernementale Regierungspraktiken sind jedoch nicht mit einer Politik des laisser-faire zu verwechseln. Durch ein System von Diskursen und Anreizen wird Kontrolle weiterhin ausgeübt, zum Beispiel durch die stetigen Appelle an die Eigenverantwortung oder die Kürzung von Versicherungsgeldern bei Missachten dieser Ermahnungen. Doch wenn Arbeitslosigkeit und Sozialabbau die sozialen Ungleichheiten grösser werden lassen, funktioniert diese diskrete Steuerung nicht bei allen Subjekten, vor allem nicht bei den Verlierern. Deshalb haben die Techniken des Überwachens und Strafens auch in der neoliberalen Welt ihren Platz. Die Intensivierung der Kontrolle des öffentlichen Raums im Kanton Zürich kann deshalb als Kehrseite der gesellschaftlichen Liberalisierung gesehen werden. Die kleinräumigere Kontrolle des Raums, die sich etabliert hat, könnte auch einer Art Sortierung der Bevölkerung nach Risikopotenzialen entsprechen (Lindenberg/ Schmidt-Semisch 1995). Das Ghetto ist die paradigmatische Form einer solchen Sortierung, eine andere wäre der Fixerraum für Drogensüchtige. Das Risikopotenzial, ein Produkt der Statistik, ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person mit gewissen Merkmalen sich in einer abweichenden oder unverantwortlichen Weise verhalten könnte. Die Aussonderung von Jugendlichen oder Ausländern, die sich im öffentlichen Raum aufhalten, als Probleme dürfte unter anderem auf einer solchen risikozentrierten Betrachtung beruhen.
Der öffentliche Raum im Kanton Zürich wird heute stärker durch die Gemeinden überwacht und kontrolliert als noch zu Beginn der 1990er-Jahre. Während den Wählern und Konsumenten eine beruhigende, sichtbare Sicherheit geboten werden soll, gelten andere, besonders Jugendliche, als Störfaktoren, die kontrolliert werden müssen. Dabei stehen weder Diebstahl noch Gewalt im Mittelpunkt, sondern die Kontrolle von Kleinstdelikten und die Erhaltung eines sauberen Erscheinungsbildes. Die Entwicklung kann als keineswegs liberale Kehrseite der Liberalisierung und der Ideologie der Eigenverantwortung betrachtet werden. Einerseits werden durch die Stigmatisierung ausgewählter Gruppen diffuse Ängste vor dem Fall durch das gesellschaftliche Netz kanalisiert, andererseits werden potenziell widerspenstige Personen im Sinne einer Risikobeschränkung überwacht und kontrolliert.
[1] Alle Zürcher Gemeinden (mit der Ausnahme der Stadt Zürich) wurden im Jahr 2005 gebeten, einen Fragebogen auszufüllen, den sie per Post erhalten hatten. Der Fragebogen wurde jeweils an dasjenige Mitglied der Gemeindexekutive geschickt, welches für das Ressort Polizei oder Sicherheit zuständig war. 115 von 170 Gemeinden (67.5%) haben den Fragebogen beantwortet und retourniert.
Chris Young hat an der Universität Zürich Soziologie, Volkswirtschaft und Kunstgeschichte studiert und interessiert sich für Stadt, Macht und mechanomorphe Objekte des Begehrens.
Literaturauswahl:
Foucault, M. (2000 [1978]): Die „Gouvernementalität“. In: Lemke, Th. et. al. (Hg.): Gouvernmentalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt Am Main, 41-67.
Garland, D. (2004): Die Kultur der ‚High Crime Societies’. Voraussetzungen einer neuen Politik von ‚Law and Order’. In: Oberwittler, D. (Hg.): Soziologie der Kriminalität. Wiesbaden, 36-68.
Lindenberg, M. und Schmidt-Semisch, H. (1995): „Sanktionsverzicht statt Herrschaftsverlust: Vom Übergang in die Kontrollgesellschaft“. Kriminologisches Journal, Bd. 27, 2-17.
Niggli, P. und Frischknecht, J. (1998): Rechte Seilschaften. Wie die „unheimlichen Patrioten“ den Zusammenbruch des Kommunismus meisterten. Zürich.
Nogala, D. (1998): Sicherheit verkaufen. Selbstdarstellung und marktstrategische Positionierung kommerzieller „Sicherheitsproduzenten“ In: Hitzler, R. und Peters, H. (Hg.): Inszenierung: Innere Sicherheit. Daten und Diskurse. Opladen, 131-154.
Wacquant, L. J. D. (2000): Elend hinter Gittern. Konstanz.
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