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Aktivierungspolitik und ihre Folgen – Diskussion der prekären Arbeitsgesellschaft in WIDERSPRUCH 49

Die neuste Ausgabe der Zeitschrift WIDERSPRUCH mit dem Titel „Prekäre Arbeitsgesellschaft“ widmet sich in gewohnt vielfältiger Weise den Ursachen und Folgen des Ausschlusses bestimmter Teile der Gesellschaft aus dem liberalisierten Arbeitsmarkt. Der Fokus liegt auf der von der Politik in zunehmendem Masse verfolgten Strategie der ‚Aktivierung‘. Diese wird in verschiedensten europäischen Ländern angewandt mit dem Ziel, möglichst viele Arbeitslose von der Wohlfahrt und von staatlichen Leistungen zu entkoppeln und sie wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Von Christina Maag

Den Einstieg ins umfangreiche Heft macht Klaus Dörre, der den Bogen von Pierre Bourdieu über Robert Castel zu den heftigen Unruhen in den Vorstädten Frankreichs vom letzten November spannt. Dörre beschreibt verschiedene Stufen der Integrierbarkeit von Menschen in den Arbeitsmarkt – die protestierenden französischen Jugendlichen gehören zur Gruppe der ‚entbehrlichsten Menschen‘. Diese Jugendlichen haben keine realistische Chance, je einen Platz im Arbeitsmarkt zu erhalten. Sie sind gleichsam entkoppelt und werden in Zukunft allenfalls sehr unsichere Arbeitsplätze in alternativen Beschäftigungsformen erhalten. Alternative Beschäftigungsformen meint unter anderem Arbeit auf Abruf oder Teilzeitarbeit, welche Dörre treffend der prekären Arbeit zurechnet und durch die er eine neue Unsicherheit auf die westlichen Gesellschaften zukommen sieht. Die Strategie, auf stärkeres Wirtschaftswachstum zu hoffen, um eine Teilung der Gesellschaft in solche, die Arbeit haben, und andere, die keine haben, zu verhindern, hält Dörre für fatal. Er setzt vielmehr auf die Rolle der Gewerkschaften, die neue Handlungsmöglichkeiten für prekarisierte Menschen etablieren sollten. Solche Handlungsmöglichkeiten würden helfen, das Ohnmachtsempfinden der betroffenen Arbeitslosen zu überwinden. Dörre fordert zudem eine gesetzliche Verankerung sozialer Mindeststandards. Daneben befürwortet er die in Frankreich bereits diskutierte Idee eines „Aktivierungsstatus“, der jedem Arbeitnehmer die Möglichkeit lässt, einen Status einzunehmen, der die Wahl zwischen Erwerbsarbeit und anderen Tätigkeitsformen offen lässt. An kreativen Ideen mangelt es Dörre sicher nicht.

Eva Nadai beschreibt in ihrem Artikel den sozialpolitischen Wandel im Umgang mit Erwerbslosen in der Schweiz – vom einstigen Armenhaus bis hin zur heute angewandten Aktivierungspolitik. Heute entscheidet die ‚Arbeitsfähigkeit‘ eines Menschen, ob er Fürsorgeleistungen erhält oder sich in den Prozess der Arbeitsmarktintegration begeben muss. Wer arbeitsfähig ist, wird ‚aktiviert‘, das heisst zur Eigenverantwortung und zum Selbstmanagement trainiert. ‚Aktivierung‘ scheint der neue Königsweg der Arbeitsmarktintegration zu sein. Aktiviert und somit verändert wird dabei der Arbeitssuchende und nicht die Arbeitsmarktsituation. Mit auf „Mobilität, Flexibilität und hohe Anpassungsfähigkeit“ ausgerichteten Kursen sollen den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) zugewiesene Erwerbslose zur Selbstverantwortung geführt werden. Nadai zeigt anhand empirischer Studien, dass zumindest der vollständige Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt oft nicht gelingt und die Zahl der Working Poor in der Schweiz stetig steigt. Sie sieht die Probleme der Reintegration in den RAV selbst gelegen und kritisiert die Ausbildung der Beamten, die den Anforderungen kaum gewachsen sind. Treffend bemerkt sie zudem, dass „Menschen ohne Arbeit“ nicht einfach nur ohne Arbeit sind, sondern ganz spezifische Probleme mitbringen, die es ihnen eben verunmöglichen, mobil, abrufbereit und flexibel zu sein. Eine sinnvolle Arbeitsmarktintegration muss sich dieser spezifischen Probleme bewusst sein und dafür Lösungen suchen.

Den Blick weg von der Schweiz nach Grossbritannien richtet Roland Atzmüller, der die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der Labour Partei nach dem Thatcherismus untersucht. Ein zentrales Element der Labour Partei in der Sozialpolitik ist die ‚Welfare-to-Work‘-Strategie. Diese zielt auf die Überwindung von Armut und Arbeitslosigkeit durch eine stärkere Marktanbindung der Ware Arbeitskraft. Das ‚Welfare-to-Work‘-Programm soll den Arbeitslosen wieder Zugang zum Arbeitsmarkt verschaffen, knüpft diesen Zugang aber an Gegenleistungen. Eine solche Gegenleistung des Arbeitslosen kann zum Beispiel der obligatorische Besuch von Orientierungsveranstaltungen sein. Durch diese Gegenseitigkeit wird es möglich, die Arbeitslosen zu regulieren. Dabei wird – ausgehend von der Labour Partei – unmissverständlich klar gemacht, dass sich nicht die Gesellschaft, sondern die Arbeitslosen ändern müssen, um nicht länger von ihr ausgeschlossen zu sein.

Gabriele Michalitsch bringt schliesslich den Genderblick in die Debatte. Sie kritisiert, wie die staatliche Idee der Workfare einerseits eine ständige Verfügbarkeit und Ungebundenheit von ‚unbelasteter Arbeitskraft‘ fordert, und andererseits – aus bevölkerungspolitischen Gründen – den Anspruch einer stärkeren Konzentration der Mutter auf die Familie stellt. Ungebundenheit und Flexibilität bleiben somit dem männlichen Teil der Bevölkerung vorbehalten. Die mit Workfare verbundenen Postulate verschieben die Ungleichheit bezüglich Geschlechterhierarchien ins Private und reproduzieren traditionelle Geschlechterrollen, was die Chance auf einen erfolgreichen Wiedereinstieg von Frauen ins Berufsleben erschwert.

Der Fokus auf diese vier Artikel soll aber nicht von den übrigen Beiträgen der neusten Ausgabe des WIDERSPRUCH ablenken, diese sind nämlich nicht minder aufschlussreich. Alexandra Rau erweitert die Debatte um die Subjektivierung von Arbeit, indem sie die Entwicklung der Psychotechnik (die auf der Vorstellung basiert, für jede Person den passenden Beruf finden zu können) zu einer eigentlichen Psychopolitik zeichnet. Gemeint ist eine Politik, die „individualisiert und das psychologisch codierte Selbst zur Kraft der eigenen Lebensführung erklärt“. Franz Segbers beschreibt Selbstverantwortung in seinem Artikel als modernstes Prinzip der sozialdemokratischen Sozialpolitik. Die deutschen Ein-Euro-Jobs und andere Arbeitsreformen rund um Hartz IV sind für ihn Formen von „Zwangsarbeit“ – nötig ist eine personennahe Dienstleistungsgesellschaft, die Arbeit nicht „zu jedem und um jeden Preis anbietet“. Die Diskussion um das Recht auf existenzsichernde Erwerbsarbeit wird in den Beiträgen von Gisela Notz, Therese Wüthrich und Franz Schandl aufgenommen.

Den längeren Artikeln folgt wie gewohnt ein Diskussionsblock mit frei gewählten Themen. Besonders interessant ist dabei der Beitrag der Recherchiergruppe Schweiz Südafrika, die Resultate des NFP 42+ „Beziehungen Schweiz Südafrika“ präsentiert und kritisch reflektiert.

Die 49. Ausgabe des WIDERSPRUCH schafft es mit einer guten und durchwegs spannenden Artikel-Auswahl, das Phänomen ‚Prekäre Arbeitsgesellschaft‘ aus verschiedensten Blickwinkeln und mit aufschlussreichen Vertiefungen so darzustellen, dass die Diskussion für die Leser und Leserinnen nie an Fassbarkeit und Lebendigkeit verliert. Dabei gelingt es dem WIDERSPRUCH trotz tiefgreifender, theoretischer Reflektion aktuell zu bleiben.

Zwei Artikel, die sich dem Thema prekäre Arbeitsgesellschaft angliedern lassen, finden sich auch in diesem soz:mag: Zum einen der Artikel von Marc Höglinger „Schöne neue Arbeitswelt? Die Flexibilisierung der Arbeit durch atypische Beschäftigungsverhältnisse“, zum anderen jener von Martin Handschin „Kultur der Selbständigkeit – Beruflich selbständige Secondas als Unternehmerinnen ihrer selbst“.

Über mangelnde spannende Lektüre in den letzten Frühlingstagen kann sich also niemand beklagen.

WIDERSPRUCH 49: Prekäre Arbeitsgesellschaft

264 Seiten, Fr. 25.–, Euro 16.–

Im Buchhandel oder bei WIDERSPRUCH, Postfach, CH- 8026 Zürich, Tel./Fax 00 41 (0)44 273 03 02, Diese E-Mail-Adresse ist gegen Spambots geschützt, Du musst JavaScript aktivieren, damit Du sie sehen kannst. ; www.widerspruch.ch

 

«Savoir pour prévoir et prévoir pour pouvoir.»

Auguste Comte, Leitsatz positivistischer Soziologie