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wohnen im ‚chreis cheib’

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Der Alltag von Migrantinnen im verrufenen Zürcher Quartier

Der Zürcher Kreis 4, der ‚Chreis Cheib’, ist der wohl bekannteste Stadtteil Zürichs, oder zumindest der Stadtteil, über den am meisten diskutiert wird und der am häufigsten in den Medien Erwähnung findet. Die Perspektiven auf den Kreis sind so vielfältig wie seine Bewohner: Die einen beschwören die Quartieridylle des ehemals roten Zürich, die anderen warnen vor den überbordenden Problemen des Drogenhandels und der Prostitution. Wie erleben Migrantinnen diesen „problematischen“ Raum als Bewohnerinnen? Wie gehen sie mit auftauchenden Problemen um und welche Ressourcen kann ihnen das verruchte Wohnquartier zur Verfügung stellen?

SOZ-MAG Beitrag von Christina Maag

Die bewegte Geschichte des Kreis 4 trägt dazu bei, dem Stadtteil einen im Verhältnis zur Gesamtstadt besonderen Status zu verleihen. So wurde über Jahrhunderte alles Unerwünschte aus Zürich ins Aussersihl verlagert, ins Gebiet des heutigen Kreis 4: der Zentralfriedhof, das Siechenhaus, die Fabriken und die Arbeiterunterkünfte. Auch die ausländische Bevölkerung, vor allem Arbeiter aus Italien und Deutschland, siedelte sich bereits um 1900 im Aussersihl an. Die Italiener waren damals noch Anlass zu gewalttätigem Protest (Italienerkrawalle), man hatte Angst, dass das als proletarisch-kleinbürgerlich verstandene Viertel zum Slum verkommt. Ähnliche Ängste zeigten sich wieder in den 80er Jahren, als die Italiener langsam den Kreis verliessen und Migranten aus Ex- Jugoslawien, Brasilien und Asien sie allmählich ersetzten.

Der Ausländeranteil im Kreis 4 ist in Zürich mit 43% der höchste und wird nebst der Kriminalitätsrate, den vielen Sozialhilfebezügern, dem Milieu und dem Drogenhandel immer wieder dazu benutzt, den Kreis abzuwerten. Bisweilen wird die hohe Konzentration der ausländischen Bevölkerung aber auch als positive Eigenschaft verwertet. Zum Beispiel wenn das Langstrassenquartier vom Stadtmarketing der Stadt Zürich als farbenfrohes, multikulturelles Quartier präsentiert wird.

Der Kreis 4 lässt sich grob in zwei Quartiere unterteilen. Auf der einen Seite das Langstrassenquartier, das über Zürich hinaus seit Jahrzehnten seinen berühmt berüchtigten Status als „Sex- und Drogenmeile“ hält, von den meisten Bewohnern aber als heterogenes und farbiges Quartier geschätzt wird. Auf der anderen Seite das Hardquartier, welches vor allem durch die vier Hochhäuser der Hardau 2 geprägt ist, als Wohnquartier genutzt wird und unter der enormen Verkehrsbelastung durch die Westtangente leidet.

Der Kreis 4 aus der Perspektive von Migrantinnen

Dieser Kreis 4, der ständig zwischen Auf- und Abwertung schwankt, mit Zuschreibungen überflutet wird und in seine beiden Quartiere gespalten ist, soll im Folgenden aus der Perspektive von Migrantinnen, die in der ersten Generation in der Schweiz leben, betrachtet werden. Wie nehmen Migrantinnen ihr Wohnquartier wahr, und stellt dieses überhaupt einen relevanten Bezugspunkt für sie dar? Mich interessierte, mit welchen spezifischen Problemen sich Migrantinnen auseinandersetzen müssen, weil sie gerade im Kreis 4 und nicht in einem anderen Quartier wohnen. Wie gehen sie mit auftretenden Problemen um? Welche Strategien entwickeln sie? Und welchen Nutzen ziehen die Migrantinnen aus ihrer speziellen Wohnsituation? Um diesen Fragen nachzugehen, habe ich mit verschiedenen Migrantinnen, die alle noch nicht lange in der Schweiz und im Kreis 4 leben, längere offene Interviews geführt. Die interviewten Frauen verlassen alle den Kreis 4 nur selten und ihr Alltag wird stark von der Betreuung der Kinder und der Haushaltsführung dominiert. Der gesamte Forschungsprozess wurde im Stil der Grounded Theory geführt. Der Kreis 4 soll als räumliche Struktur verstanden werden, die einerseits durch die Verfestigung sozialer Beziehungen im Raum entstanden ist und zum physischen Bezugsrahmen der heutigen Bewohnerinnen wurde. Anderseits wird der Raum immer wieder durch die Bewohnerinnen neu konstruiert (Bourdieu 1991).

Fatlinda* ist Albanerin aus Mazedonien und kam vor 10 Jahren in die Schweiz. Seit ihrer Ankunft lebt sie in derselben Wohnung direkt an der Hardstrasse, auf der sich täglich die Autos und die Lastwagen stauen. Fatlinda ist verheiratet und hat zwei kleine Kinder, um deren Betreuung sich ihr Alltag dreht. Ihre Wahrnehmung des Kreis 4 gliedert sich in verschiedene Ebenen, die sich aus den unterschiedlichen Ansprüche ans Wohnquartier ergeben, die sie für sich alleine und für ihre Kinder hat. Wenn sie ihre Kinder ausklammert, bewertet Fatlinda ihr Quartier durchaus positiv. Sie schätzt die nahen Einkaufsmöglichkeiten und den Anschluss an den öffentlichen Verkehr. Dadurch, dass sie bereits 10 Jahre am selben Ort lebt, fühlt sie sich wohl im Hardquartier. Sie kennt die Umgebung und weiss, wie sie sich am Besten zurechtfindet. Problematisch wird das Hardquartier dann, wenn sie es aus den Augen einer Mutter zweier kleiner Kinder betrachtet. Die Nähe zur Langstrasse und zu ihren Seitengassen, wo die Prostitution im öffentlichen Raum sichtbar wird, erscheint ihr als Bedrohung für ihren älteren Sohn und sie beginnt sich an den Nacktfotos vor den einschlägigen Lokalen zu stören. Als ich sie im Interview darauf anspreche, ob sie denn Angst um ihren Sohn habe, wenn er grösser wird und besser versteht, was um ihn herum geschieht, sagt sie:

„Ja, daran denke ich immer! Und ich sage mir: Wie kann ein Kind hier leben, wenn ich sehe, was da draussen alles passiert? Er ist ja noch so klein. Er weiss nicht, was hier alles passiert.“

Anhand der zwei unterschiedlichen Perspektiven, die Fatlinda auf ihr Wohnquartier hat, werden schon einige Punkte ersichtlich, auf die ich im folgenden detaillierter und anhand verschiedener Beispiele eingehen möchte. Zuerst möchte ich jedoch noch kurz auf den Kreis 4 als „problematisches“ Quartier und auf die Raumaneignung eingehen.

Raumaneignung im problematischen Quartier

Aufgrund der Segregationsprozesse, welche in allen modernen Grossstädten zu beobachten sind, leben Migrantinnen oft in einem Quartier, das sie nicht selbst frei auswählen konnten. Da die interviewten Migrantinnen meist alleine für ihre Kinder zuständig sind, den Haushalt führen und zum Teil keiner Erwerbsarbeit nachgehen, ist ihr Alltag stark ans Quartier gebunden. Sie verlassen es nach eigenen Aussagen kaum und müssen sich dadurch einen problematischen Raum als Wohnquartier und ständigen Lebensraum aneignen. Die Aneignung eines Raumes besteht darin, dass man sich in diesem frei bewegen kann und sich wohl fühlt. In einem angeeigneten Raumabschnitt verweilt man gerne. Das eigene Wohnquartier sollte im Idealfall ein solcher angeeigneter Raumabschnitt sein. In der Raumaneignung kann sich soziale Ungleichheit ausdrücken. Versteht man die Raumaneignung zusätzlich als Möglichkeit, Raum zu besitzen, spiegelt sie soziale Ungleichheit gleich doppelt: In den unterschiedlichen Möglichkeiten der freien Raum- bzw. Wohnortswahl und im Ausmass der Bewegungsmöglichkeiten der verschiedenen Akteure in diesem Raum.

Die Wohnortswahl ist im Falle der interviewten Migrantinnen stark eingeschränkt und die Bewegungsmöglichkeiten im Kreis 4 sind durch die sich im Raum manifestierenden Bedrohungen und Unannehmlichkeiten wie Drogenhandel, Prostitution oder hohes Verkehrsaufkommen beschränkt.

Um sich das problematische nahe Umfeld trotzdem als Wohnumfeld anzueignen, entwickeln die Migrantinnen Strategien der lokalen Aneignung (Berger et al. 2002), die einerseits in ihrer Lebensgeschichte als Migrantinnen und anderseits in der spezifischen Struktur des Kreis 4 begründet sind. Diese lassen sich in Strategien des Zurechtkommens und Strategien der Etablierung unterteilen. Strategien des Zurechtkommens zielen auf die Bewältigung alltäglicher, sich im Raum ergebender Probleme. Strategien der Etablierung dienen der Identitätsbildung und dem Statuserwerb im problematisierten Raum.

Strategien des Zurechtkommens

Im Umfeld der Langstrasse zeigt sich die Prostitution deutlich im öffentlichen Raum. Für den sinnvollen Umgang mit diesem und anderen im Raum manifesten „Problemen“, entwickeln die interviewten Migrantinnen Strategien, die oft durch eine Form der Verdrängung dieser Probleme charakterisiert sind. Probleme wie Prostitution und Drogenhandel werden zwar wahrgenommen und als Spezifika des Kreis 4 registriert, gleichzeitig aber so auf Distanz gehalten, dass sie nicht ins persönliche Leben eindringen können.

Rose zum Beispiel, die vor 5 Jahren aus Kamerun in die Schweiz gekommen ist und seither in unmittelbarer Nähe zum Langstrassenquartier lebt, ist eine aufmerksame Beobachterin ihres Wohnquartiers: „Et puis, je vis dans ce quartier ici, je vois beaucoup de choses“. Sie unterscheidet aber deutlich zwischen dem Langstrassenquartier als ihr Wohnquartier und Zuhause und dem Langstrassenquartier als Tummelfeld der „petits bandits“. Sie selbst hat keine Probleme damit, im Langstrassenquartier zu leben. Ihre Wohnsituation nimmt sie als gegeben hin. Trotzdem betont sie, dass das Leben im Langstrassenquartier nicht einfach ist, wenn man sich ins engere Milieu des Quartiers einmischt. Um die Diskrepanz zwischen den wahrgenommenen Problemen und dem eigenen Wohlbefinden im Quartier zu verringern und im Alltag zurechtzukommen, wählt Rose die „Äffchenstrategie“: Augen und Ohren zu und durch.

„Même à l’intérieur de ce quartier je peux vivre. Mais je vis. Je ferme les oreilles, les yeux, comme ça, ça passe, je vis là.“

Eine weitere Strategie des Zurechtkommens kann der völlige Ausschluss von bestimmten Teilräumen aus dem als Wohnquartier erfahrenen Raum bedeuten. Das nächste Umfeld der eigenen Wohnung ist dann nicht mehr angeeigneter Raum, in dem man sich wohl fühlt, sondern nur noch Transitraum. So ist die Langstrasse für die befragten Migrantinnen kaum der Ort, an dem sich das Quartierleben abspielt und man Freunde und Bekannte trifft. Die Langstrasse existiert oft nur als direktester Weg zwischen Wohnung und Einkaufszentrum, der Migros am Limmatplatz. Das eigentliche Wohnquartier beginnt dann erst wieder, wenn der problematische Raum, den man sich nicht aneignen kann, durchquert worden ist.

Eine noch defensivere Strategie des Zurechtkommens im Wohnquartier ist der Rückzug aus dem öffentlichen Raum. Dieser manifestiert sich vor allem als Rückzug der Kinder aus dem öffentlichen Raum. Die Integrität der Kinder scheint durch das problematische Verhalten anderer Quartierbewohner besonders gefährdet. Zugleich spielt die „gute Erziehung“ der Kinder als Investition in die Zukunft eine wichtige Rolle im Migrationskontext. Fatlindas älterer Sohn etwa spielt kaum draussen. Zwei weitere interviewte Migrantinnen, beides Albanerinnen, haben je einen 18-jährigen Sohn zu Hause. Beide sehen es nicht gerne, wenn dieser „zu lange draussen ist“. Sie nehmen die Stigmatisierung der albanischen Bevölkerung im Kreis 4 indirekt über ihre Söhne wahr und wissen ganz genau, dass albanische Jugendliche häufig mit Gewalt und Konflikten in Verbindung gebracht werden. Die Gefahr, dass ihre eigenen Kinder mit Problemen wie Gewalt oder Alkoholmissbrauch unter Jugendlichen in Berührung kommen oder damit in Verbindung gebracht werden, scheint ihnen im Kreis 4 ungemein grösser, als an anderen Orten. Die Mütter reagieren darauf mit verstärkter Kontrolle und versuchen, ihren Söhnen die eigene Wohnung möglichst schmackhaft zu machen, indem sie ihnen alle möglichen technischen Geräte zur Verfügung stellen: Fernseher, DVD-Player und Gamekonsolen.

Strategien der Etablierung

Die Strategien der Etablierung gehen über ein blosses Zurechtkommen im Kreis 4 hinaus. Sie dienen dazu, die eigene Position auf dem selbst definierten Weg der Integration zu stärken und sozial aufzusteigen Dabei muss in erster Linie dem Wohnen im problematisierten Raum Legitimation verschafft werden, da der soziale Aufstieg durch den Wegzug in ein „besseres“ Quartier aus verschiedenen Gründen nicht möglich ist. Dies erfolgt etwa dadurch, dass ein anderes Quartier abgewertet wird und die relativ dazu bessere eigene Situation betont wird. Bei den Migrantinnen, die im Hardquartier leben, geschieht diese Abwertung unisono über das Langstrassenquartier. So wird die Ruhe im Hardquartier der Distanz zur Langstrasse zugeschrieben. Durch diese Distinktion verbessert sich die relative eigene Position im sozialen Gefüge der Gesamtstadt. Man wohnt besser, als die Anderen. Fatlinda zum Beispiel ist täglich einem enormen Verkehrsaufkommen ausgesetzt und lebt mit ihren zwei kleinen Kindern, ihrem Mann und einem Cousin in einer Zweizimmerwohnung. Trotzdem ist ihr das Hardquartier immer noch lieber, als das Langstrassenquartier.

„Uns geht es gut hier. Aber der Stadtteil da beim Helvetiaplatz gefällt mir gar nicht. Aber hier ist es nicht so schlimm. Höchstens wegen den Autos und dem Staub. Die Luft ist nicht so gut.“

Die Distinktion von einem anderen Quartier, das dem eigenen räumlich nah ist, geschieht zusätzlich über die Zurückweisung des dort „angesiedelten“ Lebensstils, mit dem man selbst nichts zu tun haben will. Diese Zurückweisung hängt mit der eigenen Position als Migrantin zusammen und wird oft in Verbindung gebracht mit dem Fehlverhalten anderer Migranten. Die erfolgreiche Etablierung im Wohnquartier scheint als Zeichen einer geglückten Migration im Vordergrund zu stehen. Die Distinktion von den anderen Migranten funktioniert weitgehend über die Mechanismen der Etablierten-Aussenseiter-Beziehungen (Elias und Scotson 1990). Etablierten-Aussenseiter-Beziehungen sind Machtbeziehungen, die ihre Grundlage darin finden,dass die Etablierten über mehr Macht verfügen als die Aussenseiter. Die Etablierten sehen sich in dieser Beziehung als „bessere“ Menschen, was sie über die Stigmatisierung der Aussenseiter anhand gewisser zugewiesener schlechter Eigenschaften legitimieren. Die längere Wohndauer an einem Ort und die Kenntnisse sowie die Anwendung bestimmter Verhaltensnormen unterstützen die Etablierten im Erhalt ihrer Machtposition.

Die befragten Migrantinnen scheinen nun Strategien übernommen zu haben, denen sie sich selbst im gesamtgesellschaftlichen Kontext ausgesetzt sehen. So sind für die Migrantinnen die eigene Wohndauer im Quartier und die Übernahme der für sie als schweizerisch geltenden Verhaltensnormen des Zusammenlebens Grundlage der Abgrenzung von anderen Migranten. Als Illustration soll folgender Gesprächsausschnitt zwischen Azem und seiner Frau Hazire dienen. Azem lebt seit zwölf, Hazire seit vier Jahren in unmittelbarer Nähe der Langstrasse. Vor allem Hazire betont während des Interviews immer wieder ihre enge Bindung an den Kreis 4 und die Tatsache, dass sie sich gut im Quartier integriert hat.

Azem: „Was mich hier im Kreis 4, wo wir wohnen, sehr wütend macht, sind die Schwarzen aus Brasilien, die hierher kommen…“ Hazire: „…die wollen sich nicht integrieren, oder? Und sie denken, dass sie in Brasilien sind. Sie sprechen laut und so…“ Azem: „…ich habe oft vom Balkon runter geschrieen: Du, du bist nicht in Brasilien!...“ Hazire: „…das ist nur im Sommer so!“ Azem: „…du bist in der Schweiz. Ich habe viele Nachtschichten und ich schlafe dort drüben und ich will in Ruhe schlafen. Die machen immer so viel Lärm, weil da in der Ecke gleich ein Restaurant ist und alle Huren hierher kommen und in hohen Tönen sprechen.“ Hazire: „…momentan höre ich nicht so viel von ihnen.“ Azem: „Jetzt ist es kalt, alle sind drinnen. Es ärgert mich einfach. Und ich habe ihnen gesagt, dass sie nicht in Brasilien sind. Sie müssen wissen, die Leute hier sind alle knapp [bei Kasse] und müssen arbeiten.“

Hazire und Azem pochen beide auf ihre erfolgreiche Integration in der Schweiz, wobei sie die strukturelle Benachteiligung, der sie beide auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt ausgesetzt sind, ignorieren. Die Strategien der Etablierung führen zu einer Festigung der Identität auf kleinräumlicher Ebene. Diese Festigung der eigenen Identität kann systematisch mit dem Aufbau eines Beziehungsnetzes im Quartier verbunden werden. Die sozialen Kontakte, die im Quartier aufgebaut werden, erhalten im Falle bedrohter gesamtgesellschaftlicher Integrations- und Mobilitätschancen eine zentrale Funktion (Berger et al. 2002). Das Gefühl, im Quartier gut integriert und etabliert zu sein, stärkt das Selbstwertgefühl der Migrantinnen. Hazem und Azire haben zum Beispiel keine Chance, einen ihrer Ausbildung entsprechenden Beruf auszuüben. Azem war in seinem Herkunftsland Primarlehrer und arbeitet in der Schweiz als Gleisbauer. Das Quartier als spezifische Lebensumwelt kann aber für Hazire und Azem ein erster Ort der Integration in die Gesamtgesellschaft sein, wenn sie es verstehen, das Quartier als Ressource für sich zu nutzen. Darauf möchte ich im letzten Abschnitt noch genauer eingehen.

Nutzbarmachung prekärer Raumverhältnisse

Die beschriebenen Aneignungshandlungen sind die Voraussetzungen dafür, dass die Migrantinnen den Kreis 4 und ihr nächstes Wohnumfeld als Ressource nutzen können. Die Untersuchung solcher Ressourcen in Form von sozialen Beziehungen und den Möglichkeiten zur Generierung von sozialem Kapital in Problemquartieren ist einer der Schwerpunkte neuerer stadtsoziologischer Forschung. Im Zusammenhang mit Migration werden anhand ressourcenorientierter Ansätze vor allem die Chancen der Integration in die „Gesamtgesellschaft“ über eine so genannte Binnenintegration im Quartier diskutiert. Im Gespräch mit den Migrantinnen hat sich gezeigt, dass diese Binnenintegration in ihrem Selbstverständnis eine wichtige Rolle spielt und dass diese – entgegen einer weit verbreiteten Annahme – nicht nur innerhalb ethnisch segregierter Milieus verläuft.

Das Generieren von Kontakten über ethnische Grenzen hinweg geschieht bei den Migrantinnen zielorientiert und scheint Bestandteil einer vorwärtsgerichteten Integration in den Stadtteil zu sein. Die heterogene Struktur des Kreis 4 und die Präsenz verschiedenster Quartierprojekte scheinen diesen Prozess zu begünstigen. So erzählt zum Beispiel Teuta, die erst seit vier Jahren im Kreis 4 lebt und nach ihrer Ankunft in der Schweiz zunächst einige Zeit in Muotathal gelebt hat, wie es für sie im Kreis 4 einfacher ist, Kontakte ausserhalb des albanischen Netzwerks zu knüpfen. Das albanische Netzwerk bot ihr zwar ein erstes Auffangbecken, doch um ihren eigenen Weg der Integration zu gehen, sucht Teuta auch nach loseren Kontakten und erwirbt damit soziales Kapital, das sie besser nutzen kann. Nebst all den Problemen, die durch die räumliche Nähe verschiedenster kontrastierender Lebensstile entstehen können und der Tatsache, dass durch räumliche Nähe nicht zwingend soziale Kontakte generiert werden, scheint es doch gerade im Kreis 4 besonders gut möglich zu sein, sich vielfältige Kontakte auszusuchen und diese sinnvoll zu nutzen.

Durch die städtischen Segregationsprozesse treffen im Quartier einerseits Menschen aufeinander, die sich auch im sozialen Raum nah sind, was gemäss Bourdieu (1991) eine Kontaktaufnahme erleichtert. Anderseits zieht der Kreis 4 als innenstadtnahes Altbaugebiet vermehrt wieder Menschen an, die bereit sind, sich mit Migrantinnen auseinanderzusetzen und die den Kontakt zu Menschen aus ganz anderen Milieus nicht scheuen; so genannte „Gentrifier“: Studenten, Künstler, Galeristen.

Zudem sind das Sozialdepartement der Stadt Zürich sowie verschiedenste andere Organisationen mit den unterschiedlichsten soziokulturellen Projekten im Kreis 4 präsent. Obwohl einige dieser Projekte kaum evaluiert werden und teils schnell wieder versanden, scheinen doch die partizipatorisch angelegten Projekte, die eine Stärkung der Quartiersgemeinschaft zum Ziel haben und sich explizit auf das Quartier als besonderen Lebensraum beziehen, für die Migrantinnen wichtige Anknüpfungspunkte zu schaffen. In den Deutschkursen der Quartierzentren finden die Migrantinnen Freunde aus aller Welt. Diese Kontakte tragen zum Wohlbefinden im Quartier bei, was eine Grundvoraussetzung für die beschriebene Raumaneignung ist. Durch den guten Kontakt zum Gemeinwesenarbeiter des Kreis 4 hat etwa Hazire eine Stelle als Pflegerin bekommen. Sie konnte auf diese Weise ihr soziales Kapital in ökonomisches Kapital ummünzen und sich ihre im und durch den Kreis 4 erworbenen Ressourcen zu Nutzen machen.

Der Rückzug aus dem öffentlichen Raum einerseits und die Bedeutung der sozialen Kontakte andererseits verweisen auf einen Kreis 4, der jenseits der Aussenwahrnehmung dieses „Problemquartiers“ existiert. Seine Bedeutung als Wohnquartier erhält der Kreis 4 durch die sozialen Beziehungen und Kontakte. In den Gesprächen mit den Migrantinnen hat sich gezeigt, dass der physische Raum von den Migrantinnen hauptsächlich dazu benutzt wird, soziale Beziehungen zu knüpfen und zu verorten. Daneben dient der (Wohn-)Raum der Distinktion von anderen. Durch den Ausschluss von Teilräumen und der vergleichsweise starken Problematisierung der Prostitution deckt sich die subjektive Konstruktion des Quartiers durch die Migrantinnen auf räumlicher wie auf sozialer Ebene nicht mit der allgemeinen „Aussenperspektive“ auf den Kreis 4. Dem als problematisch wahrgenommenen Quartier kann zudem als strukturierende Einheit eine integrierende Funktion zukommen. Die Etablierung im Stadtteil kann durch die gewonnene Festigung der Identität und die Umsetzung sozialen Kapitals in ökonomisches Kapital zu einem erfolgreichen Aufstieg in einem anderen Bereich führen. Dies ist aber nur dann möglich, wenn die Migrantinnen über die entsprechenden Möglichkeiten verfügen, an die im Quartier vorhanden sozialen Kontakte und Ressourcen anknüpfen zu können.

* Die Namen der erwähnten Migrantinnen wurden geändert.

Christina Maag hat in Zürich Soziologie, Geographie und Ethnologie studiert. Im Rahmen eines Austauschsemesters in Berlin begann sie sich mit Stadtsoziologie im Allgemeinen und Quartiersentwicklung im Speziellen auseinanderzusetzen. Der Artikel basiert auf ihrer Lizentiatsarbeit, in der sie sich mit Migrantinnen im Zürcher Kreis 4 und deren Bewältigung des Alltags befasst. Christina Maag wohnt selbst nicht im Kreis 4, sondern in Oerlikon, dessen unspektakulären Vorstadtcharakter sie sehr schätzt.

Literaturauswahl:

Berger, Ch, B. Hildebrand und I. Somm (2002): Die Stadt der Zukunft. Leben im prekären Wohnquartier. Opladen.
Bourdieu, P. (1991): Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum. In: Wentz, M. (Hrsg.) (1991): Stadt-Räume. Die Zukunft des Städtischen. Frankfurter Beiträge, Bd. 2. Frankfurt und New York, 25-34.
Bremer, P. (2000): Ausgrenzungsprozesse und die Spaltung der Städte. Zur Lebenssituation von Migranten. In: Stadt, Raum Gesellschaft, Bd 11. Opladen.
Elias; N. und J. L. Scotson (1990): Etablierte und Aussenseiter. Frankfurt am Main.

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«Wer ernstlich über Sexualität zu sprechen beabsichtigt, kommt an der Gesellschaftsordnung nicht vorbei.»

Thomas Laqueur (1992): Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt am Main, S. 24.