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Illusionen und Visionen

Der Bildbeitrag „Gender Identity“ (im Original farbig) wurde uns von Judith Schönenberger zur Verfügung gestellt. Die Fotografin/ Grafikerin lebt in Bern und unterrichtet Bildnerisches Gestalten. 1997 – 2003 hat sie an der Hochschule der Künste in Bern und Enschede (NL) studiert. Ihre neuesten Werke sind vom 15. – 21. Juni 04 an der ART 34, Halle 3°, in Basel zu sehen. Im September 04 folgt eine Ausstellung im Atelier Worb. Weitere Arbeiten und Kontakt: » diefotografin

SOZ-MAG Beitrag von Jacqueline Born

Auf den ersten Blick gibt es wohl nichts Eindeutigeres als Mann und Frau. Jedes Kind kann intuitiv eine Frau von einem Mann unterscheiden, und jedes Kind lernt schon ganz früh, sich als Eines von Beiden zu identifizieren: als Mädchen oder als Junge. Das Frau- und Mann-Werden sind komplexe Prozesse, in deren Verlauf die komplizierten Rollenvorschriften und Verhaltensweisen für jedes Geschlecht eingeübt und internalisiert, und diejenigen des anderen Geschlechts ausgeschlossen und tabuisiert werden.

Das herrschende, konservative Verständnis von Geschlecht ist ein Biologisch-essentialistisches. Es erklärt die Unterschiede zwischen Mann und Frau fast ausschliesslich mit den naturgegebenen, anatomischen Unterschieden zwischen den beiden Geschlechtern.

Simone de Beauvoir schrieb 1949: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht.“ Damit legte sie den Grundstein für die existentialistische Sichtweise von Geschlecht, wonach der Mensch frei geboren wird und im Laufe seines Lebens unter gesellschaftlichen Einflüssen geformt wird, er aber auch – wenn er sich dessen bewusst ist – diesen Einflüssen nicht ohnmächtig ausgeliefert ist.

Unter dem Einfluss von de Beauvoir wurde durch die feministische Theorie die Unterscheidung zwischen „sex“ (körperliches Geschlecht) und „gender“ (soziales Geschlecht/ Geschlechtsidentität) eingeführt. Die Entkoppelung von Anatomie und Geschlecht ist wesentlich für ein neues, emanzipiertes Verständnis von Geschlecht.

Die modernen Geschlechtertheoretikerinnen, deren berühmteste Vertreterin die amerikanische Philosophin Judith Butler ist, haben den existentialistischen Ansatz von Simone de Beauvoir weitergeführt und zum sogenannten Dekonstruktivismus ausgebaut. Butler bestreitet die Existenz einer essentiellen, das heisst. von Geburt an und natürlich gegebenen Geschlechtsidentität, welche sich in den Handlungen, Gesten und Sprache der Menschen, je nach Mann oder Frau unterschiedlich, ausdrückt.

Butler unterscheidet nicht zwischen echter und imitierter Geschlechterperformanz. (Performanz verweist auf die Darstellung von Geschlecht, und zwar nicht als Ausdruck eines inneren Geschlechterkerns, sondern als ritualisierte Wiederholung von Verhaltensvorschriften, welche auf die Dauer die Illusion einer Geschlechtsidentität erzeugt.) Die Inszenierung des Transvestiten, also des biologischen Mannes, der eine Frau darstellt, ist genau so echt bzw. kopiert, wie die „normale“ Frau-Darstellung der biologischen Frau. Jede Darstellung von Geschlecht ist immer nur eine individuell interpretierte Nachahmung einer Fiktion. Die Vorlagen sind durch gesellschaftliche Diskurse erzeugte, normative Bilder von Mann und Frau.

Der radikale Dekonstruktivismus beabsichtigt die vollständige Loslösung des Geschlechts von der Anatomie der menschlichen Körper. Lesben, Schwule und Transgender leben selbstbewusst neue geschlechtliche Existenzweisen. Transgender, Multigender, Intergender und Non-Gender explorieren den geschlechtlichen Raum zwischen den Polen Mann und Frau und qualifizieren Geschlecht als ein Feld unendlicher Möglichkeiten. Identität und Geschlechtsidentität werden in ihrer Stabilität und Kontinuität demontiert und zu schillernden, facettenreichen, sich ständig verändernden Formen individuellen und kulturellen Ausdrucks transformiert, deren Grenzen nicht mehr durch die Vorgaben des humanen Körpers, sondern nur noch durch die Horizonte der menschlichen Imagination gesetzt sind. Durch die mögliche geschlechtliche Selbstdefinition jedes einzelnen Menschen werden immer neue geschlechtliche Kategorien geschaffen. Die binäre Geschlechterstruktur weicht schliesslich einer fraktalen Geschlechterordnung.

Jacqueline Born ist Wirtschaftsinformatikerin und leitet bei der Max Havelaar-Stiftung den Bereich Finanzen, Personal und Informatik. Berufsbegleitend studiert sie Ă–konomie und Gender Studies an der Uni Basel.

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«Liebe färbt zunächst das Erleben und verändert damit die Welt als Horizont des Erlebens und Handelns. Sie ist Internalisierung des subjektiv systematisierten Weltbezugs eines anderen.»
Niklas Luhmann: Liebe als Passion.