Die Transformation des Nationalstaates im Neoliberalismus
Neoliberalismus, Globalisierung und Internationalisierung der Politik sind Begriffe, die in der Regel mit dem Verlust der nationalstaatlichen Souveränität verbunden werden. Der „Rückzug der Staates“ wird von den einen begrüsst und von den anderen bedauert. Im folgenden Artikel wird diese These der „Staatsschwächung“ kritisiert. Hinter jeder Gesellschaftsform steckt eine Form des Politischen und auch die Ökonomisierung der Gesellschaft ist ein politischer Prozess, der auf einen starken Staat angewiesen ist.
SOG-MAG Beitrag von Maria Markantonatou
Die Souveränität des traditionellen Nationalstaates wird heutzutage mehr als je zuvor in seiner Geschichte in Frage gestellt. Aus den Debatten zwischen Globalisten, Hyperglobalisten und Globalisierungsskeptikern sowie zwischen Parteien, Interessengruppen, politischen Eliten und NGOs hat sich ein Marathon von Begriffen, Argumentationen, Thesen und Gegenthesen hinsichtlich der Rolle des Staates in den verschiedenen Modernisierungsprozessen ergeben.
Wenn man den Versuch unternimmt, den kleinsten gemeinsamen Nenner dieser Kontroversen zu finden, muss man davon ausgehen, dass es sich beim Globalisierungsprozess um einen grundlegenden Wandel der modernen Staatlichkeit handelt. Die Ansichten, die einen angeblich unvermeidlichen Abschied von der Politik konstatieren, deuten zugleich – einem ökonomistischen Postmodernisierungsmodell zuliebe - ein Primat der neo-liberalen Management- und Privatwirtschaft über das politische Handeln an (Stichwort: das „New Public Management“ der Administration und die Adaption von privatwirtschaftlichen Methoden von Seiten der staatlichen Wirtschaftspolitik).
Auf der anderen Seite sollen die Internationalisierungs-Auffassungen des Staates auch als Staats-schwächungs-thesen verstanden werden. Sie gehen von einer intensiven Denationalisierung des Staates aus, die im Zeichen der angeblich zunehmenden Integration der Europäischen Union nach dem Nizza-Vertrag stattfindet.
In diesem Rahmen wird etwa von Ulrich Beck und Antony Giddens betont, dass - mehr als eine Auflösung des Konzepts des Politischen - die Entstehung einer neuen, aus nationalen und transnationalen Faktoren bestehen-den Staatsform zu beobachten ist. Die These der Staatsschwächung ist somit zwar nicht abzulehnen, die Ansicht eines Abschieds vom Staat als Ausdruck des Politischen aber sehr wohl. Die Argumentationslinien der Staatsschwächungstheorie beziehen sich auf drei Prozesse: die Globalisierung, die Neoliberalisierung der Ökonomie und die Internationalisierung der Politik.
Diese drei Prozesse werden üblicherweise als Gründe dafür dargestellt, dass der Staat (als Nationalstaat und als Staatlichkeit) sich entweder modernisiert, in eine Herrschaftskrise gerät oder sich minimalisiert. Zusammenfassend können die Argumente der Staatsschwächungsthese folgendermaßen beschrieben werden:
Neoliberalisierung des ökonomischen Modells
Aus dem Niedergang des Keynesianismus resultierte der Ausstieg aus der wohlfahrtsstaatlichen Politik und die Einführung ergebnis- und effektivitätsorientierter Funktionskriterien in die öffentliche Verwaltung, welche die Sprache und die Prinzipien der Privatwirtschaft widerspiegeln und reproduzieren. Die Ölpreisschocks von 1973/74 und 1978 haben die Erwartungen in das wirtschaftliche Wachstum und das entsprechende ökonomische Modell der Verteilung der Ressourcen gemäß den Modellen der Vollbeschäftigung und der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen gedämpft. Der aus den Konsequenzen der Krise des Keynesianismus erwachsene Zustand, der deutlich von den politischen Tendenzen des Thatcherimus und des Reaganismus verwirklicht wurde, hat dazu geführt, dass sich die Anpassung des Staates an das neue ökonomische Modell als „Modernisierung“ interpretieren lässt.
Globalisierung
Im Angesicht der Globalisierung bzw. Entnationalisierung der Ökonomie erscheint das Eingreifen des Staates in die Neoliberalisierungsprozesse als sehr begrenzt. Zusammen mit den ständigen (Teil-) Privatisierungen reduziert dies seine Rolle nicht nur als Koordinator der Wirtschaft, sondern auch der sozialen Ordnung. Die „unsichtbare Hand“ des Marktes ersetzt die Staatsmacht. Aus solchen Überlegungen heraus weisen die Globalisierungsgegner auf die Politisierung der zunehmenden Wirtschaftsmacht weniger globaler Unternehmen hin. Die vereinfachende Ansicht jedoch, dass politische Entscheidungen nicht mehr von Regierungen getroffen werden, sondern von a priori an Profitmaximierung orientierten transnationalen Konzernen, unterstreicht die politische Bedeutung einer Reihe von Marktorthodoxien (die Gesellschaft als Marktgesellschaft, der Bürger als Kunde, die Politik als Verwaltung der Wirtschaft). Sie übersieht aber die Tatsache, dass die ökonomische Globalisierung nicht nur außerhalb des nationalstaatlichen Raums, sondern auch in seinem Innern stattfindet, und nicht nur in Konflikt mit manchen Politikbereichen oder Interessen des Nationalstaates, sondern auch in Zusammenarbeit mit dem Nationalstaat.
Europäisierung der Politik
Gerade durch das Parteiensystem wird der Nationalstaat verewigt. Das Parteiensystem kann nicht außerhalb des Nationalstaates Bestand haben. Ex definitione sind die Parteien national und bedienen, was sie als „nationales Interesse“ verstehen. Eine Partei kann europäische Orientierungen haben oder nicht, verbleibt aber eine nationale Partei, ansonsten kann sie nicht Partei genannt werden. Aus der Perspektive der Wähler sind die Parteien viel konkretere und verständlichere Kontrollakteure, die wahrnehmbare und gegenständliche politische Programme garantieren können, als die breiteren, außer-nationalen Machtorganisationen, die keine Stütze für das alltägliche, nationalstaatlich bestimmte Gesellschaftsleben leisten können.
In vielen Ländern gewinnen sogar antieuropäische und nationalistische Parteien Zulauf (wie das Beispiel der rechtsextremistischen Partei von Jean-Marie Le Pen zuletzt im April 2002 bei der Wahl des Staatspräsidenten in Frankreich zeigte). Die Revitalisierung bestimmter nationalistischer „Erzählungen“ und Mythen (narratives), die Zunahme der Fremdenfeindlichkeit und die Stärkung bestimmter nationalistischer Parteien zeigen, dass der Nationalstaat oder der Bedarf nach einer nationalstaatlichen Sozialkontrollordnung trotz internationaler politischer Organisationen nicht so leicht „verschwindet“.
Nicht nur das Parteiensystem bleibt national fixiert; auch die Globalisierungsprozesse werden wesentlich durch den Nationalstaat vermittelt. Der Grund dafür ist, dass der Staat die ökonomischen Anforderungen mit den sozialen Rechten und den Arbeitsbedürfnissen in Übereinstimmung bringen muss. Ein Verschwinden des Nationalstaates (oder ein Minimalstaat) würde zu einer gesellschaftlichen Krise führen. Wie Theoretiker wie Michel Agliatta und Rüdiger Voigt diskutiert haben, führt die Globalisierung weder zum Verschwinden der Nationen noch zu einem Minimalstaat, sondern sie verlangt eine neue Strukturierung der vom Bretton-Woods-Abkommen geprägten sozial-ökonomischen Institutionen und sie fordert von staatlicher Seite zur Absicherung seiner Wettbewerbfähigkeit ein Handeln, das im nationalen Rahmen Ausdruck findet.
Die Modernisierungstheorie sucht nach Erklärungs-modellen, um das sichere Verschwinden bestehender oder geschichtlicher Institutionen skizzieren zu können. Enttraditionalisierung bedeutet aber gerade nicht, dass eine traditionslose Modernität entstanden ist, sondern vielmehr, dass aus einer national reflektierten Tradition schrittweise ein neues Konzept der Nationalstaatlichkeit geschaffen wird.
Der Nationalstaat modernisiert sich dadurch, dass er seine Souveränität mit anderen hierarchisierten, internationalen Akteuren, zum Beispiel der Europäischen Union, teilt. Der Vorgang der Transnationalisierung schafft ein Kettensystem, das das politische Entscheidungssystem nicht nur zwischen nationalen und internationalen Akteuren, sondern auch zwischen politischen, ökonomischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren teilt. Fehlende Befugnisse der Europäischen Union werden vom Nationalstaat ersetzt und umgekehrt. Das ganze politische, internationale System wird vielgestaltig, mehrstufig und multipolar.
Selbst innerhalb der Europäischen Union sind die Souveränitäten verteilt und von daher handelt es sich gleichzeitig bei dieser Souveränitätsverteilung nicht nur um Mitsouveränitäten, sondern auch um Machtasymmetrien (z.B. die asymmetrische Machtverteilung zwischen dem Ministerrat, insbesondere den Staats- und Regierungschefs und dem Europäischen Parlament, die die Diskussion über das Demokratiedefizit und die uneffektiven Bürokratieverhandlungen innerhalb der EU hervorruft).
Die Europäische Union ist ein hochkomplexes, verflochtenes Verhandlungssystem mit unterschiedlichen, miteinander verbundenen Politik-Arenen. Es handelt sich um ein Mehrebenensystem. Die intra-gemeinschaftliche Ebene (wo supranationale Akteure, wie die EU-Kommission, transnationale Interessengruppen oder Organisationen handeln), die internationale Ebene (wo nationale Akteure in supranationalen Politik-Arenen handeln) und die intra-nationale Ebene (wo nationale Akteure - öffentliche wie private - in der nationalen Politik-Arena handeln, um den jeweiligen nationalen Standpunkt zu den europäischen Institutionen zu ermitteln) existieren nebeneinander und teilen ihre Souveränität.
Zwischen den verschiedenen Aktionsebenen bestehen formelle und materielle Abhängigkeiten und Aufgabenverteilungen. Die Beteiligung nationaler und kommunaler Akteure an supranationalen Entscheidungsprozessen wird gleichzeitig intensiviert. Nicht selten überschneiden sich europäische Politiken mit nationalen Kompetenzen, Zielen und Programmen. Folglich entsteht auf den verschiedenen Ebenen Konkurrenz um Zuständigkeiten und Ressourcen.
Aber ob Europäisierung der bewusste Verzicht auf die Souveränität des Nationalstaates oder ob sie eine pragmatische, unvermeidliche Reaktion auf die ständig komplizierter werdenden Wirtschafts-, Kultur- und Gesellschaftsumstände ist, die eine neue Organisation politischer Macht verlangt, ist eine Frage nach der Art und Weise, wie der Nationalstaat als politischer Akteur funktioniert, bzw. eine Frage nach dem Verständnis des Konzepts der nationalstaatlichen Souveränität.
Die Gesellschaftsordnung und der Nationalstaat
Das festgelegte Szenario des Abschieds vom (National)staat im Rahmen der Internationalisierung der Politik und der Globalisierung lässt das Funktionieren des Staates nach innen, nämlich die soziale Kontrolle und die Bewahrung der Ordnung durch das Recht und das Gewaltmonopol ausser Acht.
Die Ansicht, dass sich die zunehmende Privatisierung der Sicherheit, die oft als Indikator des Staatsversagens bezeichnet wird, separat vom Staat oder in Konkurrenz mit dem Staat entwickelt, übersieht die Tatsache, dass die Kosten der Ordnung, die der Staat vermeiden kann, von privater Hand übernommen werden. Die Privatisierung – die eine Privatisierung der Sicherheit und nicht des Gewaltmonopols ist - funktioniert aber nicht gegen die Staatsaufgaben, sondern neben ihnen. Darüber hinaus sollte man nicht unterschätzen, dass Privatisierung ein Staatshandeln und Kriminalpolitik eine Politik ist. Der Staat kann nicht weggedacht werden, er ist der Kern aller politischen und somit sozialen Prozesse.
Der Grundkonsens der gesellschaftlichen Kohäsion wird im Zusammenspiel mit der jeweiligen Form des Politischen gestaltet, egal, ob diese Form die Ökonomisierung der Gesellschaft vorantreibt oder nicht. Hinter jeder Gesellschaftsform verbirgt sich eine Form des Politischen, die ein System sozialer Ordnung in Gang setzt.
Weil die Expansion der kapitalistischen Wirtschaft zu einem heftigen Sturm von Deregulierungen führt, und weil das „Marktprinzip“ stärker als irgendein anderes ist, wird das Bild des Menschen als homo oeconomicus immer mehr gefestigt.
Es muss aber hervorhoben werden, dass keine Typologie der menschlichen Natur allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann. Die Verflechtung zwischen unterschiedlichen Prozessen bringt ein zunehmendes Bedürfnis nach einer politischen Regulation des modernen demokratischen Pluralismus hervor. Die pluralistische Gesellschaft ist eine politische Gesellschaft. Der oft als homo oeconomicus bezeichnete Mensch des Neoliberalismus hat nie damit aufgehört, auch ein zoon politikon zu sein.
Maria Markantonatou hat Soziologie und Politikwissenschaft in Athen studiert. Zur Zeit schreibt sie am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg ihre Doktorarbeit zum Thema „Der Modernisierungsprozess staatlicher sozialer Kontrolle – Transformationen des Staates im Zeichen des Neoliberalismus“.
Literaturauswahl
Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1999): Staat, Nation, Europa: Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main.
Butterwegge, Christoph, Kutscha, Martin, Berghahn, Sabine (Hrsg.) (1999): Herrschaft des Marktes? – Abschied vom Staat?: Folgen neoliberaler Modernisierung für Gesellschaft, Recht und Politik, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden- Baden.
Grande, Edgar, Prätorius, Reiner, (Hrsg.) (1997): Modernisierung des Staates?, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden- Baden.
Huf, Stefan (1998): Sozialstaat und Moderne. Modernisierungseffekte staatlicher Sozialpolitik, Duncker und Humbolt, Belin.
Saladin, Peter (1995):, Wozu noch Staaten? Zu den Funktionen eines modernen demokratischen Rechtsstaates in einer zunehmend überstaatlichen Welt, Verlag Stämpfli und Cie AG, Bern.
Voigt, RĂĽdiger (1996): Des Staates neue Kleider: Entwicklungslinien moderner Staatlichkeit, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden.
Wimmer, Hannes (2000): Die Modernisierung politischer Systeme. Staat, Parteien, Öffentlichkeit, Böhau Verlag Wien, Köln, Weimar.
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