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soziologie.ch soz:mag#10 organisierte wartebÀnke

organisierte wartebÀnke

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Jugendliche ohne Lehrstelle und Paradoxien der Massnahme „Motivationssemester“

Alle Jahre wieder beherrscht der anhaltende Lehrstellenmangel die sommerliche Tagespresse: Ein Viertel der Jugendlichen findet nach der absolvierten neunten Klasse keinen Anschluss in eine zertifizierende Ausbildung. Eines der mittlerweile zahlreichen BrĂŒckenangebote ist das „Motivationssemester“, welches vor zehn Jahren im Rahmen der Arbeitslosenversicherung geschaffen wurde. Mittels Beratung, BeschĂ€ftigung und Bildung sollen SchulabgĂ€ngerinnen und SchulabgĂ€nger auf die Anforderungen der Arbeitswelt vorbereitet werden. Doch welche AnsprĂŒche werden in solchen Programmen an Jugendliche gestellt? Dienen sie tatsĂ€chlich der nachhaltigen Integration in die Erwerbsarbeitsgesellschaft und vermögen sie die Unsicherheiten des Übergangs zu reduzieren? Interviews mit Jugendlichen und Experten sowie die Interpretation einer InformationsbroschĂŒre des Staatssekretariats fĂŒr Wirtschaft (Seco) ermöglichten die Rekonstruktion von Handlungslogik und Bedeutungsstrukturen. Sie bilden die Grundlage der im Folgenden formulierten Kritik am staatlichen Umgang mit Jugendarbeitslosigkeit.

SOZ-MAG Beitrag von Eva Heinimann

In der Holz- und Metallwerkstatt des Motivationssemesters Go! arbeiten etwa zehn Jugendliche. Sie stellen Produkte her, die vom Werkstattleiter vorgegeben wurden: ein Namensschild, eine Holzkiste, einen Bumerang, zum Schluss einen verstellbaren Pfannenuntersatz aus MetallstĂ€ben. Diese mĂŒssen zu gleichen LĂ€ngen zugeschnitten und nach einem bestimmten Prinzip zusammengefĂŒgt werden. Im Atelier nebenan sind vor allem weibliche Jugendliche an der Arbeit. Sie stellen aus alten Gummi-Pneus SchmuckstĂŒcke her. Wenn sie eine Bewilligung erhalten, dĂŒrfen sie die Produkte am nĂ€chsten Kunstmarkt in der Stadt verkaufen. Auf den ersten Blick ist klar: Es geht hier nicht in erster Linie um zielgerichtetes Arbeiten, sondern ums Arbeiten an und fĂŒr sich. „Die Jugendlichen lernen hier, was in der Lehre wichtig ist: PĂŒnktlichkeit, Sauberkeit, Ordnung“, meint der Werkstattleiter. Die Vermittlung klassischer Arbeitstugenden nimmt an den drei BeschĂ€ftigungstagen im Motivationssemester einen grossen Stellenwert ein. An den ĂŒbrigen Tagen werden die arbeitslosen SchulabgĂ€ngerinnen und SchulabgĂ€nger bei der Lehrstellensuche unterstĂŒtzt und erhalten Unterricht in den FĂ€chern Deutsch, Mathematik sowie Allgemein- und Persönlichkeitsbildung. Wer unentschuldigt fehlt oder mehrmals zu spĂ€t kommt, muss mit einer KĂŒrzung des Arbeitslosen-Taggelds rechnen.

Was wird von Jugendlichen wĂ€hrend eines Motivationssemesters erwartet? Das formulierte Ziel dieser arbeitsmarktlichen Massnahme besteht darin, die arbeitslosen SchulabgĂ€ngerinnen und SchulabgĂ€nger beruflich zu integrieren und damit eine nachhaltige gesellschaftliche Integration zu erreichen. Eine kritische Auseinandersetzung mit den institutionellen Strukturen und der spezifischen Handlungslogik der Motivationssemester verdeutlicht jedoch, dass diese Zielsetzung mit WidersprĂŒchen verbunden ist. Gerade im Kontext der staatlichen Aktivierungspolitik muss davon ausgegangen werden, dass individuelle Risiken des Scheiterns und des Ausschlusses durch institutionelle Anforderungen noch erhöht werden können.

Von der Notlösung zum BrĂŒckenangebot

Bereits eine erste Auseinandersetzung mit den Motivationssemestern lĂ€sst die Frage aufkommen, weshalb sich eine Arbeitslosenversicherung um Anliegen der Berufsbildung kĂŒmmern muss. Eigentlich ist sie doch darauf ausgerichtet, ehemals ErwerbstĂ€tige wieder in den Arbeitsprozess zu integrieren. Im Gegensatz zu anderen öffentlichen BrĂŒckenangeboten wie das 10. Schuljahr oder die sogenannten Vorlehren sind Motivationssemester nicht dem Berufsbildungssystem angegliedert. Ihre Entstehung ist vielmehr im Kontext des explodierenden Lehrstellenmangels Mitte der Neunziger Jahre zu verorten. Innerhalb von drei Jahren, zwischen 1990 und 1993, stieg die Zahl der 15- bis 24-jĂ€hrigen Erwerbslosen von 5‘000 auf 40‘000 an. Gleichzeitig bauten viele Betriebe unter den Bedingungen von Flexibilisierung und Rationalisierung Lehrstellen sukzessive ab. GemĂ€ss Simon Zysset, dem Deutschschweizer Koordinator der Massnahme, ist das erste „Projekt“ aus der damaligen Notsituation sehr spontan und unbĂŒrokratisch entstanden. Der Handlungsbedarf war evident. Der Staat, namentlich das verantwortliche Staatssekretariat fĂŒr Wirtschaft (Seco), stand unter öffentlichem Druck, quasi ĂŒber Nacht entschĂ€rfende Lösungen zu prĂ€sentieren. Im gleichen Zeitraum verabschiedete die Bundesversammlung ein 60-Millionen-Programm, bekannt unter dem Namen „Lehrstellenbeschluss 1“, welches die Grundsteine fĂŒr den Ausbau ĂŒberbrĂŒckender Massnahmen legen sollte.

Aus dem einstigen Pionierprojekt sind mittlerweile ĂŒber 60 weitere – in der Ausgestaltung Ă€usserst heterogene – Motivationssemester entstanden. Getragen werden sie in den meisten FĂ€llen von privaten Vereinen oder Organisationen des Non-Profit-Bereichs. Grundlage bilden die jeweiligen Leistungsvereinbarungen mit den zustĂ€ndigen kantonalen ArbeitsĂ€mtern. Der Besuch eines so genannten „Semos“ dauert in der Regel sechs Monate, wĂ€hrend denen die Jugendlichen ein minimales Taggeld von derzeit noch 450 Franken erhalten. Wer mindestens ein Jahr lang gejobbt hat, erhĂ€lt regulĂ€re Taggeld-Leistungen in der Höhe der einbezahlten BeitrĂ€ge. Die mit der Auszahlung solcher Taggelder verbundenen Anreiz-Wirkungen sind derzeit Gegenstand heftiger politischer Auseinandersetzungen. Das Seco hat kĂŒrzlich den Vorschlag eingebracht, die Taggelder fĂŒr Teilnehmende der Motivationssemester aufgrund „falscher Anreize“ und „Konkurrenzieren anderer BrĂŒckenangebote“ zu halbieren. Die mit Jugendlichen des Motivationssemesters Go! gefĂŒhrten biografischen Interviews weisen darauf hin, dass die Frage der Taggelder und deren Wirkungen tatsĂ€chlich einer kritischen Auseinandersetzung bedĂŒrfen. Sie sind aber nur Teil einer Palette von Paradoxien, welche die institutionelle Logik der Massnahme charakterisieren.

Erziehung zu Arbeitstugenden als Erfolgsrezept

Marc sucht eine Lehrstelle als Bauzeichner. Seit einem halben Jahr ist er bereits im Go! Er Ă€rgert sich immer wieder darĂŒber, dass er weniger Taggelder erhĂ€lt als die anderen „Dumpfbacken“, aber doch eigentlich mehr Bewerbungen schreibe. Da er nach der Schule zehn Monate gejobbt hat, erfĂŒllt er die Bedingungen fĂŒr den Bezug der 450 Franken Taggelder plus Spesen in der Höhe weiterer 400 Franken nicht. Nun erhĂ€lt er stattdessen bloss 500 Franken vom Sozialamt. Seine Erfahrungen mit sozialen Institutionen – seine allein erziehende Mutter ist IV-BezĂŒgerin – haben ihn misstrauisch gemacht. Aus seiner Sicht unterliegt er nun auch im Motivationssemester einem willkĂŒrlichen System von Geldzu- und -abflĂŒssen. Marc ist unmotiviert und gibt sich keine MĂŒhe, den Anforderungen der Massnahme gerecht zu werden. Der Unterricht sei „ehrlich gesagt extrem langweilig“ und wenn er bis Ende Monat nichts finde, werde er halt in eine weitere Massnahme „verfrachtet.”

Der Fall von Marc zeigt auf, dass der persönliche Umgang mit Misserfolgen und Frustrationen nicht ganz einfach ist. Wie der Name der Massnahme schon verrĂ€t, wird der „Motivation“ denn auch einen zentralen Stellenwert zugeschrieben. Hermeneutisch ausgelegt kommt dem Begriff „Motivationssemester“ jedoch eine stigmatisierende Bedeutung zu. Es wird suggeriert, dass die Notwendigkeit einer Teilnahme an dieser Massnahme mit der im Ausgangszustand ungenĂŒgenden Motivation der Jugendlichen zu tun hat. Erst mit der Wiederherstellung eines motivierten Zustandes wird gleichzeitig ein Erfolg am Arbeitsmarkt in Aussicht gestellt. Die hier anskizzierte Deutung des Begriffs Motivationssemester weist darauf hin, dass die Verantwortlichen der Massnahme, namentlich das Staatssekretariat fĂŒr Wirtschaft (Seco), den Lehrstellenmangel nicht in erster Linie als strukturelles Problem verstehen. Vielmehr sind es die Betroffenen selbst, welche mangels persönlicher QualitĂ€ten fĂŒr ihre Situation verantwortlich gemacht werden. Der Schwerpunkt der Massnahme, die Erziehung zu Arbeitstugenden in internen Ateliers und WerkstĂ€tten, verdeutlicht diese Haltung ganz konkret. Das „Trainieren“ von Eigenschaften wie Fleiss, Leistungswille und PĂŒnktlichkeit soll dahin wirken, einen jungen SchulabgĂ€nger in eine taugliche Arbeitskraft zu verwandeln. Dass dabei das ursprĂŒngliche Ziel der Motivationsförderung vergessen geht, kommt am Beispiel von Marc untrĂŒglich zur Geltung: Gerade institutionelle ZwĂ€nge und Strukturen können dazu beitragen, bereits vorhandene Frustrationen noch zu verstĂ€rken und die Lernbereitschaft endgĂŒltig auszuhöhlen.

Hauptsache eine Lehrstelle

Die aus Italien stammende Sara absolvierte nach der obligatorischen Schulzeit zunĂ€chst ein zehntes Schuljahr, danach mehrere SchnuppereinsĂ€tze und ein zehnmonatiges Praktikum in einem Spital. Immer noch ohne Lehrstelle meldete sie sich schliesslich beim RAV an und trat kurz darauf ins Motivationssemester Go! ein. Ihren ursprĂŒnglichen Berufswunsch Krankenschwester hat sie in der Zwischenzeit aufgegeben. Sie verfolgt nun zwei neue Berufsziele: Dentalassistentin und Kleinkindererzieherin. Ihren bisherigen Misserfolg bei der Ausbildungssuche kann sie sich nicht erklĂ€ren, sie bezeichnet sich als gute RealschĂŒlerin und schĂ€tzt den Umgang mit anderen Menschen sehr. Das Spital habe ihr ein sehr gutes Arbeitszeugnis ausgestellt. „Obwohl es jetzt wirklich das Letzte wĂ€re“ könnte sie sich mittlerweile auch vorstellen, bloss die einjĂ€hrige Ausbildung zur Pflegeassistentin zu absolvieren: „Es ist immerhin ein Diplom, das man hat, oder...“

Wie die Bildungsforschung herausgefunden hat, stellen weniger die schulischen Leistungen als vielmehr das Geschlecht, die soziale Herkunft und der auf Sekundarstufe 1 besuchte Schultyp statistisch signifikante Einflussfaktoren fĂŒr den Erfolg am Lehrstellenmarkt dar. Auch andere Studien weisen auf verdeckte Diskriminierungen des Bildungssystems hin. Es zeigt sich, dass insbesondere Frauen und Jugendliche auslĂ€ndischer Herkunft ihre beruflichen AnsprĂŒche massiv zurĂŒckschrauben mĂŒssen. So genannte „cooling-out“ Prozesse – ein Begriff, der ĂŒbrigens von Erving Goffman geprĂ€gt wurde – beruhen meistens darauf, dass Misserfolge mit eigenen Defiziten begrĂŒndet werden. AbgekĂŒhlte Aspirationen ermöglichen den Jugendlichen zwar die Aufrechterhaltung eines Handlungsspielraums, können aber gleichzeitig einen Motivationsverlust bewirken oder einen solchen noch verstĂ€rken. Im Falle von Sara stellt sich also die Frage der Nachhaltigkeit eines Bildungsweges, der unter dem Motto „Hauptsache eine Lehrstelle“ eingeschlagen wurde. Resultiert daraus nicht eher ein sekundĂ€r motiviertes Ausbildungsinteresse, welches weniger dem Inhalt als dem zu erlangenden Zertifikat gilt? Eine kĂŒrzlich publizierte Studie der Erziehungsdirektion des Kantons Bern hat ergeben, dass mehr als ein FĂŒnftel aller neu abgeschlossenen LehrvertrĂ€ge vorzeitig aufgelöst werden. Ein mangelndes Interesse am gewĂ€hlten Lehrberuf wird dabei als einer der vielfĂ€ltigen GrĂŒnde genannt.

Aufgrund des Drucks einer möglichst raschen Arbeitsmarktintegration wird von den Jugendlichen im Motivationssemester eine hohe FlexibilitĂ€t in Bezug auf die Berufswahl abverlangt. Diese Forderung steht im Widerspruch mit eigenen AnsprĂŒchen und BedĂŒrfnissen, die nicht zuletzt Produkte gesellschaftlicher Entwicklungen sind. Gerade Werte wie Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung nehmen in einer individualisierten, demokratisch geprĂ€gten Gesellschaft eine zentrale Bedeutung ein. Auch die aktivierende Arbeitsmarktpolitik bedient sich in ihren Konzepten der modischen Begriffe der Selbst- und Sozialkompetenzen. Diese gilt es im Motivationssemester zusĂ€tzlich zu fördern, etwa im Fach „Persönlichkeitsbildung.” Denn ein guter Lehrling weiss, was er will. Er ist initiativ, selbstĂ€ndig und motiviert. Unter den Anforderungen von FlexibilitĂ€t muss aber gerade der Begriff der „Selbstkompetenz“ als FĂ€higkeit verstanden werden, die eigenen AnsprĂŒche mit den Anforderungen des Arbeitsmarktes kompatibel zu machen. Die Wahrnehmung von Selbstverantwortung kann dabei ebenso untergraben werden wie das BedĂŒrfnis, Spass an der Arbeit zu haben oder eigene FĂ€higkeiten und StĂ€rken zu entwickeln.

Massnahmenkarrieren und Ausgrenzungsrisiken

Vanessa fĂŒhlt sich wohl im Motivationssemester und schĂ€tzt den freundschaftlichen Kontakt mit Jugendlichen in der gleichen Situation. Sie ist froh ĂŒber die Betreuung, denn „zuhause wĂŒrde ich mich niemals hinsetzen und so viele Bewerbungen schreiben.“ Seit dem Tod ihrer Mutter wohnt sie mit der ebenfalls arbeitslosen Schwester allein zuhause. Zum Vater hat sie ein zerrĂŒttetes VerhĂ€ltnis; er arbeitet meistens Nachtschicht in einer Fabrik. Nach ihrem ursprĂŒnglichen Berufswunsch Coiffeuse möchte Vanessa nun VerkĂ€uferin werden. Die Lehrstellensuche und die vielen Absagen erlebt sie als Ă€usserst frustrierend: „Sie wollen mich einfach nicht!“ Falls sie im nĂ€chsten Monat nicht einmal einen Praktikumsplatz findet, wird sie das Motivationssemester ohne Anschlusslösung verlassen mĂŒssen. Ihr RAV-Berater hat ihr den Besuch eines vom RAV organisierten Verkaufskurses empfohlen, um ihre Lehrstellenchancen zu verbessern. Danach könnte sie sich vorstellen, einen Job zu suchen oder noch lieber: wieder ins Go! zurĂŒckzukehren.

Soziale Ressourcen – dazu gehören Familie, Freunde und andere informelle Netzwerke – sind sowohl fĂŒr Prozesse der Berufswahl und der Lehrstellensuche wie auch fĂŒr die BewĂ€ltigung von Misserfolgen zentral. Vanessas Beispiel zeigt auf, dass das Motivationssemester diesbezĂŒglich einen temporĂ€ren Ersatz darstellen kann. Die Einbindung in eine feste Tagesstruktur soll helfen, den oftmals orientierungslosen Teilnehmenden eine stabile Grundlage zu gewĂ€hren. Gerade aus der Perspektive der Jugendlichen wird deutlich, dass weniger die BeschĂ€ftigungsinhalte der Massnahme als vielmehr das Vorhandensein einer „Anlaufstelle“ mit Kontaktmöglichkeiten von Bedeutung sind. Umso tragischer ist es fĂŒr Jugendliche wie Vanessa, wenn Sie das Motivationssemester erfolglos wieder verlassen mĂŒssen. In ihrem Fall bahnt sich eine Massnahmenkarriere an, die schliesslich in ein prekĂ€res ArbeitsverhĂ€ltnis im unqualifizierten „Jedermannsarbeitsmarkt“ mĂŒnden könnte. Auch hier leisten die Motivationssemester aufgrund ihrer widersprĂŒchlichen Handlungslogik ihren Beitrag. Das Ziel einer langfristigen Integration in den qualifizierten Arbeitsmarkt wird durch den Druck einer möglichst schnellen Weitervermittlung aufgeweicht. Zugunsten der Verwertbarkeit zukĂŒnftiger ArbeitskrĂ€fte geraten individuelle biografische Aspekte und Problemlagen aus dem Blickfeld.

Erfolgreiche ÜbergĂ€nge in die Berufsbildung?

Nach wie vor wird die Integration in den Arbeitsmarkt als wesentliche Voraussetzung fĂŒr gesellschaftliche Integration erachtet. Aufgrund struktureller VerĂ€nderungen, namentlich der Flexibilisierung und Rationalisierung der Arbeitswelt, wird diese Integrationsfunktion zunehmend in Frage gestellt. Die gesellschaftliche Krisenlage manifestiert sich besonders deutlich an den ÜbergĂ€ngen. Um die Problematik mangelnder Lehrstellen zu entschĂ€rfen, werden ĂŒberbrĂŒckende Angebote geschaffen, in welchen aber letztlich die Spannungen noch deutlicher sichtbar werden. Paradoxe Effekte prĂ€gen daher auch die vom Seco initiierte Massnahme Motivationssemester. Mittels Arbeit an persönlichkeitsbezogenen Merkmalen und Selbstvermarktungstechniken streben diese in erster Linie eine arbeitsmarktbezogene Aktivierung an. Die zugrunde liegende institutionelle Logik orientiert sich dabei stark an der Norm des „unternehmerischen Selbst.”

Geschlossene Gesellschaften

„Wer in ZĂŒrich Einfluss hat, begegnet sich immer wieder. Es ist schon so, dass sich alle kennen“, gibt Peter Forstmoser, Swiss-Re-PrĂ€sident und UniversitĂ€tsprofessor, unumwunden zu. Neben Verwandtschaften und engeren Freundschaften (sog. „Strong Ties“), die vor allem in den reichen Familien(dynastien) noch immer einen wichtigen Teil des sozialen Kapitals ausmachen, sind Mitgliedschaften in Wirtschafts- und Service-Clubs (Rotary, Enterpreneur’s Roundtable, Swiss American Chamber u.a.), gemeinsame Einsitze in VerwaltungsrĂ€ten, Alumni-Verbindungen und exklusive Sportclubs („Weak Ties“) bei modernen Unternehmern und Managern von grosser Wichtigkeit. Eine weitere Bedeutung zur AnhĂ€ufung und Kultivierung des Sozialkapitals haben die zum Teil sehr exklusiven Veranstaltungen wie OpernbĂ€lle, Galas, Vernissagen von Kunstausstellungen, Theaterpremieren oder andere mondĂ€ne Veranstaltungen, wie zum Beispiel das Polo-Turnier oder das White Turf in St. Moritz. Auch die gemeinsame AusĂŒbung von Sport, z.B. Segeln, Golf oder Reiten, hat oft den praktischen Nebeneffekt der Pflege von wichtigen Bekanntschaften.

Diese begĂŒnstigt die Individualisierung struktureller Problemlagen und stigmatisiert von Arbeitslosigkeit betroffene Jugendliche als nicht beschĂ€ftigungsfĂ€hig. Die Anbieter von Motivationssemestern befinden sich im Dilemma, einerseits den sozialen Problemlagen vieler Teilnehmender gerecht zu werden, andererseits die Leistungsvereinbarungen mit den zustĂ€ndigen ArbeitsĂ€mtern einzuhalten. Aus dieser Zwangslage heraus erweist sich das „Prinzip des Unterbringens“ als zentrale Handlungslogik. Die damit einhergehende FlexibilitĂ€tsforderung steht jedoch den propagierten Werten der Selbstverwirklichung und Selbstverantwortung diametral entgegen. Die an Motivationssemestern teilnehmenden Jugendlichen gehen mit diesen WidersprĂŒchen unterschiedlich um: Sie passen sich an, verbleiben in einem Zustand der Desorientierung oder verhalten sich bewusst nicht kooperativ. Gerade die beiden letztgenannten Verhaltensmuster bergen das Risiko der Ausgrenzung. Dies zeigt sich in Form von Massnahmenkarrieren, MassnahmenabbrĂŒchen oder der definitiven Verabschiedung aus dem Bildungssystem.

Die Motivationssemester sind als „Notlösung“ im Rahmen des Arbeitslosenversicherungssystems entstanden. Der Aktivierungspolitik verpflichtet, sind sie weder im Bereich der Qualifizierung noch in der Beratung auf professionelles Know-how abgestĂŒtzt. Angesichts der thematisierten Defizite stellt sich die politische Frage, ob die MillionenbetrĂ€ge der Finanzierung dieser Programme nicht eher in den Aufbau zertifizierender, wenn nötig staatlich getragener Basisausbildungen gesteckt werden sollten – umso mehr, als fiktive BeschĂ€ftigungssituationen eine demotivierende Wirkung entfalten können. Wozu einen Pfannenuntersatz herstellen, wenn er weder gebraucht noch verkauft wird? Und weshalb sollte sich jemand in der Werkstatt anstrengen, wenn er oder sie ja eigentlich lieber Koch oder Coiffeuse werden will? Jugendliche ohne qualifizierende Anschlusslösungen sind zweifellos auf institutionelle Hilfestellungen angewiesen; nicht zuletzt aber auch darauf, dass ihre Persönlichkeit, ihre FĂ€higkeiten und BildungsansprĂŒche ernst genommen werden. Sie brauchen nicht organisierte WartebĂ€nke, sondern professionelle Angebote, die in erster Linie ĂŒber den nötigen Handlungs- und Beratungsspielraum verfĂŒgen.

Eva Heinimann studierte in Bern Soziologie und Volkswirtschaft. Der vorliegende Artikel basiert auf ihrer Lizentiatsarbeit: „Auf der Wartebank. Jugendliche im Motivationssemester.“ Die Arbeit ist vor kurzem in der Reihe „Neue Berner BeitrĂ€ge zur Soziologie“ erschienen und kann online bestellt werden: www.soz.unibe. ch/nbbs/

Literaturauswahl:

BBT/Seco (2005): Jugendarbeitslosigkeit in der Schweiz. ErklÀrungen und Massnahmen zu deren BekÀmpfung. Eidgenössisches Volkswirtschaftsdepartement.
BFS (2003): Bildungsmonitoring Schweiz. Wege in die nachobligatorische Ausbildung. Die ersten zwei Jahre nach Austritt aus der obligatorischen Schule. Zwischenergebnisse des JugendlÀngsschnitts TREE. Neuchùtel.
Haeberlin, U., Imdorf, Chr. und Kronig, W. (2004): Von der Schule in die Berufslehre. Untersuchungen zur Benachteiligung von auslÀndischen und von weiblichen Jugendlichen bei der Lehrstellensuche. Bern.
Nadai, E. (2006): Der kategorische Imperativ der Arbeit. Vom Armenhaus zur aktivierenden Sozialpolitik. In: Widerspruch 49: PrekÀre Arbeitsgesellschaft.
Stalder, B. und Schmid, E. (2006): Lehrvertragsauflösungen, ihre Ursachen und Konsequenzen. Ergebnisse aus dem Projekt LEVA. Erziehungsdirektion des Kantons Bern.
Stauber, B. und Walther, A. (1999): Institutionelle Risiken sozialer Ausgrenzung im deutschen Übergangssystem. Nationaler Bericht fĂŒr das thematische Netzwerk „Institutionelle Risiken im Übergang (‚Misleading Trajectories’).” Programm sozioökonomische Schwerpunktforschung, IRIS e. V.
Walther, A. (2000): SpielrĂ€ume im Übergang in die Arbeit. Junge Erwachsene im Wandel der Arbeitsgesellschaft in Deutschland, Italien und Grossbritannien. Weinheim und MĂŒnchen.
Weber, M. (1988/1904): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Ders: Gesammelte AufsĂ€tze zur Religionssoziologie. TĂŒbingen.

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«Kommunikation ist unwahrscheinlich.»

Niklas Luhmann (2001): AufsÀtze und Reden, Hrsg: Oliver Jahraus, Stuttgart, S.78