soziologie.ch

 
  • Increase font size
  • Default font size
  • Decrease font size
soziologie.ch soz:mag#1 religiosität bei jugendlichen

religiosität bei jugendlichen

E-mail
pas de tranductions pour ce contenu

Eine empirische Untersuchung an Winterthurer Schulen

Obwohl sich in den vergangenen zwanzig bis dreissig Jahren die religiöse Landschaft stark verändert hat und in letzter Zeit eine Flut an Publikationen über neue religiöse Bewegungen, Esoterik, Sekten und Kulte erschienen ist, haben sich die Sozialwissenschaften bis anhin erstaunlich wenig um das Thema Religion oder gar Religion und Jugendliche gekümmert. Zwar wird in allgemeinen Jugendstudien, beispielsweise in den Shell-Jugendstudien, die Religiosität teilweise berücksichtig, doch Studien, die sich ausschliesslich mit der Religiosität von Jugendlichen beschäftigen, gibt es nur vereinzelt. Deshalb haben wir unsere Lizentiatsarbeit diesem Themenbereich gewidmet (Barbara Widmer und Melanie Stutz: Jugendliche und Religiosität. Eine empirische Studie. Eingereicht am Soziologischen Institut der Universität, Zürich 2001). Im Zentrum unserer Arbeit standen zwei Fragestellungen: Wie kann Religiosität erfasst und beschrieben werden? Mit welchen Bereichen bzw. Faktoren hängt Religiosität zusammen? Mit diesen Fragen haben wir uns zum einen theoretisch auseinander gesetzt. Zum anderen haben wir an Winterthurer Schulen bei Jugendlichen zwischen 16 und 20 Jahren eine quantitative Studie durchgeführt, um auch empirische Antworten zu finden.

SOZ:MAG Beitrag von Barbara Widmer und Melanie Stutz

Was ist Religiosität?

Grundsätzlich kann zwischen einem funktionalen und einem substanziellen Religionsbegriff unterschieden werden. Beim ersten geht es um leistungsbezogene, beim zweiten um inhaltsbezogene Definitionen. Da es uns wichtig war, mit einem weit gefassten Begriff von Religion zu arbeiten, um so nebst der christlichen Religion auch andere Formen (z. Bsp. Esoterik) untersuchen zu können, haben wir uns für eine Mischform dieser beiden Religionsbegriffe entschieden: Religion ist ein System von Zeichen und bildet den allgemeinsten Symbolrahmen einer Gruppe. Mittels dieser Zeichen werden Werte tradiert. Dieses System beruht auf dem Vertrauen, dass es eine höhere Ordnung gibt und es legt die Richtlinien des Handelns fest. Im Zentrum steht letztlich die Frage nach Wahrheit, Sinn, Heil und Glück.
Interessant für unsere Arbeit war auch die Frage nach der Funktion von Religion: Sie kann einem Individuum Orientierung geben, sie hat eine ordnende Funktion, kann beim Bewältigen von Konflikten helfen und bietet eine Weltdeutung an. Weiter kann sie gesellschaftliche Ordnungen legitimieren und das Gefühl von Geborgenheit vermitteln.

Verschiedene Einflussfaktoren auf Religiosität

Ein zentraler Aspekt der Sozialisation ist die Entwicklung (und Weiterentwicklung) einer eigenständigen Identität, u. a. auch einer religiösen Identität. Es kann vermutet werden, dass sich die Unterschiedliche Sozialisation der einzelnen Individuen auch auf die Intensität der Religiosität und ihre spezifische Art auswirken. Ein besonderes Augenmerk haben wir in unserer Arbeit auf den Geschlechterunterschied gerichtet. Die Familie als primär sozialisierende, sowie die Peer-Group und die Schule als sekundär sozialisierende Instanz.
Verschiedene Studien zeigen, dass bei den soziodemographischen Variablen nebst der Bildung v.a. auch die Konfession einen Einfluss auf die Intensität der Religiosität hat. Deshalb haben wir auch diese Variablen untersucht.
Schliesslich haben wir den Zusammenhang von Werten und Religion untersucht. Denn diese beiden Bereiche weisen eine beachtliche Zahl an Parallelen auf: Sowohl Werte als auch Religion manifestieren sich in Symbolen und Normen, die zumindest indirekt in Rollen (-erwartungen) zum Ausdruck kommen. Beide Bereiche haben eine ordnende Funktion auf individueller wie auf gesellschaftlicher Ebene. Religion und Werte können bei der Bewältigung von Konflikten innerhalb einer Gruppe oder Gesellschaft helfen. Zudem sind weder Religion noch Werte statisch. Gemäss Helmut Klages gibt es ein Nebeneinander von alten und neuen Werten. Ebenso existieren heute alte und neue Formen von Religion nebeneinander. Dieses Nebeneinander kann in beiden Fällen zu Spannungen und Widersprüchen beim Individuum führen.

Dimensionen der Religiosität

Eine Faktorenanalyse unserer Daten hat fünf Dimensionen von Religiosität ergeben. Eine davon ist die christliche Religiosität. Sie umfasst Items, die auf die christliche Ethik und die christliche religiöse Praxis abzielen. Als zweite Dimension wurde die transzendente Religiosität gefunden. Hier werden die Vorstellungen bejaht, dass der Tod ein Übergang in eine andere Existenz darstellt, dass man mit dem Geist der Toten in Kontakt bleiben kann und dass es eine Reinkarnation der Seele gibt. Drittens gibt es eine Dimension Esoterik. Sie beinhaltet das Interesse an esoterischen Praktiken wie Pendeln, Tarotkarten legen, Horoskope deuten usw. Die vierte Dimension bezeichnen wir mit Körper-Religiosität. Sie umfasst das Interesse an Heilkräutern, Akupunktur, Yoga und am Buddhismus. Dies sind alles Bereiche, die mit dem Körper und zumindest indirekt auch mit der körperlichen (und z. T. seelischen) Gesundheit zu tun haben. Die fünfte und letzte Dimension bezeichnen wir als Interesse an Ausserirdischem. Hier kommt das Interesse an ausserirdischen Lebewesen, an UFO’s, an Robotern und an Science-Fiction-Filmen zum Tragen.
Unsere Faktorenanalyse hat gezeigt, dass sich die Esoterik als «stärkste» Dimension erweist, gefolgt von der christlichen Religiosität. Auf Platz drei rangiert das Interesse an Ausserirdischem gefolgt von der Körper-Religiosität und schliesslich von der transzendenten Religiosität. In den drei letzt genannten Dimensionen korrelieren die jeweiligen Items jedoch nur leicht untereinander. Es wäre deshalb wünschenswert, wenn wir noch weitere Items zur Verfügung gehabt hätten.
Interessant ist der Befund, dass sich die von uns befragten Jugendlichen nur dann selber als religiös einstuften, wenn sie christlich religiös waren. Dies wirft die Frage auf, ob man einem Individuum nur dann Religiosität zuschreiben darf, wenn es sich selber auch als religiös einschätzt. Unserer Ansicht nach ist diese Frage zu verneinen. Erstens reflektiert nicht unbedingt jede Person ihre Religiosität, und zweitens kann die individuelle Definition von Religiosität von unserer abweichen. Da wir weder wissen, ob die ProbandInnen ihre Religiosität (oder Nicht-Religiosität) reflektiert haben und welche Definition sie von Religiosität haben, arbeiten wir mit unserem weit gefassten Begriff von Religion/Religiosität. Deshalb unterstellen wir den Befragten, welche den Items der nicht-christlichen Religiositäts-Dimensionen zustimmen, ebenfalls einen gewissen Grad an Religiosität.
Sekten und Kulten stehen die Jugendlichen gemäss unserer Studie ablehnend gegenüber. Damit konnten wir die Resultate anderer Studien bestätigen. Der Anteil der befragten Personen, die den von uns vorgegebenen Sekten/Kulten (Hare Krishna, Scientology, Zeugen Jehovas, Fiat Lux, Satanskult) ablehnend gegenüber stehen, variiert zwischen rund 57 und 80 Prozent. Zwischen 19 und 38 Prozent der Befragten stehen ihnen gleichgültig gegenüber.

Einfluss einzelner Faktoren

Unsere empirischen Ergebnisse zeigen, dass ein Zusammenhang zwischen der religiösen Erziehung in der Familie und der christlichen Religiosität besteht. Je christlich religiöser die Eltern sind, um so christlich religiöser sind tendenziell die Kinder. Zwischen der religiösen Erziehung und den anderen Dimensionen von Religiosität wurde aber kein Zusammenhang gefunden. Befragte, welche christlich religiös erzogen worden sind, aber sich selber nicht als christlich religiös bezeichnen, zeigen aber keine Tendenz, als Alternative zur christlichen Religiosität eine andere Art von Religiosität zu wählen. Dieser Befund gibt Anlass zu der Frage, ob bei diesen Jugendlichen die Religiosität der Eltern grundsätzlich nicht auf sie übertragen wurde oder ob es für diesen Sachverhalt andere Erklärungen gibt. Antworten auf diese Frage müssten im Rahmen einer anderen Studie gesucht werden.
Tendenziell kann gesagt werden, dass die befragten Mädchen ein grösseres Interesse an Spiritualität haben als die befragten Jungen. Dies kommt in bezug auf die christliche Religiosität jedoch weniger zum Tragen. Signifikant ist der Unterschied jedoch bei der christlich religiösen Praxis. Die Mädchen gehen deutlich öfter religiösen Ritualen nach. Auch bezüglich der transzendente Religiosität finden sich signifikante Geschlechtsunterschiede. Mädchen stehen ihr deutlich positiver gegenüber. Ebenso interessieren sich die jungen Frauen stärker für Esoterik und Körper-Religiosität. Beim Interesse an Ausserirdischem kehrt sich das Bild jedoch um: Knaben stehen diesem Bereich positiver gegenüber.
Weiter konnten wir konfessionsbedingte Unterschiede feststellen. Mitglieder von Freikirchen und christlichen Sondergruppen sind christlich religiöser als KatholikInnen, diese sind christlich religiöser als ProtestantInnen und diese wiederum christlich religiöser als Konfessionslose. Sehr ähnlich sieht das Bild der christlich religiösen Praxis aus. Weniger deutlich, aber dennoch vorhanden ist der konfessionelle Unterschied bezüglich der transzendenten Religiosität. Wir stellten einen signifikanten Unterschied zwischen den Mitgliedern von Freikirchen/christlichen Sondergruppen und den Konfessionslosen fest. Konfessionslose sind eher transzendent religiös. Weiter konnten hier jedoch keine signifikanten Unterschiede gefunden werden. Betrachtet man die anderen drei Arten von Religiosität, so kann man feststellen, dass Mitglieder von Bibelgruppen und christlichen Sondergruppen ein signifikant kleineres Interesse an Esoterik, Körper-Religiosität und Ausserirdischem haben als die anderen Gruppen. Und Konfessionslose sind deutlich stärker an Ausserirdischem interessiert als KatholikInnen und ProtestantInnen.
Zwischen der Bildung und der Religiosität haben wir, anders als erwartet, keinen Zusammenhang gefunden. Auch in Bezug auf den Beruf sind die vermeintlichen Zusammenhänge lediglich Scheinkorrelationen, welche durch die Kontrolle der Variable Geschlecht wegfallen.
Grundsätzlich ist zu sagen, dass zwischen den Religiositäts-Dimensionen und den Werten kein hoher Zusammenhang besteht. Dennoch konnten wir die theoretische Erwartung, dass christliche Religiosität mit Pflicht/Akzeptanz-Werten (vgl. Helmut Klages) korrespondiert, mit unseren empirischen Ergebnissen belegen. Christlich religiöse Personen stimmen tendenziell eher konventionalistischen Werten zu. Die transzendente Religiosität, ebenso wie Körper-Religiosität und Esoterik, scheint hingegen eher mit Individualismus/Hedonismus sowie Kreativität/Alternativität zu korrespondieren. Kontrolliert man diese beiden Arten von Religiosität jedoch mit der Variable Geschlecht, so zeigt sich, dass sich bei der Körper-Religiosität der Zusammenhang mit Individualismus/Hedonismus sowie mit Kreativität/Alternativität etwas verringert. Bei der Esoterik verhält es sich ähnlich: Der Zusammenhang mit Individualismus/Hedonismus verringert sich und derjenige mit Kreativität/Alternativität verschwindet sogar ganz. Beim Interesse an Ausserirdischem verschwindet der vorerst gefundene Zusammenhang mit Karriere/Materialismus ebenfalls, wenn man ihn mit der Variable Geschlecht kontrolliert. In diesem Sinn kann man nicht von einem Zusammenhang von Transzendenz, Esoterik, Körper-Religiosität sowie Interesse an Ausserirdischem und Werten sprechen, sondern höchstens von einer Affinität dieser Religiositäts-Dimensionen zu bestimmten Werten.
Unsere empirischen Ergebnisse haben gezeigt, dass verschiedene Gruppen, Szenen und Bewegungen je eine eigene Werthaltung und Symbolik zu vertreten scheinen. Dennoch wird aufgrund unserer Ergebnisse wenig von der Religiosität eines Individuums durch seine Zugehörigkeit zu oder Sympathie mit einer bestimmten Gruppe, Szene oder Bewegung erklärt.

Die von uns erhobenen und ausgewerteten Daten haben ähnliche Ergebnisse erbracht wie andere Untersuchungen. Viele Studien hatten vor allem zum Ziel, die Glaubensbilder und die religiöse Praxis der Befragten zu erforschen. Meistens wurden, wie bei uns, zusätzlich soziodemographische Variablen erhoben und in die Analyse mit einbezogen. Anders als diese Studien (wie beispielsweise Roland J. Campiche und Alfred Dubach: Jede(r) ein Sonderfall? Religion in der Schweiz, Zürich und Basel 1993) wurden in unserer Arbeit weitere Aspekte, die Religiosität erklären sollen, miteinbezogen: Sozialisation, Werte und Lebensstile bzw. Jugendgruppen. Zudem haben wir die Jugendlichen zusätzlich noch nach ihrem Interesse an Bestandteilen des New Age (Esoterik, Körper-Religiosität und Ausserirdisches) befragt.
Damit haben wir eine leicht andere Richtung eingeschlagen als die meisten bisherigen quantitativen Studien zur Religiosität. Doch konnten wir in diese neue Richtung lediglich erste Schritte unternehmen. Viele Aspekte könnten noch erweitert, vertieft und verbessert werden, einige Fragen sind offen geblieben.

Barbara Widmer (1972) studiert an der Universität Zürich Soziologie, Sozialpädagogik und allgemeines Staatsrecht. Neben dem Studium war und ist sie unter anderem als Journalistin, Pressesprecherin und Buchhalterin tätig. Melanie Stutz (1971) schliesst zur Zeit ihr Studium an der Universität Zürich in Soziologie, Sozialpädagogik und Puplizistik ab. Während des Studium war sie unter anderem im PR-Bereich und als Jugendarbeiterin tätig.

Attachments:
FileFile size
Download this file (sozmag_01_widmer.pdf)sozmag_01_widmer.pdf179 Kb
 

pas de tranductions pour ce contenu

«Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.»

Ludwig Wittgenstein (1980 [1921]): Tractatus logico-philosophicus. In: Wittgenstein, Ludwig: Schriften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 83.