fernand guelfs "die urbane revolution – henri lefèbvres philosophie der globalen verstädterung"

Samedi, 11 Septembre 2010 17:06 sh
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Fernand Mathias Guelf verband in seiner Zusammenfassung der “Philosophie der globalen Verstädterung” verschiedene Teile des Gesamtwerkes von Henri Lefèbvre zu diesem Thema und kristallisierte auch die Entwicklung in den Schriften heraus.

Mit Hilfe der Lefèbvreschen strategischen Hypothese sollen die gesellschaftlichen Strukturen analysiert werden. Diese Strukturen basieren auf der vorangegangenen Agrarproduktion und der Industrialisierung und befinden sich in der Krise des Zerfalls der alten Stadtformen in einer Situation der Zusammenhangslosigkeit der urbanen Gesellschaft. Die strategische Hypothese zur Definition der verstädterten Gesellschaftsform vermittelt eine stark methodisch geprägte Theorie, die den Prozess der Verstädterung darstellen will.

Sie definiert die am weitesten entfernte Möglichkeit der Realität, die anschliessend mit der Gegenwart in Berührung kommt Ziel ist es, die Wirkungen und Tendenzen dieser momentanen und feststellbaren Realität auf das zukünftige Mögliche zu projizieren. Die strategische Hypothese ist dabei eine Vermittlerin zwischen Fakten und Konzepten, der Realität und der Lösung von Problematischem und vergleicht empirische Daten mit den erarbeiteten Konzepten. Die mit dieser vergleichenden Arbeit entstehende Virtualität der verstädterten Gesellschaft als mögliches Objekt enthält einen Prozess und eine Praxis. Praxis und Prozess führen zu einer ungleichen Entwicklung von Formen, Systemen und Strukturen. Diese Entwicklung ist enthalten in einer “totalen Geschichte”, die die menschliche Entwicklung erkennt und einen “totalen Menschen” schaffen kann, der nicht entfremdet ist. Henri Lefèbvre orientiert sich an den philosophischen und ökonomischen Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels und ihrer Prämisse, dass der Mensch ein Bestandteil der Natur ist und als Wesen die Welt und sich selbst produziert. Im Gegensatz zu Marx/Engels weitet er die Figur des Proletariers, der durch die Entfremdung der Produktionsprozesse zur Revolution angetrieben wird, aus. Sein Konzept zeigt einen Menschen, der durch die Erfahrung des Alltages zur Aktion greift, der Widerstand leistet, Kreation produziert und die Lebensäusserung der menschlichen Existenz in ihrer Totalität enthält. Lefèbvre formuliert eine Analyse und eine Kritik einerseits parallel zur herkömmlichen Philosophie mit ihren Denkensmustern und andererseits der konkreten Handlung, der Praxis und der Transduktion. Mit der Transduktion wird mit der Empirie Hypothetisches geschaffen.

Die Möglichkeit der Revolution findet sich nach Lefèbvre in der urbanen Gesellschaft. Er stellt die Stadtentwicklung als eine komplexe Strukturveränderung dar, die durch die Reproduktion vorangetrieben wird. Die Akkumulationsprozesse des Kapitals bei Marx/Engels werden zu einem erweiterten Begriff der Reproduktion formuliert. Er enthält die Komplexität von Widersprüchen, die sich nicht wiederholen, sondern verschieben, modifizieren und erweitern. Die Poiesis als Handelsbezug des Menschen selbst und seiner Natur; und die Mimesis als die Reproduktion dieses schöpferischen Aktes, sind Schlüsselbegriffe im Konzept der urbanen Revolution. In der Situation der Entfremdung haben Arbeitsteilung und Akkumulation die Poiesis und die Mimesis getrennt. Im städtischen Raum wird dieser Zustand in Form des Konkurrenzkapitalismus mit seinem machtvollen Zentrum, das mit Hilfe der Homogenisierung und Reduzierung eine machtlose Peripherie schafft, sichtbar. Mit einem “schöpferischen Vermögen” versucht der Mensch im alltäglichen Leben und im Raum mit den aufgespaltenen Sektoren sich selbst als Totalität wiederzufinden. Auf der Metaebene beschreibt Lefèbvre, dass die Philosophie als Projekt die Welt verwirklichen soll und durch diese Verwirklichung sich selbst im Prozess der Aufhebung negieren wird. Die globale Urbanisierung, als Zentrum einer Inszenierung des Alltages, fördert das Bewusstsein für drängende Problemfelder. Die strategische Hypothese einer urbanen Revolution ist eine U-topie und Projektion, die durch empirische Fragestellungen mit einer Analyse geschaffen wird. Aus diesem Material können Strategien darüber gewonnen werden, welche Möglichkeiten es zur Aufhebung der bestehenden unbefriedigenden Verhältnisse gibt.

Spätestens seit den 1970er Jahren hat die Stadtsoziologie eine Wende erfahren, in der die Städte zur Analyse gesellschaftlicher Praxis dienen. Die Grossstadt mit ihrer ständigen Veränderung als Ort des Zusammenlebens, setzt eine Abstraktion der Städte selber voraus. Diskursbestimmende Stadtsoziologen wie Hartmut Häussermann oder Jan Kemper orientierten sich an dem vorangegangenen Werken wie “La Révolution urbaine” von Henri Lefébvre und Manuel Castells “La question urbaine” oder David Harveys “Social Justice and the City”. Vor allem Häussermann nahm den Strang der sozialen Frage erneut auf und setzte in seinen Studien und während seiner beratenden Funktion im Wohnungs- und Städtebau einen Schwerpunkt in den prägenden Aspekten der Stadtentwicklung für die Entwicklung der Klassenverhältnisse (Löw 2008: 24 - 26). Spätestens im Zuge des Stalinismus kam für Henri Lefèbvre die Krise des marxistischen Denkens. Er setzte sich mit dem Dogmatismus auseinander und versuchte, den Widerspruch zwischen der marxistischen Theorie und der real existierenden Praxis zu analysieren. 1928 trat Lefèbvre in die Französische Kommunistische Partei ein und wurde 1958 nach der Publikation seines Buches “Probleme des Marxismus heute” und seiner Kritik an der Aufstandsbekämpfung der Roten Armee in Ungarn in den 50er-Jahren aus der Partei ausgeschlossen (Meyer 1973: 50). Mit seinem anschliessenden Versuch, die materialistische Methode von Karl Marx und Friedrich Engels zu erweitern und die Basistexte an die fortschreitende Geschichte anzupassen, fügte er einen weiteren wichtigen Baustein zum Theoriehaus des Neomarxismus hinzu. Entgegen vieler Theoretiker des Neomarxismus bezog sich Lefèbvre eng auf das Konzept von Marx/Engels und liess wichtige Begriffe wie Materialismus, Dialektik oder Entfremdung in seine Arbeit einfliessen. Auch die Anmerkung zur Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie, die Marx erstmals in seiner Dissertation 1840 angesprochen hatte, wurde eine Forderung von Henri Lefèbvre (Müller-Schöll 1999: 16). Mit dem absehbaren Ende der sogenannten Vollbeschäftigung sah Lefèbvre den programmierten Alltag und den Raum als Ausgangspunkt für eine Praxis der Veränderung und Kreation. Mit seinem Konzept der strategischen Hypothese gab er eine Anleitung zur Emanzipation von der bisherigen Situation.

Ab den 1960er und 1970er Jahren verstädterten die Grossstädte zunehmend mehr zum urbanen Raum, immer mehr Menschen lebten in den Ballungsräumen und es entstanden erste Megacities. Mit diesem Prozess gab es einerseits ein chaotisches und unkontrolliertes Wuchern (Rühle 2008:7-8) und andererseits eine straffe Regulation und Gouvernementalität. Die Städte wurden gespalten und Probleme kristallisierten sich heraus. Unter anderem schien der Sozialstaat je länger je mehr nicht mehr finanzierbar und das System erfuhr eine Wandlung von Welfare zu Workfare. Der neoliberale Umbau machte sich einerseits mit dem Workfare-Model und dem Rückzug der vom Staat garantierten Sicherheiten und einem Klima der Verunsicherung bemerkbar. Anderseits griff der Staat vermehrt mit Regulierungen ins Leben der Menschen ein und die Privatwirtschaft gestaltete ihre Arbeitsverhältnisse zunehmend flexibler und vervielfachte auf diese Weise den Mehrwert für die Ökonomie (Michel 2005: 69-71). Einige Sozialwissenschaftler wie Alexander Mitscherlich mit “Die Unwirtlichkeit unserer Städte” (1965) oder beispielsweise Michel Foucault mit “Überwachen und Strafen - Die Geburt des Gefängnisses” (1976), haben bereits zuvor, oder zeitgleich, die Problematik der Macht im Zentrum beschrieben. Im Unterschied zu diesen analytischen Arbeiten konnte Henri Lefèbvre eine ganzheitliche Theorie und Praxis analog der Arbeiten von Marx/Engels zur Beseitigung der unterdrückenden Verhältnisse bieten. Er sah in der Situation der Verstädterung neben Problematiken das Potential, Spontanität und später ein Bewusstsein zu erhalten, um Veränderungen herbeizuführen.

Fernand Mathias Guelf hat das Werk Lefèbvres über mehrere Publikationen und Jahre hinweg zusammengefasst, Entwicklungen und Veränderungen aufgezeigt. Das Resultat davon ist eine sehr vielfältige und dicht gedrängte Sammlung zu Henri Lefèbvres Thesen zur globalen Verstädterung. Das Buch ist insofern interessant, als dass nicht alle Literatur von Lefèbvre in deutscher Sprache erhältlich ist und der Autor Lefèbvre mit seiner Anleitung zur Praxis in letzter Zeit weniger in der wissenschaftlichen Arbeit verwendet wurde. Wie Guelf in seinem Ausblick erwähnt , finden Konflikte der Macht zwischen dem Zentrum und der Peripherie statt. Beispiele wie die “Banlieue-Unruhen” im Herbst 2005 in Frankreich oder die Massenaufstände 2010 in Griechenland fordern nicht nur reflektierte Analytik im wissenschaftlichen Feld, sondern auch einen innovativen Denkstil.

Quellen:

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